Читать книгу Vergiss mein nicht! - Kasie West - Страница 10

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6.

NORMALisierung, die – Reduzierung auf einen normalen Zustand

Mein Dad kommt Freitagnachmittag kurz nach fünf nach Hause. »Tut mir furchtbar leid, Addie.«

Ich quäle mich aus meinem Sessel und lande als Häufchen Elend auf dem Boden.

»So schlimm?«

Ich drehe mich auf den Rücken. »Ich kenne niemanden, ich hab kein Auto und du lässt mich im Stich.«

»Hattest du keine Lust auf den Film, den ich ausgeliehen habe?« Er zeigt auf den Fernseher und diesen riesigen Player, den er am Abend zuvor angeschlossen hat.

»Ich hab’s nicht geschafft herauszufinden, wie man das blöde Ding bedient. Da sind bloß jede Menge Knöpfe mit Drei- und Vierecken.«

Er lacht. »Tja, der lässt sich nicht einfach mit Stimme aktivieren. Ich zeig es dir später. Ist gar nicht so schwer. Aber jetzt hab ich erst mal ein Friedensangebot.« Aus seiner Hosentasche zaubert er zwei Papierstreifen hervor.

Ich setze mich auf. »Wofür sind die?«

»Eintrittskarten. An deiner neuen Schule findet heute Abend ein Football-Spiel statt.«

Ich bin an dem Punkt angelangt, an dem selbst Football annehmbar klingt. »Wann?«

»Anpfiff ist um sieben.« Er setzt sich auf das Sofa.

Ich lasse mich neben ihn plumpsen und stupse mit einem meiner Füße sein Bein an, während er sich ins Polster lehnt.

Er zieht an meiner Socke, bis sie lose über meinem große Zeh hängt. Dann starrt er mich an und wartet, wie lange ich es schaffe, sie so zu lassen. Ich zähle bis zwanzig und beweise ihm, dass es mich kein bisschen stört.

»Du nervst«, sage ich und ziehe meine Socke wieder hoch.

Er lacht und gibt meinem Knöchel einen Klaps. »Wie läuft es mit deiner Vorgeschichte? Wirst du am Montag in der Schule klarkommen?«

»Ich glaube, ich hab alles im Griff.«

»Soll ich dich kurz abfragen?«

»Bitte.«

Er strafft die Schultern, hebt sein Kinn und nimmt dabei das ein, was er vermutlich für eine Lehrerpose hält. »Willkommen bei uns, Addie Coleman. Von woher kommst du?«

»Jackson, Texas. Das liegt ungefähr fünf Stunden südöstlich von hier entfernt und eine halbe Stunde von San Antonio. Wenn ihr hinfahren würdet, würdet ihr ein winziges Städtchen vorfinden, das von einer Gebirgskette umgeben ist. Diese Gebirgskette ist allerdings in Wirklichkeit bloß eine Täuschung. Tatsächlich steckt dahinter eine große Stadt voller Menschen mit besonderen geistigen Fähigkeiten.« Ich lache. »Wie wär’s damit?«

Er verzieht keine Miene.

»Ach, komm schon. War doch bloß ein Scherz.«

»Addie. Damit scherzt man nicht. Du darfst niemandem vom Sektor oder von deiner Gabe erzählen. Absolut niemandem. Das Sektor-Sicherheitskomitee unternimmt gewaltige Anstrengungen, die Existenz der Paranormalen geheim zu halten. Und wenn sie jemals herausfinden sollten, dass du …«

»Ja, ich weiß.« Natürlich wusste ich das. Wir hatten noch ein Konsilium im Tower, bevor wir den Sektor verlassen durften. Aber für mich war das eigentlich mehr Gerede als reale Handlungsanweisung gewesen. Ich hatte nicht erwartet, dass mein Dad so streng sein würde. Natürlich werde ich meine Talente nicht in der Schule herumposaunen, aber dass ich nie jemandem etwas erzählen darf ... wirklich niemals ... dieser Gedanke ist hart. Ich hatte mich bis jetzt noch nie verstellen müssen.

Mein Dad hat noch immer diesen strengen Blick aufgesetzt. Ich stupse sein Bein mit meinem Fuß an. »Entspann dich. Ich werde niemandem etwas erzählen. Mach weiter mit dem Test. Stell mir noch eine Frage.«

»Okay. Warum bist du hierhergezogen?«

»Weil mein Dad hier arbeitet.« Ich will gerade sagen, als menschlicher Lügendetektor, kann mich aber noch beherrschen. Ganz offensichtlich ist er nicht in der Laune, über dieses Thema zu scherzen. Das Herumblödeln hatte mir ein bisschen die Angst genommen und nun fühle ich den Ernst der Lage schwer auf den Schultern lasten.

»Hast du Hobbys?«, fragt er, immer noch im Lehrermodus.

»Lesen ... hauptsächlich.«

»Gut. Das wirst du problemlos schaffen.«

»Glaubst du, dass das alles ist, was sie mich fragen werden?«

»Ich bin mir sicher, dass sie dir mehr Fragen stellen werden, aber so wie es klingt, hast du deine Story tatsächlich verinnerlicht.« Um seine Mundwinkel bilden sich besorgte Falten. »Geht es dir gut?«

Nein. »Ja, mir geht’s gut. Es ist nur so neu für mich. Das ist alles.«

Ich weiß, dass er mir nicht glaubt. Er ist schließlich der Lügendetektor hier, aber trotzdem sagt er: »Wenn die Schule erst einmal angefangen hat, wird’s dir besser gehen und du wirst merken, dass das mit der Vorgeschichte keine große Sache ist.«

»Ja, wahrscheinlich. Ich mach mich dann mal für das Football-Spiel fertig.«

Ich schließe mich im Badezimmer ein und lehne mich an das Waschbecken. Meine Gabe war mein ganzes Leben. Sie war früher als bei den meisten aufgetaucht – Anfang der sechsten Klasse. Aber selbst vorher, von klein an, hatte meine Mom ständig meine Stärken katalogisiert und meine Denkstrukturen getestet, um herauszufinden, wozu ich mich hingezogen fühlte. Ohne mein Talent weiß ich nicht mehr, wer ich bin.

Ich fische mein Handy aus meiner Hosentasche und wähle Lailas Nummer. Beim zweiten Klingeln hebt sie ab.

»Hey, was gibt’s?«, fragt sie.

»Ich muss so tun, als sei ich Durchschnitt.«

»Das ist ja furchtbar!«, sagt sie mit gespielter Empörung.

»Es ist furchtbar. Du weißt, was das bedeutet, oder? Alle werden denken, ich sei ... normal. Mein Talent ist das, was mich halbwegs cool macht. Ohne bin ich ein Niemand.«

»Ach bitte. Du bist nicht Durchschnitt – mit oder ohne dein Talent.«

Ich schließe den Toilettendeckel und setze mich hin. »Worüber soll ich mich mit den Leuten denn unterhalten? Das Wetter? Das hab ich schon versucht und es ging daneben. Ich bin erledigt.«

»Hast du gehört, was ich eben gesagt habe?«

»Ja, aber ich glaube dir nicht, weil du mich nur mit meiner Gabe kennst. Du hast mich schon ziemlich lange nicht mehr ohne meine Fähigkeit gesehen. Mein Ich ohne meine Gabe ist langweilig, weinerlich und banal.«

»Auch mit deinem Talent kannst du ganz schön weinerlich sein.«

»Wie hilfreich.« Ich ziehe an der Schnur, die an der Jalousie neben mir hängt. Scheppernd bewegt das Rollo sich nach oben und ich fahre erschrocken zusammen. Nachdem ich ein paar Mal versucht habe, am unteren Ende zu ruckeln, gebe ich auf. Ich kann mich nicht erinnern, wie man sie wieder nach unten bekommt.

»Noch mal, damit ich dich richtig verstehe: Wenn ich kein Talent hätte, würdest du mich nicht mögen?«

Ich seufze. »Natürlich würde ich dich mögen. Aber das liegt daran, dass du offen deine Meinung sagst und sie auch durchsetzt und dich kein bisschen darum scherst, was der Rest der Welt denkt.«

»Klingt, als sei ich eine Hexe.«

»Ich weiß, aber nicht vom Thema ablenken. Das hier ist mein Nervenzusammenbruch.«

»Addie, komm schon, normalerweise macht es dir doch auch nichts aus, was die anderen denken. Was ist los?«

»Meinetwegen können die Leute mich für einen eigenbrötlerischen Bücherwurm und Kontrollfreak halten, denn das bin ich nun mal. Ich hab nur ein Problem, wenn das falsch interpretiert wird.«

Sie lacht kurz auf. »Tja, ich bin mir ganz sicher, dass es sich schon früh genug herausstellen wird, was du bist und was nicht. Ich muss aufhören. Ich will gleich noch weggehen.«

Ich nehme mein Handy vom Ohr, um nachzusehen, wie spät es ist. »Ja, ich auch. Football-Spiel. Ich sollte mal lieber unter die Dusche.«

»Moment. Du gehst zu einem Football-Spiel?«

»Mein Dad hat Karten besorgt.«

»Wow. Tja, das wird deinen Ruf nicht gerade verbessern.«

»Haha.«

»Ich bin stolz auf dich. Finde heraus, wo der Block für die Schüler ist, und sieh zu, dass du ein paar Leute kennenlernst.«

Ich wünschte, sie könnte mitkommen, und am liebsten möchte ich ihr das auf nicht gerade würdevolle Art und Weise vorheulen, aber ich verkneife es mir. »Ich versuch’s.«

Mein Dad und ich sitzen auf den kalten Zementbänken im Stadion und schauen uns das Spiel an. Es ist sehr viel lauter, als ich es in Erinnerung habe. Das Krachen der Helme und das Jubeln der Menge hallen in der Luft wider. Der Mond steht über dem Stadion, eine schmale Sichel am Himmel. Ich versuche, mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal den Mond in irgendeiner anderen Form als voll gesehen habe.

»Enttäuscht?«, fragt mein Dad.

»Überhaupt nicht«, antworte ich schnell und dann erst wird mir klar, dass er sowohl das Spiel als auch den Mond gemeint haben könnte. Ich beschließe, dass die Antwort auf beides zutrifft.

»Addie, warum setzt du dich eigentlich nicht in den Schülerblock? Sieht so aus, als hätten die viel mehr Spaß.«

Ich schaue zum Schülerblock hinüber, Reihen voller Highschool-Kids, die jubeln und Plakate hochhalten. Einige haben sogar ihre Oberkörper mit den Schulfarben bemalt. Ich frage mich, wie sie so begeistert sein können, ohne jeden Stimmungscontroller, der die Emotionen anschürt. Mein Dad stößt mich leicht mit seiner Schulter an.

»Ich kenne niemanden.«

»Und das wird sich auch nicht ändern, wenn du es nicht versuchst.«

»Ich will dich nicht hier alleine lassen.«

Er grinst. »Ich bin schon groß.«

Der relativ kalte Abend – wenn man bedenkt, wie heiß es während des Tages war – jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Nach einem weiteren Stoß stehe ich auf und gehe rüber. Mein Dad weiß ganz genau, wann er mir einen Schubs geben und wann er mich in Ruhe lassen muss. Ich brauchte den Schubs.

Im Schülerblock ist es ziemlich voll und ich quetsche mich durch die Reihen weiter nach unten. Unbekannte Gesichter tauchen auf, um gleich wieder zu verschwinden, nur die auffälligsten Merkmale bleiben ein oder zwei Momente hängen – knallrote Haare, eine große Nase, grüne Augen, eine Zahnlücke in einem lächelnden Gesicht. Endlich finde ich einen freien Platz neben einem Typen in Cowboystiefeln und einer gefütterten Jeansjacke. Er hat seine Hände in den Taschen vergraben und verfolgt das Spiel angespannt.

»Entschuldige, ist der Platz frei?«

Er sieht auf. Lange Wimpern umrahmen schokobraune Augen. »Nein, setz dich ruhig«, sagt er in dem singenden Tonfall, der hier im Süden gesprochen wird.

Ich setze mich. »Danke. Und können wir das gleich hinter uns bringen? Deine Wimpern treiben meine vor lauter Scham noch zum Selbstmord.«

Ja. Small Talk ist nicht meine Stärke.

Er lacht.

»Ich bin mir sicher, dass du das schon öfter gehört hast.«

»Aber noch nie so ...« Er sieht sich um. »Bist du alleine hier?«

»Na ja, wie man’s nimmt. Mein Dad sitzt da drüben.« Ich deute mit meinem Kopf in seine Richtung. »Und du?«

»Nein. Siehst du diese Idioten vor uns?« Er zeigt auf das Geländer unten, vor dem mehrere Typen mit nackten angemalten Oberkörpern und Perücken auf dem Kopf stehen. »Das sind meine Freunde.«

Seine Freunde machen sich total lächerlich – und er nicht. Das verrät mir alles über ihn, was ich wissen muss: Er ist kein Mitläufer, er kann eigene Entscheidungen treffen und er hat überhaupt keine Problem damit, hier allein zu sitzen. »Warum machst du nicht mit?«

»Weil eine Schicht Farbe meine Fettschicht nicht besonders gut kaschiert.«

Ich mustere ihn kurz. Eigentlich sieht er ganz fit aus, aber mit seiner Jacke ist das schwer zu beurteilen. Mein Blick wandert zurück zu seinen Freunden. »Vorteilhaft sieht das bei ihnen auch nicht aus«, bemerke ich.

Er lächelt. »Außerdem ist es heute Abend kalt.«

»Da ist eine Fettschicht ja nicht das Schlechteste.«

»Stimmt.« Ein Pfiff ertönt und er widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Spielfeld. Der Quarterback schnappt sich den Ball und sofort überrollt ihn ein harter Angriff, kurz vor der Dreißig-Yard-Linie. Ich ziehe die Luft zwischen zusammengepressten Zähnen ein.

»Ich heiße übrigens Trevor«, sagt er jetzt, als das Spiel stoppt.

»Addie.«

»Addie?«

»Ja, Kurzform für Addison.«

»Gehst du auch hier zur Schule, Addison?«

Mir wird durch seine Frage klar, wie groß die Schule sein muss. An meiner alten Schule habe ich vielleicht nicht jeden mit Namen gekannt, aber ein neues Gesicht hätte ich immer erkannt. »Mein Vater und ich sind gerade hierhergezogen. Ich fange Montag mit der Schule an.«

»Ah, toll. Willkommen in Dallas.«

»Danke.«

»Bist du in der Abschlussklasse?«

»Eine davor. Und du?«

»In der Abschlussklasse.« Sein Blick wandert zurück zum Spiel.

Ich werde auf etwas am Spielfeldrand aufmerksam. Ein Mann in einem riesigen Pumakostüm umkreist die Cheerleader. An der Lincoln High haben wir auch ein Maskottchen – einen Blitz. Und ich hab gehört, dass dank der Illusionisten die meisten Heimspiele tatsächlich eine Lichtshow bieten (wahrscheinlich um von dem langweiligen Spiel abzulenken).

Ich zucke zusammen, als das Spiel wieder stoppt, die Spieler brutal ineinander verkeilt.

»Magst du kein Football?«, fragt Trevor.

»Ehrlich gesagt, mag ich es lieber so. Ist aufregender.«

»Aufregender als ...«

»Äh, als Flagfootball«, sage ich und bin stolz, dass ich so schnell auf diese Variante gekommen bin. Die Sache mit dem Sektor, von wegen, dass einem nichts herausrutschen darf, wird schwerer werden als gedacht. Schließlich war es mein ganzes Leben.

»Du hast dir schon mal ein Flagfootball-Spiel angeschaut?«

»Eigentlich nicht, aber du musst doch zugeben, dass das hier aufregender ist.«

»Viele Dinge sind aufregender als Flagfootball.«

»Stimmt.«

Das restliche Spiel verbringen wir in angenehmem Schweigen, das nur von wenigen Kommentaren unterbrochen wird. Am Ende habe ich seine abweisende Haltung angenommen: Die Hände tief in den Taschen und die Schultern zum Schutz gegen den Wind hochgezogen. Das Spiel wird abgepfiffen und seine Freunde stürmen herauf; eine chaotische Truppe bemalter Typen. Ich will mich davonmachen, aber einer von ihnen hält mich mit einem lauten »Hi, wer bist denn du?« auf.

Ich will schon antworten, aber Trevor ist schneller. »Leute, das ist Addison. Sie ist neu hier.«

»Addie genügt«, sage ich, aber meine Stimme geht in dem großen Hallo völlig unter.

Er nennt diverse Namen. Um mir Namen merken zu können, helfe ich meinem Gedächtnis normalerweise auf die Sprünge, indem ich den Namen der Person mit einem ihrer Körpermerkmale verknüpfe. Aber da alle voller Farbe sind, werde ich mich nach heute Abend mit Sicherheit nicht mehr daran erinnern können, wer wer war. »Nett, euch kennenzulernen. Wir sehen uns sicher Montag.« Wieder versuche ich zu gehen. Derselbe Typ, der mich gerade eben aufgehalten hat – Rowan, der mit den roten Farbstreifen im Gesicht –, hält mich noch einmal zurück und sagt: »Nach dem Spiel machen wir alle Party bei Trevor. Du solltest auch kommen.«

Ich hab wirklich keine Lust, mit einem Haufen Normalo-Typen zu feiern, die ich nicht kenne. Ich werfe einen Blick auf die Uhr meines Handys. Halb zehn. Noch zu früh, um vorzugeben, müde zu sein, oder zu behaupten, dass ich nach Hause muss.

»Hattest du nicht gesagt, dass dein Dad dich heute Abend beim Auspacken braucht?«, fragt Trevor.

Ich bin verblüfft. War meine Körpersprache tatsächlich so offensichtlich?

»Ja, genau. Eigentlich soll ich ihn gerade in diesem Moment treffen. Nächstes Mal?«, sage ich zu Rowan.

»Ganz bestimmt.«

Ich ziehe mich langsam zurück. Danke, forme ich stumm mit den Lippen in Trevors Richtung. Die anderen albern herum und sind abgelenkt.

Er nickt. »Wir sehen uns Montag.«

Vergiss mein nicht!

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