Читать книгу Vergiss mein nicht! - Kasie West - Страница 11
ОглавлениеPARAlogisieren – unlogische Schlussfolgerungen ziehen, die auf Annahmen beruhen
Ich starre auf die zwei Türen. Sie sehen beide so echt aus. Aber ich weiß, dass eine von ihnen eine Täuschung ist, die ein Illusionist mir vorgaukelt. Sobald ich herausgefunden habe, welche von beiden die richtige ist, muss ich sie öffnen. Dahinter sitzt Mrs Stockbridge und hat auf ihrem Tablet vermutlich schon die Zensurenrubrik aufgerufen. Die Vorstellung, wie sie gleich das fette F eintippen wird, hilft meiner Konzentration nicht gerade auf die Sprünge. Ich brauche eine gute Note in diesem Kurs, weil ich Gedankenübertragung verbockt habe. Ich frage mich, ob sie das F rot markieren wird, um meine Unfähigkeit zu unterstreichen. Ich würde es tun.
Stopp. Konzentrier dich.
Im Kopf gehe ich den Lehrstoff über Täuschungen durch. Unregelmäßigkeiten im Bild. Ich lasse meinen Blick zwischen beiden Türen hin- und herwandern. Sie sind identisch. Wellen, Bewegungen oder Verschwommenheit auf einer sonst festen Fläche. Keine. Fadenscheinige oder durchsichtige Stellen. Beide Türen sind in meinen Augen aus solidem Holz gemacht. Meine Zeit läuft ab. Dann sehe ich ihn, einen kleinen schwarzen Schmutzfleck in der Mitte der einen Tür. Ich lächle und gehe auf die andere Tür zu. Ich strecke meine Finger nach dem Handflächenscanner aus, aber meine Hand greift ins Leere. »Mist.«
Nachdem ich durch die richtige Tür gegangen bin, schnalzt Mrs Stockbridge mit der Zunge und schreibt etwas auf ihr Tablet. Ihre Haarspange soll wohl ihre krausen roten Haare bändigen, aber sie lässt mehrere Haarsträhnen merkwürdig abstehen. Ich frage mich, ob ich nicht versuchen würde, mich anderen gegenüber immer von meiner besten Seite zu zeigen, wenn ich eine Illusionistin wie sie wäre.
»Begründung?«
Ich beantworte beinahe meine eigene hypothetische Frage, halte aber den Mund, als mir einfällt, dass sie ja nicht meine Gedanken lesen kann. »Wie bitte?«
»Warum haben Sie die Tür auf der linken Seite gewählt?«
»Ach so. Auf der echten Tür war ein schwarzer Fleck. Ich dachte, das würde auf eine Täuschung hinweisen«, gebe ich zu.
»Manchmal entlarvt Vollkommenheit die Täuschung, Addie, nicht die Wahrheit«, sagt sie. Ich nicke und geselle mich zu den anderen, die die Aufgabe schon hinter sich haben.
Ohne es zu wollen, bahnt sich eine Erinnerung einen Weg in mein Bewusstsein, füllt es aus und katapultiert mich in die Vergangenheit zurück. Ich bin ein kleines Mädchen, fünf Jahre alt. Mein Vater macht mit mir ein Picknick in einem wunderschönen Park beim See. Nachdem ich ein paar Minuten an meinem Sandwich herumgeknabbert habe, lege ich mich wieder auf die Decke. Plötzlich erscheinen über mir Tausende von bunten Schmetterlingen. Sanft schweben sie herunter, drehen sich, kreisen wie fallende Blätter. Jeden Moment werden sie auf mir, um mich herum landen. Ich kann schon fast die sanfte Berührung ihrer Flügel auf meiner Haut spüren. Lächelnd strecke ich meine Hand aus.
»Addie«, sagt mein Dad, »sie sind nur eine Täuschung.«
Ich setze mich hin und ziehe die Augenbrauen zusammen. »Sind sie nicht. Ich kann sie sehen.« Sie kreisen zwischen meinem Dad und mir, lassen seine Silhouette verschwimmen.
Ein alter Mann geht an uns vorbei und lächelt. »Ein Geschenk für die kleine Dame«, sagt er. Mein Dad winkt ihm höflich zu. Als er mitsamt seinen Schmetterlingen verschwunden ist, nimmt mich mein Dad bei den Schultern und streckt seinen Zeigefinger aus. Ein einzelner Schmetterling sitzt anderthalb Meter von uns entfernt auf einer Blume. Seine schlichten weißen Flügel bewegen sich langsam auf und ab. »Der ist echt, Kleines. Ist er nicht hübsch?«
Ich verziehe meinen Mund zu einem Schmollen. »Der ist langweilig.«
Ein schrilles Lachen weckt mich aus meinen Erinnerungen. Ich werfe einen Blick über meine Schultern und entdecke ein paar Mädchen, die offensichtlich gerade gelästert haben. Ich funkle sie an. Bin ich die Einzige, die bei diesem bescheuerten Test durchgefallen ist?
Beim Mittagessen braucht Laila mich nur einmal anzusehen und sagt: »Was für eine Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Wir sind auf dem Weg zur Freiluftbühne – unser Treffpunkt zum Essen – und ich gebe ein Grummeln von mir. »Ich bin heute beim Illusionstest durchgefallen.«
»Durchfallen ist doch total relativ.«
»Nein, ist es nicht. Entweder man besteht den Test oder man tut es nicht. Nichts daran ist relativ.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Aber deine anderen hast du mit Auszeichnung bestanden, was es ausgleicht.« Sie setzt sich auf die Steinbühne und lässt ihre Füße baumeln. »Aus diesem Grund ist es also doch relativ.« Sie weist mit ihrem Kopf zur Seite. »Setz dich.«
Sie so ruhig zu sehen, bringt mich auf den Gedanken, dass ich total überreagiert haben könnte. Ich neige dazu. Ich atme tief ein, wühle in meinem Rucksack nach meinem Essen und springe dann zu ihr auf die Bühne. Der Rasen ist halbmondförmig um die Bühne angelegt und bald ist es voll hier.
Als ich meine Tüte mit Kartoffelchips öffne, beugt sich Laila vor. »Diese Bühne ist nicht besonders hoch, oder?«
Was meint sie damit? Ich folge ihrem Blick nach unten. »Vermutlich nicht.«
»Es würde also nicht besonders wehtun, wenn man jemanden hier runterschubst?«
Ich schaue nach links, wo ein paar andere mit ihrem Lunch auf dem Schoß und baumelnden Beinen am Bühnenrand sitzen. »Wer soll denn wen ...« Bevor ich den Satz beenden kann, packt sie mich beim Arm und schmeißt mich von der Bühne. Ich schnappe entrüstet nach Luft und frage mich, was zum Teufel diese Aktion bezwecken sollte. Ich brauche nicht allzu lange zu grübeln, denn im nächsten Moment fällt Duke praktisch über mich.
»Alles in Ordnung?«, fragt er, als ich mein Essen aufhebe, das um mich herum verteilt ist.
»Ja.« Ich stopfe mein Sandwich und meine Kartoffelchips in meine eingerissene Lunchtüte und richte mich auf.
»Addie«, ruft Laila mit vorgetäuschter Sorge. Sie springt zu mir herunter. »Bist du verletzt? Wie ist das passiert?« Aber ihre »Besorgnis« wird sofort von einem Lächeln abgelöst, das Duke gilt. »Hey Duke, wir haben dich gar nicht gesehen.«
Wohl eher, ich habe ihn nicht gesehen. Laila hat ihn ja ganz offensichtlich schon aus einer Meile Entfernung entdeckt.
Ray bückt sich und hebt meine Wasserflasche auf, die gegen seinen riesigen Fuß gerollt ist. Ganz im Ernst, er muss mindestens Schuhgröße achtundvierzig haben. Der Typ ist ein Hüne. »Hier«, sagt er und reicht sie mir.
»Danke.«
»Wo wollt ihr zwei hin?«, fragt Laila.
Duke deutet in Richtung Parkplatz. »Raus hier.«
»Wirklich?«, sagt Laila, als wäre das ein Riesenzufall. »Wir wollten gerade los, um etwas aus meinem Auto zu holen. Macht es euch etwas aus, wenn wir uns anschließen?«
Ich könnte Laila auf der Stelle umbringen. Wenn ich bloß irgendeine Waffe zu fassen bekäme – ein Schuh mit Größe achtundvierzig würde reichen.
»Natürlich nicht.«
Und selbstverständlich drängt sich Laila zwischen Duke und Ray, sodass mir keine andere Wahl bleibt, als die Seite von Duke einzunehmen. Nach nur wenigen Schritten hat Laila es geschafft und Ray in ein Gespräch verwickelt, das so leise abläuft, dass Duke und ich uns selbst überlassen sind. Ein unbehagliches Schweigen entsteht.
»Tut mir leid«, sage ich irgendwann, denn für alle, die nicht totale Idioten sind, ist es ziemlich offensichtlich, was Laila da gerade macht.
»Mir nicht. Jetzt brauche ich mir keine Ausrede einfallen zu lassen, um dich anzusprechen.«
Ich bin verwirrt. »Haltet ihr Jungs nicht zusammen?« Ich hab keine Ahnung, warum ich das gesagt habe; es ist mir einfach rausgerutscht, aber ich kann es nicht mehr zurücknehmen.
»Was meinst du damit?«
Jetzt muss ich es erklären und darauf habe ich überhaupt keine Lust. Ich lasse mich für einen Moment von einem Rucksack ablenken, der vor mir durch die Luft schwebt. Irgendwann landet er in den Armen seines Besitzers und ich wende mich Duke zu, der auf meine Antwort wartet. »Bobby und du, ihr seid doch gute Freunde.«
»Ja.«
»Bobby hat mich gefragt, ob ich mit ihm zum Ehemaligenball gehen will.«
»Und du hast Nein gesagt.«
»Habt ihr da nicht irgendeine Regel, von wegen, wenn dein bester Freund auf ein Mädchen steht, ist sie für dich tabu?«
»Wenn jedes Mädchen, auf das Bobby steht, für mich tabu wäre, könnte ich ja nie ausgehen. Die einzigen Mädchen, bei denen ich mich zurückhalte, sind die, die er schon geküsst hat. Du hast ihn doch noch nicht geküsst, oder?«
»Nein!« Jedenfalls nicht im echten Leben. In der Vorhersage schon, aber das wusste Bobby ja nicht. Ich spüre, wie mein Gesicht knallrot wird.
Duke zieht die Augenbrauen zusammen. »Bist du dir ganz sicher?«
»Ja, da bin ich mir sicher. Ich habe ihn nicht geküsst.«
»Tja, dann passt es ja. Keine Jungs-halten-zusammen-Regel.«
Ich bemühe mich, so gut ich kann, mich nicht geschmeichelt zu fühlen, aber es fällt mir schwer. Hey, das hier ist Duke Rivers! Er lächelt und ich ertappe mich, wie ich zurücklächle.
»Was muss ich machen, damit du zu einem meiner Spiele kommst?«
»In einem Team von Normalen spielen«, sage ich, ohne nachzudenken.
Er legt seinen Kopf schief. »Im Ernst? Darum geht es also die ganze Zeit? Du hältst nichts davon, dass Leute ihre Talente benutzen, um beim Sport zu gewinnen? Bist du Naturalistin? Sollten wir uns mit den Normalen zusammenschließen?«
Wir umrunden ein Ziegelsteingebäude und biegen in einen breiten Weg Richtung Parkplatz ein. »Nein, überhaupt nicht. Ich halte Talente für wichtig. Die Menschen können sie nutzen, um ihr Leben in vielen Belangen voranzubringen. Meine Gabe hat mir geholfen. Ein Leben ohne kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber Para-Football, ich finde das einfach nur langweilig.«
»Autsch. Du willst also beim Spiel mehr Spieler sehen, die sich gegenseitig über den Haufen rennen? Ist es das? Moment mal«, sagt er, bevor ich ihm eine Antwort geben kann. »Willst du damit sagen, dass du regelmäßig Norm-Football guckst?«
»Nicht regelmäßig.«
»Das wird ja immer schlimmer. Sag mir eins: Hast du mich je spielen sehen?«
Ich massiere meine Stirn. Die Beule ist schon lange verschwunden, aber ich stöhne noch einmal, um ihm eins auszuwischen.
Er lacht und boxt mich mit dem Ellenbogen in den Arm. »Das zählt nicht. Ich meine, in einem Spiel.«
»Nein, ich bin das letzte Mal in der Neunten bei einem gewesen.«
Wieder dieses ansteckende Lächeln. »Mein Ego profitiert nicht gerade von dir.«
»Ich finde, es profitiert sogar sehr.« Ich lächle honigsüß.
»Addie, du bist nicht wie die anderen, oder?«
Unverschämtheit. Ich versuche ihn mit meiner Schulter in den Arm zu boxen, so wie er es eben bei mir getan hat. Nur funktioniert das nicht und der Versuch allein lässt mich fast stolpern.
Er streckt seine Hand aus. »Alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich blicke mich um, als suchte ich nach dem Gegenstand, der mich zum Stolpern gebracht hat.
»Inwiefern hat dein Talent dir geholfen?«, fragt er.
»Was?«
»Du hast vorhin gesagt, dass du es völlig in Ordnung findest, wenn Menschen ihre Talente benutzen, um voranzukommen. Deins hätte dir schon geholfen. Inwiefern?«
»Manchmal kann ich ausloten, in welchen Fächern ich besser bin, welche Projekte besser laufen. All so was.«
»Dann bist du also eine Hellseherin.«
»Ach so!« Ich bin überrascht, weil ich davon ausgegangen war, dass Bobby ihm von meiner Fähigkeit erzählt hatte. »Ja. So in der Art.« Eigentlich heißt meine Gabe Divergenz, was in verschiedenen Richtungen von einem gemeinsamen Punkt abweichen bedeutet. Es war eines der ersten Wörter, die ich damals nachgeschlagen hatte, als sich mein Talent zeigte. Aber ich habe keine Lust, Duke das zu erklären. Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, Leute zu korrigieren. Hellsehen gehört auch zu den Fähigkeiten, Zeit zu manipulieren, es passt also schon.
»Mit dieser Gabe hast du wahrscheinlich in deinem ganzen Leben noch keinen Fehler gemacht. Du weißt immer, was du willst.« Er blickt mir in die Augen.
Das stimmt größtenteils. Im Großen und Ganzen weiß ich genau, was ich will, und kenne die Schritte, mein Ziel zu erreichen, aber nicht unbedingt wegen meines Talents. »Ich lote nicht alles aus. Ich hab jede Menge Fehler gemacht. Aber du hast recht, viele ließen sich schon vermeiden.« Wie Bobby, wollte ich sagen.
»Hast du jemals mich ausgelotet?«
»Nein. Was dich betrifft, stand ich noch nie vor einer Entscheidung.«
Er bleibt ganz plötzlich stehen und ich muss hilflos zuschauen, wie Ray und Laila weitergehen. Duke stellt sich vor mich und dreht unseren Freunden den Rücken zu, die sich immer weiter entfernen. »Was wäre, wenn ich dich vor eine Wahl stellen würde? Wie lange würde es dauern, die Alternativen auszuloten?«
»Das hängt davon ab, worum es sich handelt«, sage ich, sofort nervös.
»Vielleicht will ich dich auf ein Date einladen.«
»Bloß nicht.« Ich umklammere die Riemen meines Rucksacks und wippe ein bisschen auf meinen Absätzen.
»Das ging schnell. Was ist beim Ausloten passiert?«
»Ich hab nicht nachgesehen. Wie ich schon sagte, ich brauche nicht alles auszuloten, um zu wissen, was ich will.«
Er kommt noch einen Schritt näher und beugt sich vor. »Ich meinte doch nicht jetzt sofort. Bloß irgendwann einmal.«
Mein Blick bleibt an seinen Lippen hängen und ein Prickeln läuft mir über den Nacken. »Ich habe eine Regel.«
»Und die wäre?«
»Ich küsse keinen Typen, der schon mehr als fünf Mädchen geküsst hat.«
Er zieht seine Augenbrauen hoch und ein Funkeln erscheint in seinem Blick. Mir wird klar, was ich eben gesagt habe. Ich werde knallrot.
»Ausgehen! Ich meinte ausgehen!«
Er bricht in ein tiefes, kehliges Lachen aus. »Das ist ja wohl die allerlächerlichste Regel, die ich je gehört habe. Hast du dir die eben gerade ausgedacht?«
Ich lache. Stimmt. Aber die Regel ist gut. Hätte ich sie schon gehabt, bevor ich Bobby kennengelernt habe, hätte mir das jede Menge Ärger erspart.
»Hab ich mir’s doch gedacht. Aber das ist in Ordnung. Behalte deine Regel ruhig. Sie trifft nicht auf mich zu.«
Ich erstarre, nicht ganz sicher, ob ich ihn richtig verstanden habe. Duke – der Duke – lässt durchblicken, dass er nicht mehr als fünf Mädchen geküsst hat? Oder vielleicht meinte er, dass er mit nicht mehr als fünf ausgegangen ist.
»So verblüfft, hmm?«
Ich nicke langsam.
»Duke!«, brüllt Ray von seinem Geländewagen aus, vor dem er und Laila stehen geblieben sind.
Duke hebt seine Hand zur Bestätigung, wendet seinen Blick aber nicht von mir ab. »Bleib dran. Ich stecke voller Überraschungen.« Er dreht sich um und geht. Ich schaue ihm hinterher und mir fällt auf, wie breit seine Schultern sind und wie selbstsicher er sich bewegt. Und da weiß ich, dass ich in echten Schwierigkeiten bin.