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Kapitel 4

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Schon beim Betreten des Gasthauses wusste Cornelius, warum Wolfgang Hartmann von Glück gesprochen hatte, als er Anna Leitner erwähnte. Die Gaststube war gemütlich und mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. Auf jedem Tisch stand eine kleine Vase mit selbst gepflückten Blumen, die rot-weiß karierten Vorhänge passten genau zu den Lampenschirmen und die alten Werkzeuge an den holzvertäfelten Wänden waren so sorgfältig poliert, dass sich die Nachmittagssonne darin spiegelte. Für einen kurzen Augenblick sah er sich und Tabea im Gasthof Leitner zu Mittag essen, doch er verwarf diesen Plan sofort wieder. Er konnte sich den deplatzierten Kommentar seines verwöhnten und naserümpfenden Nachwuchses beim Anblick der Gaststube lebhaft vorstellen und wollte diesen sowohl sich selbst als auch der ihm bisher noch unbekannten Anna Leitner gerne ersparen.

Alles war so sauber und ordentlich, er konnte sich nicht vorstellen, dass die Wirtin dieses Hauses tatsächlich mit Johann Leitner verheiratet war. Im Moment saßen keine Gäste an den Tischen, aber wer hatte schon an einem Freitagnachmittag Zeit für ein gemütliches Bier im Gasthaus? Cornelius trat an den blitzblanken Tresen und schlug auf die dort abgestellte Klingel. Wenig später hörte er eilige Schritte und eine Tür, die die Aufschrift »privat« trug, wurde schwungvoll geöffnet.

Eine attraktive Frau Ende vierzig kam ihm entgegen. Sie trug ein imposantes Dirndlkleid und streckte lächelnd ihre Hand aus. »Grüß Gott. Sie sind bestimmt Professor Cornelius. Mein Mann hat mir schon gesagt, dass er Sie auf dem Weg hierher getroffen hat. Ich bin Anna Leitner.«

»Ja, das stimmt. Gregor Cornelius. Grüß Gott«, entgegnete er in der Hoffnung, nicht immer und überall mit seinem Titel angesprochen zu werden. Doch diese wurde sogleich zunichte gemacht.

»Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, Herr Professor? Die Fahrt war doch bestimmt anstrengend.« Anna Leitner sah ihn prüfend an.

Wenn er ehrlich war, war die Fahrt nicht halb so anstrengend gewesen wie die erste halbe Stunde, die er zu Fuß in Neukirchen verbracht hatte, aber das musste er ihr ja nicht sagen. Cornelius dachte kurz daran, dass er ab sofort alleine für seine Verpflegung zuständig war und jede Menge unbekannte Geräte in einer noch unbekannteren Küche auf ihn warteten. »Kaffee und Kuchen wären wunderbar«, sagte er deshalb.

»Hier ist der Schlüssel. Und wenn Sie irgendetwas brauchen sollten, Herr Professor, dann sagen Sie einfach Bescheid. Carola Schäfer, meine Schwester, kommt zweimal in der Woche zum Putzen vorbei.« Anna Leitner reichte ihm einen Schlüsselbund und nickte ihm aufmunternd zu.

Das Tablett mit der Kaffeetasse und einem überdimensionalen Stück Schwarzwälder Kirschtorte wurde von einer hübschen, aber sehr schüchternen jungen Frau serviert, die ihm von Anna Leitner als Amelie Hartmann vorgestellt wurde.

»Hartmann? Sind Sie etwa die Tochter von Wolfgang Hartmann?«, fragte er mit einem aufmunternden Lächeln. Sie nickte zaghaft, und Cornelius erzählte den beiden Frauen von seiner nachmittäglichen Begegnung. Amelies ohnehin schon verschlossenes Gesicht verdüsterte sich bei der Erwähnung von Sascha Eichingers Namen noch mehr, und auch Anna Leitner sah plötzlich verlegen zwischen Amelie und ihm hin und her.

»Ich geh dann mal wieder in die Küche, Anna. Auf Wiedersehen, Herr Cornelius«, sagte Amelie am Ende seiner Ausführungen, und ehe Anna noch etwas erwidern konnte, war sie auch schon verschwunden.

Erstaunt blickte Cornelius dem Mädchen hinterher. »Was hat sie denn auf einmal? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

»Nein, nein«, wiegelte Anna Leitner schnell ab und wischte mit einem Geschirrtuch den ohnehin schon blitzblanken Tresen ab. »Es ist nur … also der Hartmann und der Sascha Eichinger, die …« Doch leider sollte er nicht mehr erfahren, was genau zwischen den Hartmanns und Sascha Eichinger eigentlich los war, denn in diesem Augenblick wurde die Tür zum Gasthaus geöffnet und ein Mädchen und ein Junge, beide kaum älter als fünf Jahre, stürmten herein, dicht gefolgt von einem jungen Mann.

»Der Daniel hat mit uns ganz lustige Sachen gemacht«, plapperte der Junge sofort munter drauflos.

»Kriegen wir ein Eis, Tante Anna?«, fragte das Mädchen und musterte dann Cornelius von oben bis unten. »Wer bist denn du?« Sie hatte ihre Stirn dabei in Falten gelegt. Offensichtlich passierte es in Neukirchen nicht jeden Tag, dass ein Ortsfremder im Gasthaus saß.

Die zwei waren ihm auf Anhieb sympathisch. Er beugte sich zu den Kindern hinab. »Ich bin der Gregor und ich passe die nächste Zeit auf das Haus von Lukas und Sandra Albrecht auf. Und wer seid ihr?«

»Ich bin der Tobias«, sagte der Junge sofort und gab ihm artig eine kleine klebrige Hand.

»Und ich die Sophie«, kam es postwendend und eine noch kleinere Hand, die zweifellos vor einigen Minuten noch im Sand gespielt hatte, wurde ihm entgegengestreckt.

»Jetzt lasst mal den armen Professor Cornelius in Ruhe, ihr zwei Quälgeister. Geht euch die Hände waschen und danach gibt es – vielleicht – ein Eis«, ermahnte Anna Leitner die beiden, die daraufhin eilig durch die Tür verschwanden, durch die Amelie Hartmann vor wenigen Minuten noch regelrecht geflohen war.

»Entschuldigen Sie, Herr Professor. Das sind die Kinder meiner Schwester. Sie ist gerade mit meinem Schwager beim Arzt, weil ihm heute endlich der Gips abgenommen wird.« Sie wandte sich an den jungen Mann: »Danke Daniel, dass du für mich eingesprungen bist. Ausgerechnet am Freitag ist es immer so hektisch bei uns, weil ich auf den Großmarkt fahren muss. Und dem Johann kann ich die beiden doch nicht anvertrauen.« Anna seufzte bei den letzten Worten laut auf.

»Geh, Anna, das ist doch kein Problem. Wir haben hinter unserem Haus noch den großen Sandkasten, da haben wir eine Formel-Eins-Strecke gebaut und das Rennauto vom Tobias fahren lassen.« An den strahlenden Augen des jungen Manns erkannte Cornelius, dass ihm das Sandspielen mindestens genauso viel Spaß gemacht hatte wie den beiden Kindern.

»Ich bin übrigens Daniel Eichinger«, sagte er zu Cornelius. »Die Hand geb ich Ihnen dann, wenn sie nicht ganz so schmutzig ist.«

Während Cornelius sich ebenfalls vorstellte, musterte er sein Gegenüber verstohlen. Auf den ersten Blick hätte man nicht vermutet, dass der junge Mann mit den schmalen Schultern, der Nickelbrille und dem hellen Teint der Bruder von Sascha Eichinger war. Cornelius erzählte rasch, dass er Sascha bereits kenne und von ihm zum morgigen Fußballspiel eingeladen worden sei.

»Spielen Sie auch?«, fragte er.

Daniel Eichinger winkte lachend ab. »Nein, nein. Das überlass ich lieber meinem Bruder. Der spielt richtig gut.«

Irgendwie hatte Cornelius keine andere Antwort erwartet.

»Sie müssen unbedingt kommen. Das ganze Dorf ist dabei, wenn es gegen Ebersbach geht«, schaltete sich Anna Leitner ein. »Das ist nämlich das Nachbardorf und die haben letzten Herbst eine ganz schöne Schlappe gegen uns einstecken müssen«, sagte sie nicht ohne Stolz.

»Nur wegen dem Sascha haben die verloren. Der hat die nämlich fast im Alleingang abgeschossen«, tönte es in diesem Augenblick hinter Annas Rücken. Johann Leitner hatte polternd die Gaststube betreten. »Vier zu null und drei Tore vom Sascha«, rief er fast schon triumphierend. »Aber den besten Treffer hat er dann nach Spielschluss gelandet«, fügte er mit einem süffisanten Grinsen hinzu.

»Johann, das interessiert den Herrn Professor nun wirklich nicht«, kam es sofort vorwurfsvoll von seiner Frau.

Cornelius bemühte sich, ein teilnahmsloses Gesicht zu machen und nicht zu neugierig zu wirken.

»Warum denn nicht? Das weiß doch mittlerweile ohnehin jeder«, erwiderte Johann Leitner herausfordernd. Und ehe Daniel oder seine Frau etwas sagen konnten, redete er auch schon weiter. »Da hat sich der Sascha nämlich die Freundin vom Michael Graf, dem Kapitän der Ebersbacher, geschnappt. Eine richtige Schlägerei hat es gegeben, weil der Michi die beiden in flagranti erwischt hat.«

Vergnügt blickte Johann Leitner von einem zum anderen. Wahrscheinlich hatte er selbst bei dieser Prügelei munter mitgemischt. Ein Blick in Anna Leitners Gesicht genügte, um Cornelius dies zu bestätigen. Verlegen rührte er in seiner Kaffeetasse. Sekundenlang sagte niemand etwas.

»Ja, Johann, das weiß in der Tat mittlerweile wirklich jeder«, erwiderte Daniel. Er wandte sich rasch ab und verließ den Raum.

Als die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, blickte Anna ihren Mann vorwurfsvoll und wütend zugleich an.

»Was musst du denn dem Daniel immer diese alten Geschichten unter die Nase reiben? Meinst du, das geht dem nicht auf die Nerven? Und überhaupt ist das mit der Tanja doch schon längst vorbei.«

»Für den Sascha vielleicht schon. Aber der Michi hat das bestimmt noch nicht vergessen. Da spritzt noch mal das Blut zwischen den beiden, das sag ich euch«, frohlockte ihr Mann.

Cornelius wusste, dass Ramona spätestens jetzt entschieden ihr Veto gegen einen Besuch des morgigen Fußballspiels eingelegt hätte.

»So ein Schmarrn. Und jetzt schau, dass du mit deinen dreckigen Stiefeln rauskommst. Ich hab heute erst geputzt«, schimpfte Anna Leitner weiter. Erst als ihr Mann die Gaststube verlassen hatte, schien sie sich Cornelius’ Anwesenheit wieder bewusst zu werden.

»Hören Sie nicht auf das, was mein Mann sagt. Er war auf dieser Siegesfeier schon viel zu betrunken, um noch irgendetwas mitzubekommen«, wiegelte sie schnell ab.

Dass Johann Leitner gerne und oft sturzbetrunken war, glaubte er ihr sofort. Aber so leicht wollte er sich nicht von Sascha Eichinger ablenken lassen. Die Ankunft von Tobias und Sophie verhinderte jedoch, dass er weitere Fragen stellen konnte. Obwohl ihre Tante heftig protestierte, bestand Cornelius darauf, das Eis bezahlen zu dürfen, was ihm ohne Zweifel erste Bonuspunkte einbrachte, auch wenn ihm Sophies Blick, der ihn fast schon frappierend an Ramonas erinnerte, klar zu verstehen gab, dass er seinen Alienstatus dadurch noch längst nicht losgeworden war.

Auf dem Rückweg in sein neues Zuhause stellte Cornelius fest, dass er innerhalb kürzester Zeit beinahe der Verursacher zweier Autounfälle gewesen wäre, schon einige Bewohner Neukirchens kennengelernt und eine Einladung zu einem Fußballspiel mit dem verfeindeten Nachbardorf erhalten hatte. Langweilig war es bis jetzt wirklich nicht.

Er stellte auch fest, dass am Ende immer Sascha Eichinger irgendetwas mit allem zu tun hatte. Als er jetzt am Hof der Eichingers vorbeikam, sah er ihn gerade auf einen Traktor steigen. Lächelnd winkte er Cornelius zu. Selbst in schmutziger Arbeitskleidung machte er noch eine gute Figur, und unvermittelt drängte sich Cornelius das Bild seines Bruders auf.

*

Ramona und Maria mussten heimlich mit Sandra telefoniert haben, anders konnte er sich den übervollen Kühlschrank, der ihn im Haus der Albrechts erwartete, nicht erklären. Er wollte sich gar nicht ausmalen, welch erbärmliches Bild er vor Lukas und Sandra mittlerweile abgab. Wahrscheinlich hatten sie tatsächlich Angst, Cornelius würde in ihrem Haus verhungern und verdursten, wenn sie ihm die Küche nicht entsprechend ausstatteten. Er musste bald ein ernstes Wort mit seinen drei Damen zu Hause reden – auch wenn klar war, dass sie ihn ohnehin wieder missverstehen würden.

Seine Pflichten als Hausaufpasser waren darüber hinaus minimal, wie er einem von Sandra geschriebenen Brief auf der Küchenablage entnehmen konnte. Mittwochnachmittag und Samstagvormittag würde Carola Schäfer zum Putzen kommen. Er würde Anna Leitners Schwester also schon am nächsten Tag kennenlernen. Den Abwasch der von ihm produzierten Geschirrberge übernahm eine nicht eben kleine Spülmaschine, deren Bedienungsanleitung er sich später verinnerlichen wollte.

Ein weiteres unbekanntes Gerät stand ihm in Form eines ultramodernen Herds gegenüber, der keinerlei Knöpfe besaß, sondern, laut Sandras Ausführungen, durch Berühren gewisser Felder auf der Oberfläche zu steuern war. Auch damit wollte er sich irgendwann später beschäftigen.

Seine Aufgabe, soweit er die wenigen Zeilen richtig deutete, bestand in erster Linie im Gießen des Gartens und der Zimmerpflanzen, im Sammeln der Post und im Beaufsichtigen der Maler, Fliesenleger und Schreiner, die in drei Tagen im noch nicht ganz fertig gestellten ersten Stock mit ihren Arbeiten beginnen würden. Alles Aufgaben, die er sich durchaus zutraute, zumal Sandra an den etwas heikleren Pflanzen überall gelbe Klebezettel angebracht hatte, die ihm genauere Instruktionen gaben. (Spätestens jetzt wusste Cornelius, dass sie mit Ramona und Maria telefoniert hatte.)

Das Gästezimmer – sein Zimmer für die nächsten vier Wochen – besaß ein eigenes kleines Badezimmer und befand sich im Erdgeschoss direkt neben dem Wohnzimmer. Es hatte eine großzügige Fensterfront und war hell und geschmackvoll eingerichtet. An der Wand gegenüber des Doppelbetts hing eine moderne Darstellung der Akropolis, die, wie die Unterschrift am unteren rechten Bildrand erkennen ließ, Sandra selbst angefertigt hatte. Er stellte erleichtert fest, dass die Matratze sehr hart war und man nicht Gefahr lief, so tief einzusinken, dass man alleine nicht mehr aufstehen konnte. Die dunkelblauen Vorhänge passten farblich exakt zur Tagesdecke und zu den Handtüchern im Badezimmer, was zweifellos ebenfalls Sandras stilsicherem Auge zu verdanken war. Der Kleiderschrank nahm fast die gesamte Türseite ein und hätte problemlos dem Inhalt von Ramonas sämtlichen Koffern Platz geboten. Cornelius trat an das gegenüberliegende Fenster und öffnete es. Warme Frühlingsluft strömte herein. Er stellte fest, dass es sich an der Hausseite befand, die an das Grundstück der Hartmanns angrenzte.

Dort war im Erdgeschoss ebenfalls ein Fenster geöffnet und gab den Blick in eine gemütliche Küche frei, in der sich jedoch im Moment niemand aufhielt. Während Cornelius noch über seinen Nachbarn und dessen Tochter nachdachte, füllte auf einmal die Gestalt von Wolfgang Hartmann den Rahmen der Küchentür aus. Cornelius trat rasch einen Schritt vom Fenster zurück, um nicht von ihm gesehen zu werden. Sein Einstand war holprig genug verlaufen. Hartmann hielt ihn bereits für einen akademischen Wichtigtuer, er musste ihn nicht auch noch in die Kategorie »neugieriger Großstädter, der sich nur allzu gerne in die Angelegenheiten seiner Nachbarn einmischt« einordnen. Kaum hatte Wolfgang Hartmann die Küchentür wieder geschlossen, klingelte Cornelius’ Mobiltelefon.

»Tabea, mein Schatz, wie schön, dich zu hören.«

Walpurgisnacht: Niederbayern-Krimi (German Edition)

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