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3.

PARAdigma, das – etwas, das als Muster oder Vorbild dient

Sollte Kindern geschiedener Eltern nicht jeder Wunsch erfüllt werden, von wegen extremer Schuldgefühle auf beiden Seiten?«, frage ich beim Frühstück, eine Woche nachdem mein Dad ausgezogen ist. Das Haus fühlt sich anders an ohne ihn ... leer.

»Du bekommst kein neues Auto«, sagt meine Mutter von ihrem Platz am Küchentisch hinter ihrem Laptop. Ein Bleistift hält ihre blonden Locken in einem Knoten im Nacken zusammen und sie greift danach, um sich kurz etwas auf ihren Block zu notieren. Ihre Haare fallen ihr über die Schulter und erinnern mich daran, wie sehr sie meinen gleichen. Als ich gerade denke, dass sie mal wieder vergessen hat, dass wir uns unterhalten – was ihr oft passiert –, fügt sie hinzu: »Dein Auto fährt doch noch sehr gut.«

»Ich frage ja nicht, ob ich ein neues Auto haben kann. Bloß ein anderes. Meins fährt fast gar nicht mehr. Hast du dir mal die neusten Geräusche angehört? Klingt irgendwie nach einem Tock-tock-tock.«

»Sprich mit deinem Vater darüber.«

Ich nehme einen Löffel von meinen Kleieflocken mit Milch und beobachte, wie sie langsam wieder von meinem Löffel gleiten. »Wie schön. Wenigstens überspringen wir nicht den Probleme-werden-an-den-anderen-Elternteil-weitergegeben-Teil der Scheidung. Ich wusste doch, dass du mir nicht allen Spaß vorenthalten würdest.«

Mir ist klar, dass ich mich benehme wie ein verzogenes Kleinkind, aber ich kann nicht anders. Alle negativen Gedanken oder Widerstände gegen meine Mutter haben sich in meiner Brust gestaut wie eine fiese Bronchitis.

Zum ersten Mal seit Beginn unserer Unterhaltung sieht sie mich an. »Addie, jetzt mach mal einen Punkt. Ich meinte doch bloß, dass dein Vater mit seltsamen Autogeräuschen mehr anfangen kann als ich.«

Ich stehe auf, stelle meine Schüssel in die Spüle und schnappe mir meinen Rucksack. »Tja, ich würde Dad ja fragen, aber ich glaube nicht, dass mein Auto die fünf Stunden Fahrt bis zu seinem Haus schafft.«

»Wir werden das schon gemeinsam durchstehen«, ruft sie, als ich gehe.

»Und eines Tages wirst du begreifen, warum ich es getan habe«, beende ich ihren Satz für sie, während die Tür hinter mir zufällt. Ich hab keine Ahnung, wie oft sie diesen Spruch während der letzten Woche wiederholt hat. Wahrscheinlich hat sie gehofft, dass der »eine Tag« bei jedem Mal etwas näher rücken würde. Das Gegenteil ist der Fall.

Sobald ich in meinem Auto sitze, hole ich mein Handy aus der Tasche und wähle.

»Coleman«, meldet sich mein Dad.

Allein seine Stimme bringt mich zum Lächeln. »Haben die da draußen im Normland denn keine Anrufererkennung?«

»Doch, natürlich haben sie die.«

»Wie kommt es, dass du dich dann mit Nachnamen meldest, obwohl du weißt, dass ich es bin?«

»Gewohnheit. Wie geht’s?«

»Ganz gut. Mein Auto benimmt sich seltsam. Willst du mal hören?« Ich halte das Handy aus dem Fenster und drücke meinen Daumen auf das Starterfeld. Der Sitz und die Spiegel stellen sich automatisch auf mich ein und das Radio fängt an, meine vorprogrammierte Playlist zu spielen, die ich per Sprachsteuerung ausschalte. Aber der Motor springt stotternd an und kommt halbherzig auf Touren.

»Hörst du?«

»Ja, das klingt nicht gut. Ist es vollständig aufgeladen?«

»Ja.« Ich klopfe gegen das Armaturenbrett. Der grüne Balken, der normalerweise den Ladestand angibt, ist schon vor langer Zeit schwarz geworden. »Es hat die ganze Nacht geladen.«

»Hmm. Ich werde mal mit deiner Mutter darüber sprechen, okay?«

»Okay.«

Im Hintergrund höre ich eine halblaute tiefe Stimme und mein Dad sagt: »Danke, und hey, immer cool bleiben.«

»Hast du im Ernst gerade zu jemandem gesagt, dass er cool bleiben soll?«

»Warum auch nicht? Hier ist es heiß.«

Ich lache. »Wer war das?«

»Der Postbote. Hab gerade ein Päckchen bekommen. Aber egal, wir finden für dein Auto schon eine Lösung. Okay?«

»Ja. Ich sollte mal lieber los zur Schule. Bis spä... ich meine ...«

Ich kann den Satz nicht aussprechen. Bis in einem Monat zu sagen, das klingt falsch.

»Addie«, sagt mein Dad mit seiner weichen Stimme. »Es wird nicht lange dauern. Bevor du bis drei zählen kannst, sehen wir uns wieder.«

Ich murmle nur etwas und lege auf.

Auf dem Parkplatz der Lincoln High werfe ich einen Blick auf die Uhr auf meinem Armaturenbrett. Das Gespräch mit meinem Dad hat mich ein paar Minuten aus dem Zeitplan geworfen. Genau in dem Moment, als ich die Autotür öffne,knallt ein Football gegen meine Windschutzscheibe. »Willst du mich verdammt noch mal verarschen?«, fauche ich.

»Entschuldige«, sagt Duke und rennt los, um sich seinen Ball zu schnappen, der abgeprallt und eineinhalb Meter weiter geflogen ist.

»Gehst du irgendwo auch ohne das Ding hin?«

»Wenn ich keinen Football dabeihabe, könnte es sein, dass man mich nicht erkennt.«

Na klar! Ich schaue zu ihm hoch. Seine perfekten blonden Wuschelhaare und sein umwerfendes Lächeln strahlen mir entgegen. Hexy. War das nicht Lailas Wort gewesen? Passend, aber das werde ich ihr niemals sagen, sonst stirbt sie nachher noch an Selbstüberschätzung. Ich schnappe mir meinen Rucksack vom Boden der Beifahrerseite und steige aus. »Und das wäre ja eine Tragödie.«

Er lacht. »Ich hab bloß trainiert. Ziemlich großes Spiel, das da ansteht.«

»Tja, vielleicht solltest du lieber auf dem Platz trainieren, weit weg von allen Leuten. Deine Treffsicherheit lässt nämlich ein bisschen zu wünschen übrig.« Ich schultere meinen Rucksack und gehe.

»Ich treffe nie daneben, Addie«, ruft er mir hinterher.

Was sollte das nun wieder bedeuten? Dass er beim letzten Mal probiert hat, mir den Schädel zu zertrümmern? Und eben, hatte er es da auf meine Windschutzscheibe abgesehen? Was hatte ich ihm eigentlich getan?

Auf dem halben Weg zum Klassenzimmer holt Laila mich völlig außer Atem ein. Fragend ziehe ich eine Augenbraue hoch und fasse es nicht, dass sie gerannt ist, um pünktlich zu kommen.

Sie liefert mir eine Erklärung: »Heute kann ich mir Nachsitzen während der Mittagspause nicht leisten.«

»Niemand mehr da zum Flirten?«

»Stimmt sogar. Gregory hatte gestern seinen letzten Tag.« Ich verdrehe die Augen. »Wie nett, eine Person zur besten Freundin zu haben, die je nach Jungslage entscheidet, ob sie pfichtbewusst sein will oder unzuverlässig.«

»Großartig, dass du die Meine-Eltern-haben-sich-geradescheiden-lassen-und-deswegen-darf-ich-biestig-sein-wieich-will-und-alle-müssen-Verständnis-haben-Einstellung so gut unter Kontrolle hast.«

Ich lächle. »Tut mir leid, dass ich so biestig bin.«

»Ja, mir auch. Könntest du daran noch arbeiten? Das ruiniert mein soziales Leben.« Sie hakt sich bei mir ein und legt ihren Kopf auf meine Schulter. »Es tut mir leid, dass dein Leben so beschissen ist.«

»So beschissen ist es gar nicht. Ich war nur all die Jahre verwöhnt.«

»Ich weiß, deine Eltern haben dir einen miesen Dienst erwiesen, indem sie dir so eine tolle Kindheit ermöglicht haben.«

»Entschuldige.« Ich sage das, weil mir bewusst wird, wie egoistisch ich mich benehme. Lailas Elternhaus ist die Hölle und sie beschwert sich nie. Keiner wusste davon, dass ihr Vater wegen Drogenproblemen seinen Job verloren hat. Das gesamte Haushaltsgeld geht für seine Sucht drauf, während ihre Mutter die ganze Zeit schuftet, damit sie über die Runden kommen.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, sagt Laila: »Fang bloß nicht an mich zu bemitleiden. Du weißt, wie sehr ich das hasse.« Sie drückt meinen Arm und richtet sich dann auf. »Willst du am Freitag mit zu dieser Party? Ich verspreche auch, dir nicht von der Seite zu weichen.«

Mein Gehirn versucht schnell eine Ausrede auszuspucken, irgendeine Ausrede, aber ich weiß bereits, dass mein Freitagabend ganz und gar nicht verplant ist und dass ich eine furchtbar schlechte Lügnerin bin. »Na klar. Klingt nach Spaß.«

»Du bist die Königin des Sarkasmus, Süße, aber ich hol dich um neun ab, damit du mich nicht sitzen lässt.«

Ich öffne die Tür zur Morgenmeditation. »Was würde ich ohne dich bloß tun?«

»Wahrscheinlich dich verkriechen und vor lauter Langweile sterben.« Sie denkt kurz nach. »Nein, doch nicht, höchstwahrscheinlich hast du deinen Tod bereits in deinem Organizer eingetragen, in sechzig Jahren irgendwo zwischen Hausarbeit und Yoga.«

»In sechzig Jahren will ich lieber keine Hausarbeit mehr haben.« Ich steige in meine Kabine. Der kleine Flachbildschirm an der Wand leuchtet bei meinem Eintritt auf und die Abkürzung ATF – Amt für Talentförderung – erscheint in fett gedruckten Buchstaben. Genug eigentlich, um mir das Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, wenn da nicht noch die Sprecherin gewesen wäre, die als Nächstes erscheint.

Meine Mutter.

Sie entwickelt Programme für das ATF. Es kommt selten vor, dass sie morgens auf dem Bildschirm auftaucht. Es ist offensichtlich eine Aufzeichnung ihres lächelnden Gesichts, die abgespielt wird, und ich erfahre, dass sie ein neues Gedankenmodell einführen, das genau auf unsere jeweilige Talentoption abgestimmt ist. Sie macht nicht wirklich mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, aber ich kann sie in ihrer Stimme hören. Erwachsene legen oft Wert auf den Zusatz »Option«, wenn es um unsere Talente geht, so lange, bis wir unseren Abschluss gemacht und die Tests als offizielle Bewährungsprobe absolviert haben. Als wollten sie uns daran erinnern, dass wir noch nicht qualifiziert genug sind und sie immer noch brauchen, um unser volles Potential zu erreichen.

»Lehnt euch also zurück, entspannt euch und erweitert euren Verstand«, sagt das Gesicht meiner Mom.

Töne erklingen, während Bilder in rascher Abfolge über den Bildschirm flimmern. Ich lehne mich zurück. Entspannung kommt überhaupt nicht infrage.

Vergiss mein nicht!

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