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8.

eNORM – wirklich groß

Ich rühre die letzten paar Frosties in meiner Schüssel um. Jedes Cornflake einzeln herauszufischen, finde ich an einem Montagmorgen viel zu mühsam. Als mein Dad in die Küche kommt, sagt er: »Freust du dich schon auf den ersten Schultag?«, als wäre er ein Kandidat in einer Fernseh-Spielshow mit der Aufgabe, die schlimmsten Sprüche zu produzieren, die man seinem jugendlichen Nachwuchs am frühen Morgen antun kann.

»Bitte sag, dass du für mich ein paar bewusstseinserweiternde Programme auftreiben kannst oder irgendetwas in dieser Richtung.« Wenigstens diesen Teil meines Morgenrituals brauche ich. Das macht mich normalerweise wach.

»Es ist wirklich schwer, sich in der Außenwelt Sektor-Technologien zu beschaffen. Wir müssten einen Antrag stellen.«

»Was? Diese Regel weitet sich auch auf unsere Programme aus? Ich komm da vielleicht gar nicht dran?«

»Du wirst es überleben, Addie. Du brauchst sie nicht. Als ich klein war, existierte so etwas noch gar nicht. Ich war sowieso immer der Meinung, dass eine Gabe sich am besten natürlich entwickelt.«

Nur, weil das alles war, was ihnen zur Verfügung stand, als er Kind gewesen ist. Aber selbst damals hatten sie Übungen, um die natürlichen Gaben zu verstärken.

Ich stehe auf und stelle meine Schüssel in die Spüle.

»Du schaffst das, oder?«

»Dad. Es ist noch viel zu früh.«

Er lächelt und nimmt mich in die Arme. »Okay, ich hab’s verstanden. Wir reden, wenn du richtig aufgewacht bist.«

»Danke.«

In der Schule brummt mir der Kopf immer noch. Ich komme mir in dem riesigen Menschenmeer verloren vor. Noch nie bin ich in einer so großen Schule gewesen. Vor Beginn der Stunde werde ich im Flur förmlich an der Tür zu meinem Klassenraum vorbeigetrieben. Ich drehe mich um und stemme mich gegen den Strom. Wenn ich besser in Gedankenübertragung wäre, hätte ich allen Leuten um mich herum eingeben können, zur Seite zu gehen.

Ich stelle mich mit dem Rücken zur Wand und warte ab, bis sich die Menge ausdünnt, bevor ich mich auf den Weg zurück zu meinem Klassenraum mache. Die Raumnummer ist C14, und obwohl ich sie mir gemerkt habe, checke ich sie noch zweimal auf meinem Stundenplan gegen, um sicherzugehen, dass ich nicht gleich den falschen Klassenraum erwische. Der Stundenplan bestätigt mir: C14-Regierungskunde.

Vor ein paar Jahren hatte ich ein Halbjahr US-Regierungskunde belegt – gehört mit zum Norm-Training –, ich hoffe also mal, dass ich mich noch an das eine oder andere erinnern kann.

Ich gehe hinein und gebe beim Lehrer den Zettel aus dem Sekretariat ab.

»Hallo«, sagt er. »Alle mal herhören, wir haben eine neue Schülerin: Adison Coleman.«

»Addie genügt«, sage ich.

»Heißt sie bitte willkommen!«

Ich hab keinen Schimmer, ob es irgendein Ritual gibt, dass diesen Worten normalerweise folgt, aber ich sehe mich trotzdem erwartungsvoll um. Ich werde mit ein paar ausdruckslosen Blicken begrüßt. Fast alle anderen unterhalten sich mit ihren Nachbarn oder checken ihr Handy. Ich bin erleichtert, dass »jemanden willkommen heißen« nicht bedeutet, vor der Klasse drei lustige Details über sich selbst preisgeben zu müssen oder derlei Peinlichkeiten mehr, vor denen ich mich gefürchtet habe. Vielleicht brauchte ich ja am ersten Tag noch nicht einmal meine angebliche Vorgeschichte auszuprobieren.

»Du kannst dich setzen«, sagt der Lehrer und zeigt auf einen Stuhl in der Mitte der ersten Reihe – der Platz, den alle anderen ganz offensichtlich gemieden haben.

»Oh, okay.« Ich versuche mir einen anderen freien Platz zu suchen, aber es ist nur ein einziger frei, neben einem Typen, der die Hälfte davon einnimmt, zusätzlich zu seinem eigenen. Während ich mich umschaue, bemerke ich Trevor in der hinteren rechten Ecke. Ich lächle und er nickt mir zu.

Es sieht so aus, als bliebe mir keine andere Wahl als der gefürchtete Platz in der ersten Reihe; ich mache also die zwei Schritte und setze mich. Mr Buford – laut meines allwissenden Stundenplans – geht an sein Pult und drückt Play auf einem iPod, der in einer Dockingstation steckt. Musik dröhnt durch den Raum und fast alle halten sich die Ohren zu. Ich schwäche den Krach mental ab.

Er dreht an den Reglern herum, bis die Musik leiser wird. Erst dann erkenne ich die Melodie – die Titelmusik von James Bond.

Ein befriedigtes Lächeln stiehlt sich über sein rundliches Gesicht, als hätte er gerade die genialste Lehrmethode aller Zeiten angewendet. Ich habe das Gefühl, dass das hier das Aufregendste ist, was ich in diesem Fach erleben werde. Er schaltet die Musik aus und dreht sich dann mit großer Geste zu uns um. »Und unser Thema für die nächsten paar Wochen ist ...« Er legt eine Pause ein und schaut sich um. Niemand meldet sich freiwillig. »Irgendwelche Vermutungen? Justin?«

Ein Typ mehrere Reihen hinter mir sagt: »Alte Filme?« Die anderen Schüler lachen.

»Heiße Frauen?«, meldet sich ein anderer freiwillig.

»Nein, Leute, reißt euch zusammen. Hat irgendjemand eine Idee?«

Als ich kurz davor bin, ihm die gewünschte Antwort zu geben, um ihn aus seinem Elend zu befreien, meldet sich eine Stimme von hinten: »Ermittlungsbehörden.«

Das war etwas genauer als die Antwort »Spione«, die ich im Kopf gehabt habe.

»Ja, danke Trevor.«

Ich drehe mich um und werfe ihm einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Er zuckt bloß mit den Schultern.

Mr Buford schreibt mehrere Abkürzungen auf ein großes Whiteboard und benutzt dazu einen Stift, den ich von meinem Platz aus riechen kann. Wie schafft er es, von dem Ding nicht high zu werden? Ich bin verblüfft, wie wenige Computer es an dieser Schule gibt.

»Schaut sie euch näher an und merkt euch die vollen Namen dazu. Das ist Stoff für den Test.« Die letzten Worte sorgen dafür, dass sämtliche Hefte so schnell aufgeschlagen werden, dass ich, wäre ich an meiner alten Schule gewesen, Mr Buford für einen Telekineten gehalten hätte.

Er lacht. »Ah, das Zauberwort hat für ein bisschen Motivation gesorgt. Gut. Heute werden wir über das FBI sprechen.«

Als die Stunde zu Ende ist, packe ich langsam mein Heft ein und lasse Trevor jede Menge Zeit, herüberzukommen und mich zu begrüßen. Nachdem ich den Reißverschluss meines Rucksacks zugemacht habe, werfe ich beiläufig einen Blick über die Schulter – er ist verschwunden.

So viel zu meinem einzigen Freund in Dallas. Und dabei bin ich mit dem Begriff Freund ziemlich großzügig umgegangen. Okay, sehr großzügig. Eigentlich ist er noch nicht mal ein Bekannter. Was immer er auch ist, ich hatte gehofft, dass ich ihn heute irgendwann zufällig treffen würde, um mich nicht zu sehr wie ein einsamer Versager fühlen zu müssen.

Draußen im Flur schaue ich mich um, vielleicht erhasche ich noch kurz einen Blick auf ihn, aber ich sehe lediglich jede Menge Leute. Kein Trevor weit und breit.

Ich schaffe es bis zum Mittagessen, ohne irgendwelche lustigen Details aus meinem Privatleben preisgeben zu müssen, außer Name, Alter und wo ich herkomme. Obwohl ich mit meinem Dad im Voraus geübt habe, rutscht mir einfach so Kalifornien raus und dabei muss ich dann bleiben. Aus lauter Nervosität, das Wort Sektor zu vermeiden, ist ein ganz anderer Staat daraus geworden. Was soll’s, sowohl die eine wie auch die andere Geschichte ist eine Lüge. So werde ich wenigstens nicht die halbe Wahrheit sagen müssen und dabei riskieren, die andere Hälfte gleich mit herauszuposaunen. Zu Hause werde ich an meiner eigenen Vorgeschichte arbeiten. Die werde ich mir dann auch einfacher merken können.

Der Pausenhof an dieser Schule ist eine Rasenfläche mit ein paar vereinzelten Bäumen, umgeben von Steinbänken. Solange ich zurückdenken kann, sind Laila und ich Freundinnen gewesen – seit unserem ersten Tag im Kindergarten, an dem sie sich vor mich gestellt hat. Seit damals bin ich in der Schule nie alleine gewesen. Jetzt bin ich furchtbar einsam und das ist ein grässliches Gefühl. Anstatt mein Mittagessen allein vor Zeugen einzunehmen, kundschafte ich lieber die Bücherei aus.

Der Geruch nach Büchern, ein Gemisch aus Staub und Leder, empfängt mich, als ich durch die Tür komme. Ich lächle. An der Lincoln High besteht die Bücherei aus drei Reihen von Computern, von denen wir uns Informationen auf unsere Karten runterladen können. Ich beziehe alle meine Bücher aus dem einzigen verbliebenen Buchladen in der Stadt, der ohne mich jetzt wahrscheinlich Pleite machen wird. Aber der Buchladen ist nichts im Vergleich zu dem hier. Diese Bücherei streckt sich über zwei Stockwerke mit einer breiten Treppe, die nach oben ins zweite Geschoss führt. Fenster umgeben zu allen Seiten den oberen Bereich, der Boden ist mit Licht überflutet. Wäre ich alleine, würde ich meine Arme ausbreiten und mich im Kreis drehen. Stattdessen gehe ich die Treppe hoch und streiche im Vorübergehen mit meiner Hand über die Bücher.

Ich suche mir die Abteilung mit den Klassikern, und nachdem ich mich ein bisschen umgesehen habe, ziehe ich den Titel Eine Geschichte aus zwei Städten aus dem Regal. Gerade passend. Ich fange an zu lesen. Als mir langsam klar wird, dass Dickens »schlechteste aller Zeiten« sehr viel schlechter war als alles, was ich bisher durchgemacht habe, höre ich das Fußgetrappel von vielen Leuten im Eingangsbereich, der mit Fliesen ausgelegt ist.

Mist. Ich muss das Klingelzeichen am Ende der Mittagspause überhört haben. Offensichtlich findet heute in der Bibliothek eine Unterrichtsstunde statt. Ich ziehe meinen Stundenplan aus dem vorderen Fach meines Rucksacks und hoffe, dass dort ein anderes Fach steht als das, was aufgedruckt ist. Sport. Das kurze unschuldige Wort jagt mir einen Schauer über den Rücken. Niemand sollte zu Sport an einem Montag gezwungen werden. Ist morgen nicht ein viel besserer Tag, mit Sport anzufangen? Die Entscheidung, gleich am ersten Schultag zu schwänzen, löst ein stechendes Schuldgefühl in meinem Bauch aus. Aber weil ich weiß, dass ich mich mindestens die erste Woche mit meinem »Neue Schülerin«-Status entschuldigen kann, schlucke ich es herunter.

Ich ziehe mich tiefer zwischen die Regale zurück und bin mir sicher, dass mich hier niemand findet. Warum auch? Das sind die Klassiker. Es muss einer der am seltensten besuchten Bereiche einer Highschool-Bibliothek sein. Als dann Schritte zu hören sind, bin ich ehrlich verblüfft.

Ich schaue auf und sehe Trevor, der sich eingehend mit einer Buchreihe auf der linken Seite befasst. Er streicht mit den Fingern die Buchrücken entlang und dann bleibt er stehen und schiebt das Buch, das er in der Hand hält, zwischen zwei andere.

»Hi«, sage ich, als er sich umdreht.

Erschrocken zuckt er zusammen, bevor sich in seinem Gesicht volles Erkennen widerspiegelt. »Oh, hi Addison. Was machst du denn hier?«

»Allem Anschein nach Sport schwänzen.«

»Ich war überrascht, dich heute Morgen in Regierungskunde zu sehen. Ich dachte, du hättest gesagt, du gehst in die elfte Klasse.«

»Ich ... äh ...« Panik steigt in meiner Brust auf. Hat mein Dad mich in einen Collegevorkurs gesteckt? Was soll ich bloß sagen? Tja, mein Gehirn arbeitet mindestens zehnmal schneller als das eines Normalen, deswegen wollte mein Dad mich wohl fördern, so gut es eben ging. Selbst wenn ich das sagen dürfte, würde es wahrscheinlich nicht so gut ankommen.

»Hast du einen Test für den Kurs gemacht?«

»Ja!«, sage ich entschieden zu laut. »Ich meine, ja, hab ich.« In dem Versuch, das Thema zu wechseln, zeige ich auf das Buch, das er gerade zurückgestellt hat. »Was hast du denn gerade abgegeben?«

»Oh.« Er schaut auf den Rücken des Buches. »1984, Orwell.«

Ich fand das Buch toll, aber ich mag es nicht, auf andere Einfluss nehmen, bevor sie eine Chance haben, ihre ehrliche Meinung loswerden zu können. »Hat es dir gefallen?«

Er lacht und lehnt sich mit der Schulter ans Bücherregal. Sein ganzes Auftreten, von seinem zwanglosen Lächeln bis hin zu seiner entspannten Körperhaltung, strahlt Gelassenheit aus. »Ich hab’s nicht gelesen. Keine Ahnung, wer sich so was antun würde.« Er zeigt auf die Bücher um sich herum. »Klassiker werden überhaupt nur dann ausgeliehen, wenn sie Pflichtlektüre in Englisch sind.«

»Äh.« Mit hochgezogenen Augenbrauen halte ich ihm das Buch in meinen Händen hin. Er neigt seinen Kopf, um den Titel lesen zu können. »Eine Geschichte aus zwei Städten. Oh, du magst Klassiker. Tut mir leid.«

Ich lächle. »Nein, ist schon in Ordnung. Ich mag Bücher ganz allgemein. Heute hatte ich das Bedürfnis, mein Hirn mit archaischer Sprache und tiefschürfenden Weisheiten zu martern. Und wie steht’s mit dir? Warum gibst du es wieder ab, wenn du’s gar nicht gelesen hast?«

»Ich helfe in der sechsten Stunde in der Bibliothek aus.«

»Cool.« Das wäre mein Traumjob. »Wie hast du das denn geschafft?«

»Ich hatte eine Verletzung und kann nicht beim Sport mitmachen.« Er lächelt. »Wenn sie mir etwas Aufregenderes zu tun gegeben hätten, würden alle anfangen, sich Verletzungen auszudenken.«

Bevor er noch zu Ende gesprochen hat, habe ich schon fünf vorgetäuschte Verletzungen aufgelistet. »Moment mal, willst du damit etwa behaupten, dass das hier für dich wie eine Gefängnisstrafe ist?«

»Eher eine Folterkammer.«

Ich schnappe nach Luft. »Ich bin schwer beleidigt.«

»Es ist bloß so, dass es hier so ruhig ist. Und die Bücher sehen nach einer gewissen Zeit alle gleich aus.«

»Charles Dickens dreht sich im Moment bestimmt in seinem Grab um«, sage ich zu ihm.

Er zwingt sich zu einer ernsten Miene, richtet sich auf und nickt. »Verstanden. Ich werde deine persönlichen Freunde nicht mehr kritisieren, wenn du in Hörweite bist.« Er schiebt die Bücher in seinen Händen hin und her und schaut auf einen der Buchrücken. »Tja, ich mach mich mal lieber wieder an die Arbeit. Die Bibliothekarin«, er schaut kurz über seine Schulter, »ist ein Nazi.«

»Meine Augen werden groß. »Im Ernst?«

Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Nicht im wörtlichen Sinn.«

»Ach so. Verstehe.«

Sein zögerndes Lächeln kann die Verwirrung in seinem Blick nicht ganz verdecken. »Na dann, Tschüss.«

Sobald er weg ist, hole ich mein Handy heraus und schreibe Laila eine SMS: Normal zu sein, ist wirklich schwer. Oh, und ich hab einen möglichen Nachfolger für dich gefunden.

Na schönen Dank auch. Wie heißt sie denn?

Es ist ein Er. Und für einen Normalen scheint er ganz nett zu sein. Definitiv zum besten Freund geeignet.

Ich bin unersetzbar. Muss jetzt Schluss machen. Mr C hat mir schon einen bösen Blick zugeworfen. Ich glaub, er kann meine Gedanken lesen. Sollte mich lieber aufs Abblocken konzentrieren.

Trevor läuft wieder an meinem Regal vorbei, sein Bücherstapel ist nur noch halb so hoch. Er hält mitten in der Bewegung inne und geht ein paar Schritte zurück. »Du schwänzt ja wirklich!«

Ich lächle und fühle mich wie die Anarchistin, die ich nicht bin. »Ja.«

Er schüttelt den Kopf und geht weiter.

Ich hole mein Notizbuch heraus, schlage eine leere Seite auf und schreibe: Charles Dickens’ Geist hat mir verraten, dass er nicht mehr einschlafen konnte, nachdem er sich im Grab umgedreht hatte. Er hat beschlossen, der ewigen Ruhe den Rücken zu kehren, seinen verwesten Körper wieder zu beziehen und an dir Rache zu üben, weil du seinen Schlaf gestört hast. Du wurdest gewarnt.

Ich reiße die Seite heraus, falte sie zweimal in der Mitte und achte sorgfältig darauf, dass die Ecken haargenau aufeinanderliegen. Ich habe mir seit meiner Kindergartenzeit keine neuen Freunde mehr suchen müssen und anscheinend ist meine Strategie immer noch die gleiche. Ich schreibe seinen Namen auf den gefalteten Zettel. Jetzt bleibt bloß die Frage, wie ich ihm den Zettel zukommen lasse.

Vergiss mein nicht!

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