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4.

NORMal – dem Standard entsprechend

Ich liege auf dem Sofa in unserem neuen Haus und starre auf den Deckenventilator, der sich langsam im Kreis dreht. Das ist sicher der ineffizienteste Weg, einen Raum zu kühlen. Ich sehne mich nach der Gegenstromklimaanlage in unserem Haus im Sektor. Mein Dad ist mit mir in ein möbliertes Mietshaus gezogen, in Dallas, Texas. Vom Zustand und Stil der Ausstattung her muss es vor vierzig Jahren eingerichtet worden sein. Abgesehen von den Uralt-Möbeln ist das Haus kahl – seine Wände sind weiß und leer.

Auf dem Boden um mich herum habe ich die Pflichtlektüre ausgebreitet, die ich beim Verlassen des Sektors ausgehändigt bekommen habe. Wenn man bedenkt, dass ich den halben Tag im Turm verbracht habe, bevor wir losgefahren sind – ich musste an einem vorgeschriebenen Norm-Training-Kurs teilnehmen, wurde über meine neue Vorgeschichte unterrichtet und erhielt Norm-Papiere wie Führerschein und Geburtsurkunde –, hatte ich nicht geglaubt, dass es noch irgendetwas geben würde, das in meinen Kopf passen könnte. Ich hatte mich geirrt. Zum Abschluss gaben sie mir noch Lesematerial mit – ein extra dickes Paket, das meine Norm-Geschichtskenntnisse auffrischen sollte.

Ich war nicht untätig geblieben, um diesem Roman von einer Hausaufgabe aus dem Weg zu gehen, verfasst von jemandem, der nicht ansatzweise vorhatte, das Ganze auch nur im Geringsten unterhaltsam zu gestalten. Ich hatte ausgepackt und mein Zimmer eingerichtet – bis hin zu den Klamotten, die ich nach Farben einsortiert hatte. Sogar die unausgepackten Kartons hatte ich durchforstet, auf der Suche nach meinem Bücherkarton, den ich ganz deutlich mit schwarzem Edding beschriftet hatte, um genau diese Situation zu vermeiden. Keine Ahnung, wo sich der Karton jetzt befindet. Wahrscheinlich irgendwo in der Garage unter den Hunderten von Kartons begraben, auf denen stehen sollte: »Dads Müll«.

Ich schnappe mir einen Teilabschnitt aus dem Paket Erster Weltkrieg und fange an zu lesen. Die Normalen glauben, dass Erzherzog Franz Ferdinand kein Paranormaler war. Sie machen eine politische Intrige für seine Ermordung verantwortlich und nicht die Tatsache, dass die Leute fürchteten, er könne sie mit seinem Verstand kontrollieren. Ich sage das ein paar Mal vor mich hin: »Der Erste Weltkrieg ist nicht wegen eines Paranormalen ausgebrochen.« Ich blättere noch ein bisschen durch die Kriegsgeschichte der Normalen, dann lege ich den Packen zur Seite, greife nach dem Abschnitt über die Raumfahrt und rufe mir ein paar seltsame Vorstellungen ins Gedächtnis, die sie hier über die Mondlandung haben.

»Langweilig«, stöhne ich. Meine Hand fängt an zu schwitzen, weil ich mein Handy damit fest umklammert halte. Ich weiß, dass Laila frühestens in einer Stunde anrufen kann, sie ist noch in der Schule, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie schwänzt. Wir haben seit gestern nicht mehr gesprochen.

Es klingelt an der Tür und ich falle praktisch über mein Lernmaterial, so eilig habe ich es aufzumachen. Die Sonne sticht in meinen Augen und ein stickiger, heißer Luftschwall schlägt mir ins Gesicht, als ich die Tür öffne.

Es ist der Postbote und er hält mir ein Klemmbrett entgegen. »Können Sie mir die Empfangsbestätigung für ein Päckchen unterschreiben?«

Ich stecke mein Handy in die Hosentasche und greife nach dem Klemmbrett. »Klar.« Ich kritzle meinen Namen in das Feld, auf das er deutet. Er reicht mir einen großen, wattierten Umschlag und macht sich wieder auf den Weg.

»Wie läuft’s denn so?«, platze ich heraus. »Alles cool?«

Er bleibt stehen. »Es ist Oktober. Jetzt fängt es an, bei uns kühl zu werden.« Er zwinkert mir zu.

»Im Ernst?«

»Du wirst dich dran gewöhnen. Willkommen in Dallas«, sagt er und geht.

»Danke.« Das Handy in meiner Hosentasche vibriert. »Hallo?«

»Vermisst du mich schon?«, fragt Laila.

Ich schließe die Tür. »Sagen wir einfach nur, dass ich so ausgehungert nach Kontakt bin, dass ich eben mit dem Postboten Small-Talk betrieben habe.«

»War er denn süß?«

»Wahrscheinlich war er fünfzig.«

»Igitt.«

Ich werfe einen Blick auf den wattierten Umschlag in meiner Hand. Er ist an meinen Dad adressiert und ohne Absender. Ich gehe in die Küche und fahre ungeduldig mit meinen Händen durch die Luft, als die Lichter nicht sofort angehen. Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass sie nicht von alleine aufleuchten. Ich werfe den Umschlag auf die Küchentheke und laufe wieder zurück, ohne nach dem Lichtschalter zu suchen. »Ich will nicht rummeckern, aber solltest du nicht im Unterricht sitzen?«

»Ja, wahrscheinlich schon, aber ich unterhalte mich lieber mit dir. Ist nur Gedankenübertragung. Das hab ich voll im Griff.«

»Hast du?«

»Du nicht?«

»Bloß auf kurze Entfernungen.«

Laila sagt: »Hm.« Und dann: »Weißt du, wer noch Schwierigkeiten bei der Gedankenübertragung hat?«

»Wer?«

»Bobby.«

Ich verziehe meinen Mund. »Das liegt daran, dass er es nicht gewohnt ist, das Bewusstsein von anderen zu manipulieren. Er kann bloß Masse. Durch Wände gehen, Flüssigkeiten fest werden lassen, Objekte in die Länge ziehen. Ich werde es nie laut zugeben, aber er ist richtig gut. Wahrscheinlich der Beste in seinem Alter, den ich kenne.«

»Genau das meint auch der Lehrer. Wenn deine Gabe nicht so oder so damit zu tun hat, den Verstand anderer zu beeinflussen, ist Gedankenübertragung fast unmöglich.«

»Meine Mom hat mir das gesagt. Sie ist Expertin auf dem Gebiet. Wahrscheinlich, weil sie die Königin der Manipulation ist.«

Laila lacht. »Stimmt. Na gut, wie sind denn die Normalen? Ist es schwer, sich mit ihnen zu unterhalten?«

»Nicht wirklich, aber ich habe auch noch nicht mit vielen gesprochen, bloß mit einigen auf dem Weg hierher und eben mit dem Postboten.«

Ich habe den Verdacht, dass mein Dad versucht, mich langsam in die Welt der Normalen einzuführen, denn auf dem Weg hierher hatten wir fast keine Pause gemacht.

»Das bringt mich auf eine Idee. Vielleicht sollte ich in diesem Schuljahr bei ein paar Auswärtsspielen mit dem Football-Team mitfahren. Wenn du da durch musst, mit den Normalen zu reden, kann ich dein Leid wenigstens ein bisschen teilen.«

Ich lache. »Du klingst ja kein bisschen voreingenommen.«

»Und bist du das etwa nicht?«

»Bin ich nicht.«

»Nein, du denkst bloß, dass du was Besseres bist als sie.«

»Nicht besser, bloß anders, weil ich zu mehr fähig bin.«

Sie lacht, als hätte sie das letzte Wort behalten.

Ich lasse mich mit dem Rücken aufs Sofa fallen und lege meine Beine über die Lehne. Es ist noch warm von vorhin, und als mir einfällt, wie viele andere Leute wahrscheinlich schon auf diesem Sofa gesessen haben, ekelt es mich. Ich setze mich auf. »Es sind nicht so sehr die Leute, die anders sind. Es ist dieser Ort. Ich könnte schwören, dass es hier heißer und heller ist. Glaubst du, dass ich von der Sonne einen Gehirnschaden bekommen kann?«

Sie lacht.

»Ich meine das ernst. Warum würden sie sonst die Sonnenstrahlung im Sektor filtern?«

»Ich bin mir sicher, dass sie das optimale Licht für die Entwicklung des Gehirns gefunden haben. Genau wie alles andere, dass hier verändert wurde, um das Potenzial unserer Hirne voll auszuschöpfen.«

»Das meine ich ja!«

»Noch ein Grund, warum du sofort nach Hause kommen solltest. Du wirst so oder so irgendwann zurückkommen, da habe ich keine Zweifel. Du würdest doch nicht riskieren, dass deine Kinder ohne entwickeltes Denkvermögen zur Welt kommen.«

Ich seufze.

»Oh, und da wir gerade bei dem perfekten Genmaterial zum Heiraten sind, rate mal, wer heute nach dir gefragt hat!«

»Keine Ahnung.«

»Duke Rivers.«

»Äh ... warum denn?«

»Weiß ich nicht. Ich dachte, das könntest du mir sagen.«

Die Tür, die von der Garage in die Küche führt, öffnet sich und man hört das Klirren von Schlüsseln, die auf der Küchentheke landen. »Hey, ich ruf dich später an, mein Dad ist gerade nach Hause gekommen.«

»Okay, Tschüss.«

Duke Rivers hatte nach mir gefragt? Seltsam.

»Hi, Dad!« Ich sammele mein verstreutes Arbeitsmaterial ein und stehe auf. »Du bist früh dran.«

»Wenn man bedenkt, dass ich heute überhaupt nicht hätte hingehen sollen, bin ich ausgesprochen spät dran.« Er nimmt sich den wattierten Umschlag von der Küchentheke und wirft einen Blick auf beide Seiten.

Ich lege meine Heilmittel für Schlaflosigkeit auf den Tisch. »Oh, das kam für dich vor einer Weile.«

Er zieht seine Augenbrauen zusammen.

»Was ist es denn?«, frage ich.

»Bloß ein Vorgang, bei dem ich das Para-Kriminalamt berate.«

»Ich dachte, du arbeitest nicht mehr für sie. Wir wollten doch dieses Normal-Ding in aller Konsequenz ausprobieren.«

Wir werden wie der Rest der Welt leben, Addie, hatte er gesagt. Das wird uns guttun. Jetzt klingen die Worte billig, aber vor Kurzem noch hatten sie mir das Gefühl gegeben, als würden wir in eine Schlacht ziehen oder so.

»Na ja, ich habe ihnen bei meiner Kündigung versprochen, dass ich ein paar kleinere Aufgaben übernehmen würde, wenn sie mich brauchen.«

Ich greife mir einen Apfel aus einer Schüssel auf der Küchentheke. »Du bist noch nicht mal eine Woche weg und schon wenden sie sich an dich? Die müssen ziemlich aufgeschmissen sein – ohne ihren besten Lügendetektor.«

Er verdreht die Augen.

Ich beiße in den Apfel. »’tschuldigung, ich meine Erkenner. Obwohl ich wette, dass das Kriminalamt hier froh ist, dich zu haben. Wo arbeitest du noch einmal?« Ich versuche mich an die Abkürzung zu erinnern. »EBI ... SBI ...«

»FBI. Federal Bureau of Investigation.«

»Richtig. FBI. Vermutlich sollte ich mir das merken. Na, zeigst du’s all den Verbrechern? Keine Lügen mehr in Dallas!«

»Sehr lustig. Meine Tochter, die Komikerin. Ganz abgesehen davon, dass sie überraschend gut mit vollem Mund sprechen kann.«

»Es ist eine Gabe.«

Er gibt mir einen Klaps mit dem Umschlag auf den Kopf und öffnet ihn dann. Zuerst zieht er eine Art Ausweis heraus.

»Was ist denn das?«

Er dreht ihn mir zu. »Ich hab meinen Sektor-ID im Büro vergessen.«

Das holografische Logo springt mir ins Gesicht. Der Ausweis sieht genauso aus wie meiner, nur dass seiner ihn als Erkenner ausweist, meiner mich für minderjährig erklärt. Oh, und natürlich sind unsere Fotos unterschiedlich. Ich mustere seins genauer. Würde mein Dad sein Haar nicht so streng scheiteln, könnte er sogar richtig cool rüberkommen. Mit seinem vollen schwarzen Haar und seinem kräftigen Kinn sieht er gar nicht schlecht aus. »Dad! Den Sektor-ID vergessen? Wie kann das sein? Oder will irgendetwas in deinem Unterbewusstsein nie wieder zurück?«

Er presst kurz den Kiefer zusammen, was mich verblüfft. Ich habe einen Scherz gemacht, aber jetzt frage ich mich, ob an der Aussage etwas dran ist. Er nimmt sein Portemonnaie aus der Hosentasche, steckt die Karte hinter seinen Normalen-Führerschein und lächelt mich dann an. »Jetzt habe ich ihn ja – also kein Grund, mein Unterbewusstsein zu analysieren.« Er dreht den Umschlag um und schüttelt ihn. Eine runde Scheibe in einer durchsichtigen Plastikhülle gleitet auf die Küchentheke.

»Was ist das?«

»Das ist eine DVD.«

Ich nehme sie in die Hand. »Oh, die Dinger hab ich schon mal im Fernsehen gesehen. Die ist ja riesig.« Ich drehe sie um und lege sie dann wieder auf die Küchentheke. »Das kapier ich nicht; jemand schickt dir einen alten Film?«

»Nein, das Para-Kriminalamt hat die Befragung auf eine DVD gebrannt, weil das hier der Standard ist. Sektor-Technologie ist in der Außenwelt nicht erlaubt. Ich muss mir dafür noch einen DVD-Player besorgen.« Er stößt einen Seufzer aus und wendet sich dann wieder mir zu. »Wie geht’s dir heute?«

»Gelangweilt.«

Er lächelt. »Ich ziehe mich eben um und dann können wir uns was zu essen holen.«

Noch bevor er den Satz beendet hat, lasse ich meine Hand hinter dem Rücken verschwinden und er macht dasselbe. »Eins, zwei, drei«, sage ich, forme meine Hand zur Schere, während er seine flach vor mir ausgestreckt hält wie ein Blatt Papier.

»Ha! Ich hab gewonnen. Mexikanisch.«

Er stöhnt spaßhaft und geht sich umziehen.

Ich nehme die DVD wieder in die Hand. Auf der silbernen Oberfläche steht in schwarzer Schrift der Name Steve »Poison« Paxton. Poison? Ich frage mich, ob er sich den Spitznamen selbst zugelegt hat. Wir hatten mal einen Schüler in der Siebten, der nach seiner Initiierung darauf bestanden hatte, dass jeder ihn Flash nannte. Er hatte die Fähigkeit entwickelt, die Geschwindigkeit seiner Synapsen zu beschleunigen. Damit konnte er eine Meile eine ganze Minute schneller laufen als wir anderen. Eine armselige Minute! Bevor ich jemanden Flash nannte, sollte er mit seinem Tempo mindestens einen Tornado um mich herum entfachen. Wenn das meine Gabe gewesen wäre, hätte ich es so lange wie möglich für mich behalten, bis ich keine andere Wahl mehr gehabt hätte und es unwiderruflich auf meiner Sektor-ID festgehalten worden wäre.

Ich würde zu gern einen Blick auf den Typen riskieren, der sich Poison nennt, aber das kommt nicht infrage. Die Sachen, die mein Dad vom Kriminalamt bekommt, sind streng geheim. Ich lege die DVD wieder auf die Küchentheke und hole meine Schuhe.

Vergiss mein nicht!

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