Читать книгу KOMMISSAR LAVALLE UND DER SEINEMÖRDER - Karla Weigand - Страница 9

8. Juni 1789

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Monsieur Sylvain Bailly, Bürgermeister von Paris und der gewählte Sprecher des Dritten Standes, hatte wieder einmal um eine Audienz beim König angesucht – ungeachtet dessen Trauer um seinen verstorbenen ältesten Sohn, den Dauphin. Bailly musste unbedingt mit dem Monarchen über den mehr als dubiosen »Finanzfachmann«, Monsieur Jacques Necker, den Schweizer Bankier, sprechen.

»Monsieur Necker ist ein ausgemachter Stümper und vollkommen ungeeignet, um das Land aus dem Schuldensumpf zu befreien, in dem wir uns seit Langem befinden«, sagte Sylvain Bailly Ludwig XVI. offen ins Gesicht. »Ihr hättet ihn nicht mehr zum Ersten Minister ernennen sollen, Majestät! Necker ist krank und beweist jeden Tag aufs Neue seine Inkompetenz.

Seine so hoch gelobte Erfindung der Assignaten ist erwiesenermaßen auch ein Schlag ins Wasser, weil jeder Geschäftsmann die Nase rümpft und bloß Silber- und Goldmünzen annimmt!

Er hat ja nicht einmal gezögert, gefälschte Zahlen zu veröffentlichen und mit manipulierten Statistiken zu operieren! Dass Monsieur Necker sich selbst ungeniert seit Jahren aus der Staatskasse bedient, ist ein offenes Geheimnis, Majestät, aber keiner wagt es, ihm auf die Finger zu klopfen. Es ist Eure Pflicht, Majestät, diesem Mann Euer Vertrauen zu entziehen und ihn zu entlassen!«

Dem König gefiel diese Forderung überhaupt nicht. Nach wie vor hielt er Necker für ein ausgebufftes Finanzgenie. Aber er wagte nicht, den Repräsentanten des Dritten Standes in die Schranken zu weisen.

Seine Majestät suchte also wie meistens den bequemsten Ausweg, indem er unsagbare Trauer über den verstorbenen Thronfolger vorschob. Er könne jetzt unmöglich eine Entscheidung von so weitreichender Bedeutung fällen, behauptete er. Seine Gedanken seien zur Stunde begreiflicherweise mit ganz anderen Dingen beschäftigt.

Enttäuscht und wütend verließ Bürgermeister Bailly daraufhin den Monarchen.

Unter der Bevölkerung kam es zu erneuten Unruhen, weil der Brotpreis inzwischen in exorbitante Höhen geklettert war. Auf seinen Recherchetouren durch die »gefährlicheren« Stadtviertel erlebte Armand Lavalle mehrere Male hautnah mit, wie wütende Volkshaufen sich zusammenrotteten und vor Zorn laut skandierten: »Weg mit dem König! Weg mit seiner Hure! Wir haben Hunger! Wir verlangen Brot!«

Im Polizeikommissariat rechnete man stündlich damit, dass der König den Befehl erteilen werde, sofort einzugreifen, um Ärgeres zu verhüten. Ein Irrtum, wie sich bald darauf erweisen sollte. Ludwig zog sich stattdessen mit seiner Gemahlin Marie Antoinette für acht Tage nach Marly zurück, um den toten Sohn zu betrauern.

»Sein Schmerz in allen Ehren«, tadelte sogar Le Président der Pariser Polizeitruppen den Monarchen, »aber in solchen Ausnahmesituationen können die Franzosen von ihrem König wahrlich anderes erwarten als Teilnahmslosigkeit am Schicksal seines Volkes!«

»Das hat Bricasson tatsächlich gesagt?« Armand konnte es kaum glauben.

Aber sein Freund Hubert bestätigte es. »Jawohl! Das hat er definitiv geäußert – und in mehreren Variationen sogar ausdrücklich bekräftigt.«

Als Armand seinen üblichen Streifzug machte – dieses Mal nur durch sein eigenes Revier in der Umgebung des alten Louvre und der Tuilerien – stieß er auf Mère Brassens, eine in ganz Paris wegen ihrer Schlagfertigkeit berüchtigte alte Bettlerin. Sie war dabei, lautstark ihre Meinung auf dem Marché aux Pêches, dem Fischmarkt der Hauptstadt, kund zu tun.

»Immer, wenn so ein armseliger Krüppel die Augen für dauernd zumacht, ist das eine Gnade Gottes!«, hörte der Kommissar sie kreischen. »Aber unser famoser König nimmt sich eine Woche Urlaub zum Trauern! Es ist ein Skandal! Hunderte von gesunden Kindern sterben vor Hunger und Ludwig weint um ein einziges, das vom Mutterleib an siech gewesen ist!«

Es wunderte Lavalle keineswegs, dass Mutter Brassens von den Marktleuten und der spärlichen Kundschaft lebhafte Zustimmung erhielt. Inzwischen war sogar der Hering für die meisten Pariser Armen unerschwinglich geworden.

Die Anprangerung der Privilegien der Oberschicht wurde zunehmend giftiger, die Kritik an der herrschenden Klasse fiel jeden Tag noch ein bisschen unwirscher aus. Armand schob sich näher an Mère Brassens heran. Als der Tumult, den sie veranlasst hatte, sich ein wenig gelegt hatte, legte er ihr die Hand auf die Schulter.

»Na, Mutter Brassens, sorgen wir wieder mal für ein bisschen Aufruhr?«, fragte er sie freundlich. Als die Alte den Kommissar erkannte, erschrak sie keineswegs: Noch nie hatte Lavalle sie einsperren lassen. Ihr nahezu zahnloser Mund grinste ihn freundlich an.

»Ah! Macht Monsieur le Commissaire einen Spaziergang durch unser schönes Paris?«, fragte sie ihn mit gutwilligem Spott, dämpfte allerdings ihr durchdringendes Organ. Wusste sie doch, dass der Kommissar es vorzog, von den Leuten nicht erkannt zu werden.

»So ist es, Mère Brassens, so ist es! Wobei ich sagen muss, Paris gefiele mir noch um einiges besser, wenn im Volk nicht so viel Unruhe herrschte.«

»Das haben aber ganz andere zu verantworten!«, legte die Alte sofort los. Armand, der keine Lust verspürte, sich einen Vortrag über die schlechten Zeiten anzuhören, nickte verständnisvoll. Er fasste nach ihrem Oberarm.

»Habt Ihr etwas dagegen, Madame, wenn ich Euch ein Stück begleite?«, fragte er die Bettlerin. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

»Wohin denn?«

Ihre Frage klang zwar neugierig, aber zugleich auch ein bisschen ängstlich. Armand hatte beinah den Eindruck, sie hege dieses Mal ernsthaft die Befürchtung, er beabsichtige, sie dieses Mal doch wegen Volksverhetzung festzunehmen.

»Nirgendwohin! Keine Sorge, Mutter Brassens! Ich möchte Euch nur ein paar Fragen stellen, falls Ihr mir das erlaubt.«

Das Gesicht der Bettlerin entspannte sich. »Ihr seid immer so nett zu mir! Ihr seid der einzige Polizeikommissar, der mich jemals wie eine Dame behandelt hat – und nicht wie einen Putzlappen, so wie es Eure Kollegen für gewöhnlich tun, Monsieur.«

Dieses Lob hörte Lavalle nicht ungern. Er hatte es bisher noch immer für hilfreich empfunden, mit »dem Mann oder der Frau auf der Straße« ein gutes Einvernehmen zu pflegen. Wie oft hatte er gerade dem einfachen Volk den Zugriff auf einen Verbrecher zu verdanken gehabt?

Diese schlichten Menschen kannten einander – genauso wie die Angehörigen der Pariser Unterwelt, die Gauner und Ganoven sich kannten – und häufig waren beide Gruppen identisch … Also tippelten der Kommissar und die Frau, die noch nie in ihrem Leben einem ehrbaren Beruf nachgegangen war – früher war sie eine gefragte Prostituierte gewesen, später eine geschickte Gelegenheitsdiebin – einträchtig durch die Gassen der Innenstadt.

Armand Lavalle wollte einiges von Mère Brassens wissen, was ihm bei der Aufklärung kürzlich erfolgter Einbruchsdelikte Kopfzerbrechen bereitete. Es galt für ihn nicht nur, den Seinemörder zu schnappen. Die »ganz normale« Kriminalität war weiß Gott nicht weniger geworden und womöglich hatte die Alte irgendwo zufällig aufgeschnappt, dass irgendjemand Stücke aus der Diebesbeute verhökern wollte …

Lavalle und seine Kollegen verstanden die Welt nicht mehr. Ihnen waren mehr oder weniger die Hände gebunden: Gestern hatte der Kommissar hilflos zugesehen, wie eine adelige Dame mitten auf offener Straße vom Pöbel beleidigt wurde. Zum Glück waren zumindest Tätlichkeiten unterblieben.

Da ihnen niemand Einhalt gebot, wurden die Aufrührer, die Marats »Ami du Peuple« mächtig aufhetzte, immer unverschämter. Mit ein paar Polizisten war der aufgestachelten Menge nicht beizukommen, vor allem, da die sich von den Angehörigen der Nationalversammlung unterstützt fühlte.

Heute Vormittag kam Lavalle gerade hinzu, als ein paar Strolche versuchten, den Kutscher eines adeligen Gefährts vom Bock zu ziehen und zu verprügeln. Armands Begleiter, zwei Gendarmen, verhafteten die Kerle. Zu ihrer Entschuldigung behaupteten diese dreist, sie hätten »dem verräterischen Kerl eine Lehre erteilen« müssen, weil es unrecht sei, in diesen Zeiten einem ausbeuterischen Aristokraten zu Diensten zu sein …

Kopfschüttelnd wies Armand die Polizisten an, die Übeltäter nach einer Verwarnung wieder laufen zu lassen. Die Gefängnisse in der Conciergerie waren bereits überfüllt mit all denen, die Tag für Tag an die Oberfläche des mit gärendem Abschaum angefüllten »Hexenkessels« namens Paris, gespült wurden.

Selbst den Königstreuen fehlte jegliches Verständnis dafür, als Ludwig XVI. die zusätzlichen Soldaten, die er kürzlich nach Paris beordert hatte (als marodierendes Pack ihn selbst in Versailles massiv bedroht hatte!), angewiesen hatte, wieder abzuziehen.

»Das nenne ich doch geradezu eine Ermunterung für jeden Revoluzzer!« Auch Pierre de Bricasson, Commandant Général de Police Royal, war fassungslos, als er davon hörte.

Armand, sein direkter Vorgesetzter Émile Béguin, sein Freund Hubert und alle anderen Polizisten schüttelten die Köpfe, als diese unverständliche Order des Königs ans Militär durchgesickert war.

»Von den königlichen Soldaten, die mit uns gemeinsam dafür sorgen sollten, die Ordnung in der Hauptstadt aufrechtzuerhalten, ist somit ab sofort keine Unterstützung mehr zu erwarten«, monierte der Comte de Belfort. »Die paar Figuren, die noch den Rock des Königs tragen, können wir vergessen, Leute!«

Es war deutlich zu erkennen, und »Le Président« machte auch kein Hehl daraus, wie sehr ihn Seine Majestät enttäuscht hatte. Mit den wenigen Polizisten, die ihm im Augenblick zur Verfügung standen, war nicht einmal in normalen Zeiten Zucht und Ordnung in der Stadt zu gewährleisten.

Die Polizei war auch nicht in der Lage, die Urheber der obszönen Schmierereien an den Mauern des Palais Royal dingfest zu machen. Zudem kursierten in der Stadt wieder gemeine Pamphlete gegen die Königin, worin nicht nur ihre unersättliche Gier nach Diamanten, sondern auch die nach angeblich ständig wechselnden Liebhabern angeprangert wurde.

Die entsprechenden Zeichnungen dazu ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Marie Antoinette, mit Schmuck behangen und mit grotesk aufgebauschter Frisur, lag rücklings mit hochgeschobenen Röcken auf einem Prunkbett, während ein Mann mit Perücke und heruntergezogener Culotte – also ein Adliger – zwischen ihren gespreizten Schenkeln zu Gange war …

Hubert Aubriac brachte einen ganzen Armvoll dieser gemeinen Machwerke mit ins Kommissariat. Er habe sie konfisziert, behauptete er ernsthaft. Sein Freund Armand argwöhnte jedoch, dass der Sekretär die Pamphlete nur mit gespielter Empörung unter den Polizisten verteilte.

»Man muss den Kollegen auch augenfällig beweisen, wie schlimm diese Schmutzkampagnen mittlerweile sind«, behauptete Aubriac scheinheilig. Lavalle nahm ihm das nicht ab. Aber es fehlte ihm die Zeit, um sich mit ihm auseinanderzusetzen. Im Kommissariat war ein Tipp eingegangen, der sich bezüglich des »Seinemörders« womöglich als Ziel führend erweisen konnte.

Dieser Spur musste er unbedingt nachgehen.

Obwohl Lavalle sich in einer Kneipe unter Dirnen und Ganoven in der Nähe der Markthallen von Paris die halbe Nacht um die Ohren schlug, bekam er den Betreffenden, wovon der Informant berichtet hatte, leider nicht zu Gesicht. Das war zwar höchst enttäuschend, aber entsprach durchaus dem üblichen Prozedere in der Arbeit eines Kriminalkommissars.

Auch Lavalle wusste, nur dem geduldigen, aber beharrlichen Jäger winkte die Beute. Er würde es am folgenden Abend erneut versuchen.

KOMMISSAR LAVALLE UND DER SEINEMÖRDER

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