Читать книгу Walpurgisnacht: Niederbayern-Krimi (German Edition) - Karoline Eisenschenk - Страница 8
Kapitel 1
ОглавлениеTom, mehr nach links!«, zischte Tabea Cornelius zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Gleichzeitig versuchte sie, den jungen Mann mit mehr oder weniger diskreten Handbewegungen in die gewünschte Richtung zu dirigieren.
Gregor Cornelius betrachtete das Schauspiel vergnügt aus den Augenwinkeln und konnte sich ein Lächeln nur mühsam verkneifen. Tom war groß, gut aussehend, durchtrainiert, kurzum ein optischer Halbgott, von Beruf Fotomodell und, was ihn für Cornelius wirklich interessant machte, der aktuelle Freund seiner Tochter. Wie immer hatte Tabea die Zügel fest in der Hand und der arme Tom machte brav, was von ihm verlangt wurde. In diesem Fall bedeutete das, auf Zehenspitzen Richtung Podium zu schleichen und die Kamera auf den dortigen Redner zu richten, der soeben verkündete, welche Bereicherung Cornelius’ Wirken für das Institut und die gesamte Universität sei.
Cornelius’ Anflug von guter Laune verschwand so schnell, wie er gekommen war, als ihn der einsetzende Applaus auf den Boden der Tatsachen und damit in die Große Aula der Ludwig-Maximilians-Universität zurückbrachte. Dort hatten sich vor zwei Stunden unzählige Gäste versammelt, um ihn in den »wohlverdienten Ruhestand« zu verabschieden, und eine Laudatio nach der anderen war seitdem auf ihn niedergeprasselt.
Die meisten davon waren ehrliche und von Herzen kommende Reden ehemaliger Studenten und Doktoranden, die über gemeinsame Exkursionen, nerven- und kräftezehrende Archivarbeit und das stundenlange Studieren uralter Texte sprachen, aber auch vom wissenschaftlichen Eifer, den Cornelius damit in ihnen geweckt hatte, und von der Freude an der mittelalterlichen Geschichte und ihren zahlreichen Mythen und Geheimnissen. Eine leidenschaftslose Litanei des Vertreters der Universitätsverwaltung reihte sich ebenfalls in den Reigen der Lobeshymnen ein. Cornelius hatte den guten Mann bis dahin noch nie gesehen und bezweifelte, ob dieser eigentlich wusste, wen er da in den Ruhestand entließ.
Neben diversen Lehrstuhlinhabern anderer Institute, mit denen er stets ein sehr gutes Verhältnis gepflegt hatte, und seinen engsten Mitarbeitern hatten sich schließlich auch die beiden Sekretärinnen des Instituts zu Wort gemeldet und am Ende sogar einige Tränen vergossen. Cornelius war ob der ungewohnten Emotionen der Damen überrascht, hatte er die beiden doch als rechte Vorzimmerbesen im Gedächtnis, die alles wegbissen, was sich ihnen näherte. Aber er musste zugeben, dass sie ihm dadurch im Lauf der Jahre die eine oder andere unerträgliche Nervensäge vom Leib gehalten und in ihre Schranken gewiesen hatten. Beneidet hatte er sie ob dieser undankbaren Aufgaben wahrlich nie.
Den größten aller Quälgeister hatten allerdings auch sie nicht daran hindern können, seit nunmehr acht Jahren tagtäglich mit Penetranz und Beharrlichkeit auf seinen Nerven herumzutrampeln. Und er tat es unerbittlich bis zum Schluss, bis zum allerletzten Wort, das er soeben von sich gegeben hatte und wofür er den entsprechenden Applaus erwartete, der auch prompt einsetzte. Cornelius war es deshalb egal, ob Richard von Greifenberg auf dem Video, das der arme Tom von jedem Redner aufnehmen musste, zu sehen war oder nicht. Sollte er darauf sein, würde er eigenhändig dafür sorgen, dass diese Stelle gelöscht wurde.
Mochte die Münchner Universität auch groß und weitläufig sein, die Abteilung für Mittelalterliche Geschichte war es mit gerade einmal zwei Lehrstühlen nicht. Und so hatte Cornelius in den letzten Jahren das zweifelhafte Vergnügen gehabt, den direkt im Büro nebenan sitzenden von Greifenberg in unzähligen Fachsitzungen und Ausschüssen, auf dem Korridor oder in der Bibliothek ertragen zu müssen. Ein unerträglicher Besserwisser, der Cornelius ganz offen einen gutmütigen Trottel nannte, der von moderner Lehrstuhlführung nicht die leiseste Ahnung habe. Wenn diese allerdings darin bestand, den Kontakt zu Studenten aufzugeben und mehr Zeit im Büro des Dekans als im Vorlesungssaal zu verbringen und unliebsame Arbeiten mit Freuden an irgendeinen Handlanger zu delegieren, dann verzichtete Cornelius gerne auf dieses Prädikat.
Er hatte bald herausgefunden, dass von Greifenberg den Namen seiner Frau angenommen hatte und kein Tropfen blauen Bluts in seinen Adern floss. Dennoch: Hätte Deutschland noch eine Monarchie als Staatsform, wäre von Greifenberg der Nächste in der Thronfolge. Zumindest seiner Meinung nach.
Beifall heischend blickte von Greifenberg jetzt in die Menge seiner applaudierenden Untertanen, und hätte jemand erst in diesem Moment die Große Aula betreten, so wäre er wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, dass eigentlich eine andere Person im Mittelpunkt des Geschehens stand.
Cornelius spürte ein unangenehmes Ziehen in seinem rechten Arm. Seine Frau Ramona hatte ihn diskret am Unterarm gezwickt, und auf seinen verwunderten Blick antwortete sie mit einer kaum merklichen Kopfbewegung in Richtung Rednerpult.
Cornelius brauchte einige Sekunden, bis er begriff. Natürlich – er musste aufstehen, sich bei seinem Laudator mit Handschlag bedanken und den überdimensionalen Blumenstrauß in Empfang nehmen, mit dem dieser bereits breit lächelnd auf ihn wartete. Wie hatte er das angesichts all der wohlwollenden Worte nur vergessen können? Leise seufzend stand er auf und ging zum Rednerpult.
»Im Alter geht es einfach nicht mehr so schnell, nicht wahr?«, schallte es ihm dort in gewohnter Lautstärke entgegen.
Spontan fiel ihm der Ausspruch eines befreundeten Kollegen aus der Archäologie ein, den dieser vor einiger Zeit so treffend geäußert hatte: »Professor von Greifenberg bewegt sich mit der Grazie einer Axt im Walde gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Flegel und Lümmel.«
Cornelius verspürte große Lust, dieser Gratwanderung hier und jetzt den Garaus zu machen, verbiss sich Ramona zuliebe aber jeden Kommentar.
Sie kannte Caroline von Greifenberg aus dem Golfclub und war sehr gut mit ihr befreundet und er wollte ihr ein Spießrutenlaufen beim anschließenden Sektempfang ersparen. Von Greifenberg blieb noch ein paar Sekunden hinter dem Podium stehen, offenbar nicht gewillt, seinen Platz dort kampflos aufzugeben. Aber schließlich musste er sich doch eingestehen, dass es in diesem Augenblick tatsächlich eine Person gab, die ausnahmsweise wichtiger war, und er räumte das Feld.
»Noch zwei Jahre, dann haben Sie das letzte Wort«, gab ihm Cornelius mit auf den Weg und bemerkte zu seiner Freude, dass von Greifenberg für einen Augenblick nicht zu wissen schien, wie er die Bemerkung einordnen sollte. Eine der beiden Sekretärinnen eilte Cornelius zu Hilfe und befreite ihn von der soeben überreichten Blumenpracht, indem sie diese auf seinen frei gewordenen Stuhl legte.
Und dann war es endlich Zeit für seine Rede, seinen ganz persönlichen Abschied …
*
Sascha Eichinger hatte den iPod auf volle Lautstärke aufgedreht, um damit den Lärm des Traktors übertönen zu können. Es gelang trotz der schützenden Kopfhörer nicht ganz, und so war der Bassgitarre von Sunrise Avenue ein unterschwelliges, aber stetiges Brummen des Motors beigemischt. Er wusste, dass er für den Rest des Tages wieder einen leisen Pfeifton in den Ohren verspüren würde und sich dieser doppelten Schallbelastung eigentlich nicht aussetzen sollte. Aber heute hatte er keine Lust, vernünftig zu sein und wollte auch nicht auf die gebetsmühlenartigen Reden seiner Mutter hören, die immer um ihn herumschwirrte wie eine ihrer Hennen um ein noch nicht ausgebrütetes Ei.
Außerdem half ihm die Musik, sich auf das Fahren und die Kontrollblicke in den Rückspiegel und die beiden Außenspiegel zu konzentrieren, die notwendig waren, um den mächtigen Pflug im Auge zu behalten, der hinter ihm gleichmäßige Furchen in den Ackerboden grub.
Geschickt wendete er das schwere Gefährt am unteren Ende des Felds, um anschließend wieder zurückzufahren und den Pflug eine weitere Linie ziehen zu lassen. Jetzt würde gleich das schwierigere Manöver kommen, denn der gegenüberliegende Feldrand lag nur etwa einen Meter von der Straße entfernt. Es handelte sich dabei zwar um eine nicht sehr viel befahrene Nebenstrecke, die hauptsächlich von den Bauern der Umgebung benutzt wurde und auf der nicht einmal Fahrbahnmarkierungen angebracht waren, dennoch wollte Sascha sie für seine Wende nicht mit einbeziehen.
Er wusste, was sein Vater von verschmutzten Fahrbahnen und von den Bauern, die ihre Verunreinigungen nicht entfernten, hielt. Wenn er also nicht seinen Feierabend damit verbringen wollte, die Straßenoberfläche von den Bodenresten zu säubern, musste er besonders vorsichtig umdrehen. Aber eigentlich mochte er diese waghalsigen Wendemanöver, gaben sie ihm doch das Gefühl, den tonnenschweren Traktor samt Pflug fast mühelos zu beherrschen. Und das tat er – seit ihn der Vater mit vierzehn das erste Mal hinter das Steuer gelassen hatte.
Sascha konnte sich noch immer an dieses unglaubliche Gefühl erinnern, das ihn damals überkommen hatte, so, als wäre es erst gestern gewesen. Und an die Vorwürfe, die seine Mutter seinem Vater gemacht hatte, denn natürlich war sie ihnen eines Tages dahintergekommen. Danach hatten sie versucht, es vor ihr geheim zu halten, was ihnen aber nicht immer gelungen war.
Erst im letzten Augenblick sah er die Fahrradfahrerin, die plötzlich wie aus dem Nichts im rechten Außenspiegel aufgetaucht war. Abrupt bremste er ab und schaltete die Musik aus. Er hatte vor der Wende mehrmals nach links und rechts geblickt, aber niemanden gesehen. Was zum Teufel hatte sie dort zu suchen? Sascha hupte mehrmals energisch, aber die junge Frau bewegte sich nicht von der Stelle. Erst jetzt erkannte er sie. Wütend stieg er aus der Fahrerkabine.
»Verdammt noch mal, Tanja, warum fährst du denn so nah an den Pflug ran?«, herrschte er sie an. »Du hast doch gesehen, dass ich gerade umdrehe. Was glaubst du, was passiert, wenn ich dich beim Rückwärtsfahren erwische?«
Tanja Rohrbach blickte Sascha nur erschrocken an. Als er sah, dass sie leichenblass war, begann seine Wut zu schwinden. »Was machst du denn hier draußen?«, fragte er etwas versöhnlicher, obwohl er sich die Antwort darauf schon denken konnte.
Tanjas Augen begannen sich sofort mit Tränen zu füllen. Sie ließ das Fahrrad zu Boden fallen, rannte auf ihn zu und schlang beide Arme wie eine Ertrinkende um seinen Hals. »Bitte lass es uns noch einmal miteinander versuchen. Ich will nicht, dass es vorbei ist.«
Sascha erwiderte die Umarmung nicht, sondern stand einfach nur stocksteif da, unfähig, einen Muskel zu bewegen. »Es geht nicht«, sagte er schließlich leise.
»Warum denn nicht?«, schluchzte sie. »Du weißt doch, dass ich dich liebe.«
»Tanja«, begann er und versuchte, sich nicht zu grob aus ihrer Umarmung zu lösen. »Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass ich nichts Ernsthaftes will. Also hör auf, Dinge hineinzuinterpretieren, die es nie gegeben hat.«
»Aber Menschen ändern sich, wenn sie anderen Menschen begegnen. Wir hatten eine so wunderbare Zeit zusammen. Die kannst du doch nicht einfach wegwerfen.«
Sascha trat unvermittelt einen Schritt zurück. »Ich hab mich aber nicht geändert. Sieh das doch endlich ein. Es ist vorbei.«
»Wie kannst du nur so eiskalt sein? Wie kannst du mir das nur antun?«
»Ich bin nicht eiskalt, sondern nur ehrlich. Das war ich von Anfang an. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe und fahr nach Hause.« Die anfängliche Wut war zurückgekehrt, und ohne eine Antwort von Tanja abzuwarten drehte er sich um und ging zum Traktor zurück.
»Doch«, hörte er sie plötzlich schreien, »du bist eiskalt! Sonst würdest du mich hier nicht so stehen lassen.« Sie sank wie ein Häufchen Elend neben ihrem Fahrrad auf die Straße und vergrub ihr Gesicht schluchzend in beiden Händen.
Sascha schüttelte resigniert den Kopf. »Geh nach Hause, Tanja. Ich muss weiterarbeiten.« Er wollte sie nicht in den Arm nehmen, weil er wusste, dass sie die Geste falsch verstehen würde.
Als er ins Führerhaus zurückgeklettert war, hob Tanja langsam den Kopf und blickte ihn aus tränenüberströmten Augen an. »Fahr du nur weiter«, stieß sie verzweifelt hervor. »Überfahr mich doch am besten gleich. Dann ist es wenigstens ganz vorbei. Eine hast du doch schon auf dem Gewissen.« Sie wusste genau, womit sie ihn am meisten treffen konnte, und sie wollte ihn verletzten, wollte ihm so wehtun, wie er ihr wehgetan hatte. Aber Sascha reagierte nicht auf ihre Worte, sondern knallte die Tür des Führerhauses zu.
*
Amelie Hartmann warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und begann, schneller in die Pedale zu treten. Der Pflegedienst würde in zwanzig Minuten kommen. Außerdem wollte sie Anna nicht so lange mit Laura alleine lassen.
Der April war ungewöhnlich warm und trocken. Auch heute schien die Sonne wieder kräftig vom tiefblauen Himmel und Amelie spürte, wie sich unter ihrem T-Shirt die ersten Schweißtropfen bildeten. Ihr Vater war schon seit den frühen Morgenstunden auf den Feldern und wollte bis zum Nachmittag durcharbeiten. Sie hatte ihm deshalb eine Brotzeit vorbeigebracht.
»Papa, du musst etwas essen«, hatte sie ihn eindringlich ermahnt, nachdem er die drei kleinen Plastikbehälter wortlos entgegengenommen hatte.
Wolfgang Hartmann hatte zuerst nur ein rüdes »Jaja« von sich gegeben, sich dann aber doch neben seine Tochter auf die ausgebreitete Picknickdecke gesetzt. Obwohl er anfangs keinen großen Appetit verspürt hatte, musste er zugeben, dass sich Amelie zu einer ausgezeichneten Köchin gemausert hatte und ihm die Pause gut tat. Auch wenn er am liebsten bis zum Umfallen gearbeitet hätte. Dann wäre es wenigstens vorbei und er müsste sich das Leid nicht jeden Tag von Neuem ansehen. Aber er hatte seiner Frau auf dem Sterbebett ein Versprechen gegeben und das durfte er nicht brechen – ganz egal, wie elend er sich selbst dabei fühlte. Verstohlen betrachtete er seine jüngere Tochter, die jetzt das Besteck und die Teller einsammelte.
Sie war schon immer sehr zierlich gewesen, aber in den letzten Wochen war sie regelrecht schmal geworden. Und so ruhig, so in sich gekehrt. Auch wenn seine Frau immer diejenige gewesen war, zu der die Mädchen kamen, wenn sie Kummer hatten, Hilfe in der Schule brauchten oder sich etwas kaufen wollten, wofür das Taschengeld nicht ganz ausreichte, hätte er nie gedacht, dass jemals so eine emotionale Distanz zwischen ihm und seiner Tochter entstehen würde. Er stellte plötzlich fest, dass Amelie seit Lauras Unfall kein einziges Mal vor ihm geweint hatte. Und dabei musste man sie nur anschauen, um zu spüren, wie zerbrechlich die Fassade war, die sie mühsam versuchte aufrechtzuerhalten. Er hätte sie so gerne getröstet, so gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber er fühlte wieder nur diese unglaubliche Leere und Müdigkeit.
»Gut hast gekocht«, hatte er deshalb unbeholfen versucht zu loben.
Amelie hatte ihn zaghaft angelächelt. Aber so gut wie bei der Mama wird es trotzdem nie schmecken, hatte sie in Gedanken hinzugefügt, es aber nicht gewagt, die Worte laut auszusprechen.
»Mama, du fehlst mir so.« Jetzt, alleine auf dem Fahrrad, durfte sie es sagen. Jetzt – da keiner sie hören konnte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, um den kühlenden Fahrtwind ganz bewusst wahrzunehmen. Anna hatte gesagt, dass die Liebe ihrer Mutter wie der Wind sei – immer zu spüren, auch wenn sie sie nicht sehen konnte.
Amelie war so in Gedanken versunken, dass sie die auf der Straße sitzende Gestalt erst bemerkte, als sie schon beinahe an ihr vorbeigefahren war. Sie bremste das Fahrrad scharf ab.
»Ist Ihnen etwas passiert? Brauchen Sie Hilfe?«, fragte sie besorgt.
Zu ihrem großen Widerwillen erkannte sie in diesem Augenblick Tanja Rohrbach. Sofort spürte sie, wie der vertraute Zorn in ihr aufstieg, und am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht und Tanja einfach dort sitzen gelassen. Aber irgendetwas war heute anders. Vielleicht war es Tanjas Gesicht, das sonst immer perfekt geschminkt, jetzt aber verquollen und mit Wimperntusche verschmiert war. Oder das verzweifelte Weinen, das ihren schmalen Körper regelrecht durchschüttelte.
»Nein«, schluchzte sie, »mir kann niemand helfen.«
Amelie folgte Tanjas Blick und wusste sofort, wer der Auslöser für ihre Stimmungslage war. Sascha Eichinger hatte den Traktor mittlerweile am unteren Ende des Felds gewendet und kam jetzt direkt auf sie zu. Ihre Blicke begegneten sich für den Bruchteil einer Sekunde und Amelie spürte plötzlich Übelkeit in sich aufsteigen. Sie zwang sich, ein paarmal tief durchzuatmen.
»Komm, Tanja, steh auf«, sagte sie dann. »Lass uns zusammen nach Hause fahren.« Amelie wunderte sich selbst, wie ruhig und beherrscht sie klang.
»Aber ich kann ohne ihn nicht mehr leben«, flüsterte Tanja, ehe sie langsam aufstand und sich mit einer unbeholfenen Geste die Tränen aus dem Gesicht zu wischen versuchte.
»So etwas darfst du nicht einmal denken! Das ist dieser Typ nicht wert. Sag so etwas nie wieder, hast du mich verstanden?« Amelie hätte sie am liebsten an den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt.
»Aber warum behandelt er mich denn nur so?«
»Weil er ein verdammter Scheißkerl ist, der ohne nachzudenken auf den Gefühlen anderer herumtrampelt«, stieß Amelie heftig hervor. »Hier hast du ein Taschentuch.«
Tanja schien einen Moment mit sich zu ringen, nahm dann aber doch das angebotene Taschentuch und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase. Amelie hatte plötzlich das Gefühl, einem kleinen Mädchen gegenüberzustehen, das sich beide Knie aufgeschlagen hat, und eine ungewohnte Welle des Mitleids überkam sie.
»Jetzt nimm dein Fahrrad und komm mit mir nach Hause«, sagte sie sanft.
Amelie wollte eine Konfrontation mit Sascha unbedingt vermeiden. Außerdem sagte ihr ein Blick auf die Uhr, dass sie sich beeilen musste. Das Geräusch des Traktors wurde immer lauter. Tanja umklammerte den Lenker des Fahrrads so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Aber sie riss sich zusammen und schaffte es tatsächlich aufzusteigen und loszufahren.
Amelie eilte zu ihrem eigenen Fahrrad, drehte sich aber noch einmal kurz zu Sascha um. Ihre Augen trafen ungewollt die seinen, und der Hass drohte sie für einen Augenblick zu überwältigen.
»Eines Tages wirst du dafür büßen«, murmelte sie leise.
*
Sascha hatte eigentlich nicht hinsehen wollen, aber Amelies graugrüne Augen zogen ihn wie ein Magnet an. Er spürte ihren hasserfüllten Blick wie tausend kleine Nadelstiche auf der Haut. Die Verachtung, die sie ihm entgegenbrachte, ging ihm durch Mark und Bein. Er wandte sich ab.
Ich bin nicht schuld …