Читать книгу Das edle Herz - Karmapa Dorje Ogyen Trinley - Страница 6
Vorwort der Herausgeberinnen
ОглавлениеDer spirituelle Lehrer, dessen Worte der Weisheit dieses Buch enthält, ist seinen Schülerinnen und Schülern als »Seine Heiligkeit der Karmapa« bekannt. Im Mai 2011 nahm sich Seine Heiligkeit trotz seines anspruchsvollen Terminkalenders Zeit für eine Reihe von Treffen mit einer Gruppe von sechzehn amerikanischen College-Studierenden, die ihn in seiner Residenz in Indien besuchten. Die Vorträge, die er im Rahmen dieser Treffen hielt, bilden das Fundament des vorliegenden Buches.
Während einer der zweimal wöchentlich stattfindenden öffentlichen Audienzen Seiner Heiligkeit des Karmapa, die in der Versammlungshalle des Gyuto-Klosters in Nordindien stattfanden, konnten die angereisten Studierenden einen ersten, kurzen Eindruck von ihm gewinnen. Der Karmapa ist einer der höchsten Lamas im tibetischen Buddhismus, und viele Menschen waren zu dieser Audienz zusammengekommen. Als sich alle in einer Reihe aufgestellt hatten und dann am Karmapa vorbeischritten, um seinen Segen zu erhalten, fühlten sich die Studierenden von dem gelassenen und zugleich hoheitsvollen Auftreten Seiner Heiligkeit etwas eingeschüchtert. Diese erste Begegnung machte ihnen sehr deutlich, welch außergewöhnliche Gelegenheit sich ihnen bot, Seine Heiligkeit drei Wochen lang in persönlichen Gesprächen und bei Vorträgen zu treffen.
Später am Tag trafen die Studierenden in der Bibliothek Seiner Heiligkeit mit ihm für ein erstes privates Treffen zusammen. Alle blickten sich verstohlen in der weiträumigen, modernen Bibliothek voller tibetischer Texte und Bücher aus der ganzen Welt um. Einer nach dem anderen wurde dem Karmapa vorgestellt, trat an ihn heran und übergab ihm ein Geschenk. Viele davon, wie zum Beispiel Bilder, eine Skulptur, Schokoladentrüffel oder ein Banjo, waren extra für ihn angefertigt worden. Offensichtlich hatten die Studierenden das Bedürfnis verspürt, mit ihren Geschenken auch einen Teil von sich selbst darzubieten, und Seine Heiligkeit nahm ihre Gaben mit aufrichtiger Neugier und einem offenen Herzen entgegen. Als die Gruppe am nächsten Tag die Bibliothek für ihr zweites Treffen mit Seiner Heiligkeit aufsuchte, waren viele der Geschenke bereits in den Bücherregalen rund um den Sitzbereich ausgestellt. Bis dahin vielleicht noch unsicher, was wohl ihr Platz in dieser ungewohnten Umgebung sein würde, wussten die Studierenden jetzt, dass sie hier am Ort Seiner Heiligkeit willkommen waren.
Das Projekt hatte seinen Anfang bereits ein Jahr zuvor genommen, als der Karmapa eine seiner Schülerinnen, die amerikanische Nonne Damchö, autorisiert hatte, Kontakt zu ihrer langjährigen Freundin Karen Derris (Professorin für Religious Studies an der University of Redlands, USA) aufzunehmen, mit dem Ziel, eine Gruppe von Studierenden einzuladen, den Karmapa zu treffen. Mit der begeisterten Unterstützung der University of Redlands, einer geisteswissenschaftlich ausgerichteteten Hochschule in Südkalifornien, begleitete Karen Derris die Gruppe nach Indien. (Damchö und Karen Derris organisierten die Reise und sind die Herausgeberinnen dieses Buches.)
Der Wunsch des Karmapa war es, zum Ausgangspunkt des Projektes nicht etwa die Frage zu machen, was der Buddhismus den amerikanischen Studierenden zu sagen hat, sondern zunächst sie zu fragen, was sie über den Buddhismus erfahren wollten. Damchö und Karen sandten einer großen Anzahl von Karens Studierenden einen informellen Fragebogen zu, um herauszufinden, was diese zuallererst von einem spirituellen Lehrer lernen mochten. Deren Antworten offenbarten ein tiefes Bedürfnis, ihre Anliegen mit einem Lehrer zu erforschen, der neue Perspektiven im Umgang mit der Welt und sich selbst aufzeigen konnte. Die Themen, die daraufhin für die Treffen ausgewählt wurden, entsprachen den Wünschen der Studierenden und bilden die Kapitel des vorliegenden Buches.
Vor der für den Mai geplanten Reise nach Indien verbrachte die Gruppe den Winter damit, ihre Begegnung mit dem Karmapa vorzubereiten. Vom ersten Treffen an versuchte Karen, die Gruppe davor zu warnen, mit zu viel eigenen Erwartungen in dieses Experiment zu gehen. Die Teilnehmenden formulierten gemeinsam das Ziel, anzunehmen, was immer ihnen entgegenkommen würde, denn niemand von ihnen, auch die Professorin nicht, konnte sich wirklich vorstellen, wie die Begegnung mit dem Karmapa in Indien verlaufen würde. Sie verpflichteten sich, offen zu sein für alles, was ihnen angeboten oder was von ihnen gefordert werden würde.
Das Projekt sah auch vor, dass die Studierenden während der Begegnung mit dem Karmapa die passive Rolle des Zuhörens verlassen und aktiv ihre Hoffnungen und Sorgen mit ihm teilen sollten. Zur Gruppe gehörten Aktivistinnen und Aktivisten, die sich mit den Rechten der arbeitenden Bevölkerung, mit dem interreligiösen Dialog bzw. mit dem Thema der Ernährungsgerechtigkeit beschäftigten. In den Begegnungen mit dem Karmapa berichteten sie von ihren Träumen, was sie zum Wohlergehen der Welt beitragen möchten, sowie von ihren persönlichen Erfahrungen. Der Karmapa erkannte ihre Aufrichtigkeit und ihren Wunsch, sich umeinander und um die Welt zu kümmern, an und versicherte ihnen, dass sie nichts anderes als das für eine Begegnung mit ihm bräuchten. Jeder Mensch mit einem offenen Herzen und guten Absichten, so der Karmapa, ist qualifiziert und in der Lage, seine Unterweisungen aufzunehmen und umzusetzen.
Zunächst fühlten sich die Studierenden etwas verunsichert über diese Gelegenheit, doch sie waren auch mutig und abenteuerlustig sowie willens, unterschiedliche Wege des In-der-Welt-Seins auszuprobieren. Sie nahmen Einschränkungen auf sich, um der tibetischen Kultur und den Richtlinien buddhistischer Ethik Respekt zu zollen. Karen hatte bereits während des ersten Treffens verdeutlicht, dass die Teilnahme an der Reise an die Einhaltung der fünf buddhistischen ethischen Richtlinien geknüpft war: nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht zu lügen, kein sexuelles Fehlverhalten auszuüben und keine Drogen zu sich zu nehmen, und das galt für die gesamte Zeit ihres Aufenthalts in Indien. Die Studierenden würden die Bedeutung der ethischen Richtlinien in der konkreten Anwendung auf ihre Erfahrungen verstehen lernen können. Kein Leben zu nehmen würde eine vegetarische Lebensweise beinhalten, wie sie der Karmapa als zentrale ethische Aufgabe propagiert. Nicht zu nehmen, was nicht gegeben ist, würde heißen zu reflektieren, welche und wie viele Ressourcen die Gruppe während ihres Aufenthaltes in dem kleinen Dorf Sidhpur verbrauchen würde. Unwahre Worte zu vermeiden würde zur Richtschnur, achtsam die eigene Kommunikation zu überprüfen; und keinerlei Drogen zu sich zu nehmen würde ihnen helfen, den Geist klar und aufnahmefähig zu halten.
Die Gruppe hielt sich während ihres Aufenthaltes freiwillig an diese Regeln. Später erzählten einige davon, wie ihnen genau dies zu einer vertieften Selbsterfahrung verholfen hatte. Während eines Ausflugs zu einem nahe gelegenen tibetischen Kulturinstitut traf Seine Heiligkeit die Gruppe zum Tee und versicherte den jungen Leuten, ihr Verhalten sei so angemessen, dass man glauben könne, sie seien Mönche und Nonnen.
Inspiriert von den Vorträgen des Karmapa, seiner Großzügigkeit und dem Beistand all jener in seiner Residenz zeigten die Studierenden eine hohe Motivation, an sich zu arbeiten. Oft verbrachten sie zwölf Stunden am Tag in Sitzungen. Sie bereiteten sich auf die Vorträge vor, hörten sie sich an und besprachen danach die geäußerten Ideen und Perspektiven. Obwohl die Tage bereits lang waren, fühlten sie sich oft inspiriert, noch einmal die Argumentationsschritte Seiner Heiligkeit nachzuvollziehen, um die Feinheiten seiner Unterweisungen tiefer zu erforschen. Dies war besonders dann der Fall, wenn der Karmapa radikal andere Paradigmen vorstellte, um die Welt und sich selbst darin zu verstehen. So sprach er davon, dass Gier keine dem Menschen innewohnende Eigenschaft sei oder dass Gewohnheiten eine wichtige Basis für Beziehungen seien.
Am bemerkenswertesten jedoch war nicht das Ausmaß an Zeit, das die Gruppe investierte, sondern der Geist, mit dem sie an ihre Arbeit ging. Als Studierende des Johnston Center for Integrative Studies der University of Redlands übertrugen sie den Geist der Zusammenarbeit und des Lernens durch gemeinsame Erfahrung auf diese interkulturelle Begegnung. Sie waren nicht nur intellektuell wagemutig, sondern auch geübt in konsens-basiertem Lernen. Wenn ein Gruppenmitglied während eines Treffens mit dem Karmapa sprach, drückte er nicht nur seine eigenen Ideen aus, sondern das, was vorher bereits in der Gruppe diskutiert worden war. Auf diese Weise vollzog sich das Lernen nicht als individueller Akt der Aneignung vorhandenen Wissens, sondern als Akt des Beitragens und des Austauschs mit anderen.
Während des gemeinsam verbrachten Monats begegnete Seine Heiligkeit der Karmapa den Studierenden im Geist der Liebe und Freundschaft. Bei einem Treffen bemerkte ein Student, dass der Karmapa und sie zwar Altersgenossen seien, ansonsten wären sie ihm aber in keinster Weise ebenbürtig. Die Weisheit, die Seine Heiligkeit ausstrahlte, hat einen tiefen Eindruck bei der Gruppe hinterlassen, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer nur wenige Jahre jünger als er waren.
Seine Heiligkeit ist, obwohl noch sehr jung, ein außergewöhnlicher Lehrer. Von tibetischen Buddhisten wird er als jemand gesehen, der sich seit neunhundert Jahren erfolgreich als Karmapa reinkarniert hat. So war er zum Zeitpunkt der Begegnung einerseits erst fünfundzwanzig Jahre, andererseits bereits neunhundert Jahre alt. Mitunter scherzte er darüber gemeinsam mit der Gruppe. In seinen Begegnungen mit den Studierenden verband er diese beiden Identitäten nahtlos. Seine Jugend ermöglichte ihm einen zwanglosen Zugang zu ihnen, seine alterslose Weisheit erlaubte es ihm, sie aus einer unauslotbaren Tiefe zu unterrichten. Seine Erfahrung im Umgang mit der Popkultur, mit dem iPhone und mit Comics überbrückte ihre unterschiedlichen Lebenswelten, die sich in äußerst disparaten Erfahrungen und spirituellen Errungenschaften ausdrückten.
Obwohl Begegnungen mit Seiner Heiligkeit immer ein Maß an respektvollen Umgangsformen erfordern, war ihm stets daran gelegen, dies nicht zu einer Barriere für einen herzlichen und persönlichen Kontakt werden zu lassen. Ngodup Tsering Burkhar erwies sich nicht nur als erfahrener Übersetzer der Worte Seiner Heiligkeit, sondern vermittelte der Gruppe auch den Geist seiner Ideen. Das herzliche und gelöste Zusammenspiel Seiner Heiligkeit mit seinem Übersetzer erleichterte so manche Diskussion um ernste Probleme. Selbst tiefe Erörterungen wurden so immer wieder von Lachen und freundlichen Blicken begleitet. Gleich zu Beginn lud der Karmapa, abweichend vom Protokoll, zu einem Mittagessen ein, bei dem er sich mit der studentischen Gruppe an einen Tisch setzte, während die Lehrer und Übersetzer an einem anderen Tisch Platz nahmen. Auf informelle und herzliche Weise unterhielt er sich privat mit ihnen, erfuhr etwas über ihre Familien und auch darüber, warum ein Student Rastalocken trug.
Am letzten Abend nahmen alle ein weiteres gemeinsames Mahl ein. Die Studierenden drückten ihre tiefe Dankbarkeit aus und überreichten Seiner Heiligkeit Gedichte und Lieder, darunter ein Lied mit dem Titel »Let the Moon be the Holder of My Love«, das von zwei Mitgliedern der Gruppe komponiert und von einem Vortrag des Karmapa über »Gesunde Beziehungen« (siehe Kapitel 3) inspiriert worden war. Der Chant-Meister Seiner Heiligkeit hatte mit fünf Studierenden zuvor ein heiliges Lied des großen tibetischen Yogi Milarepa einstudiert. Vor dem Karmapa sitzend, sangen sie dieses Lied auf Tibetisch, eine Melodie intonierend, die der Karmapa selbst komponiert hatte. Nach wenigen Takten stimmte Seine Heiligkeit mit ein.
Bemerkung: Der Titel »Seine Heiligkeit« ist vielleicht im Zusammenhang mit dem am meisten verehrten buddhistischen Lehrer, Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, bekannter. Als Ausdruck der Hochachtung von vielen Millionen Anhängerinnen und Anhängern weltweit ist dieser Titel jedoch auch für den Karmapa gebräuchlich.