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10. April 2015

Die Torte stand direkt auf Janus Schreibtisch.

Janus Antrag, die Pensionierung um drei Tage zu verschieben und bis zum Ende der Woche zu warten, hatte ihm der Innenminister höchstpersönlich genehmigt. Aber in drei Tagen zu erledigen, was man in vierzig Jahren zuvor nicht geschafft hatte, grenzte an Selbstüberschätzung. Trotzdem analysierte Janus jeden Hinweis, der zum Karma-Killer in den Akten notiert worden war.

Oben auf seinem Schreibtisch thronte eine Postkarte mit einem schlichten »Danke« auf der Vorderseite, die jemand auf eine Dose Ravioli raufgeklebt hatte. Die Dankeskarte und die Dose Ravioli stammten nicht von seinen Kollegen, sondern vom fünfjährigen Anton und seiner zwölfjährigen Schwester Anne, die von den beiden Polizisten, die Janus zum Haus der Opfer geschickt hatte, aus einem Kellerverließ befreit worden waren. An der Dose Ravioli klebte Blut, deswegen leitete Janus die Dose direkt an die KTU weiter. Vielleicht befanden sich Spuren des Karma-Killers auf der Dose, auch wenn Janus wenig Hoffnung diesbezüglich hatte.

Seine Theorie über die Opfer hatte sich erneut als richtig erwiesen und dieses Dankeschön bedeutete ihm beinahe mehr als seine Karriere bei der Mordkommission.

Er las die Vernehmungsprotokolle von Anton und Anne. Dabei wurde ihm schlecht.

Die Morde des Karma-Killers waren rechtswidrig und eine Form von Selbstjustiz, aber an Tagen wie diesen ertappte sich Janus bei dem Gedanken, dass der Karma-Killer sich im Recht befand, zumindest wenn er solche Kinderschänder zur Strecke brachte.

Besonders die Aussagen, die die zwölfjährige Anne zu Protokoll gegeben hatte, drehten ihm den Magen um. Was diese Kinder durch die Hand ihres Vaters erlitten hatten, war furchtbar und es rückte die Morde des Karma-Killers in ein Licht, das ihm als Polizist nicht gefiel. In den Protokollen stand nichts über den Karma-Killer, beide Kinder gaben zu Protokoll, dass sie bereits im Kellerverließ eingesperrt waren, als sie die Schreie ihrer Eltern von oben hörten.

Der Karma-Killer erzeugte durch seine Morde bei den Angehörigen seiner Opfer tiefe Erleichterung und Dankbarkeit. Eine undurchdringbare Mauer aus Schweigen und Vertrauen, die die Polizei als nicht vertrauenswürdig erscheinen ließ, so wie bei Anton und Anne, die sich ebenfalls fragten, warum die Polizei ihnen nicht schon früher geholfen hatte.

Die Polizei als Freund und Helfer verdrehte der Karma-Killer zu Feind und Mittäter, während er etwas zur Verbesserung der Welt und ihrer Situation beitrug. Schlimm genug, dass der Karma-Killer seit vierzig Jahren mordete, aber das Bild des Karma-Killers hatte sich in den vier Jahrzehnten vom Saulus zum Paulus gewandelt. Die Presse feierte den Karma-Killer als modernen Helden, gab ihm Namen wie »Polizist des Volkes« oder »Richter der Gesetzlosen«, was die Ermittlungsarbeit erschwerte. Mit dem zweifelhaften Ruhm des Karma-Killers in den Medien verringerten sich die Anstrengungen seiner Vorgesetzten, ihm das Handwerk legen zu wollen. Gelder wurden gestrichen, Sonderkommissionen aufgelöst, bis nur noch Janus als letzter Beamter an diesem Fall festhielt.

Die Menschen liebten Selbstjustiz, weil ihnen oft das Vertrauen in den Rechtsstaat fehlte, und ein Mörder, der Menschen mit ihrem Leben bezahlen ließ, die unsagbar schlimme Dinge getan hatten, stieß in der Bevölkerung ausnahmslos auf Wohlwollen, weil sie insgeheim die Todesstrafe für derartige Menschen befürwortete.

Janus öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch.

Die Schlagzeile »Einer weniger…« auf dem Titelblatt der größten deutschen Boulevardzeitung kam zum Vorschein. Die Zeitung und die Schlagzeile waren bereits zehn Jahre alt, aber diese wohlwollende Zustimmung für Mord und Totschlag fraß sich in die Köpfe der Menschen hinein. Die Öffentlichkeit stilisierte den Karma-Killer zu einer Art Popstar des Tötens. Wenn es so etwas wie moralisch-korrektes Töten und Morden gab, etablierte sich der Karma-Killer durch diesen Zuspruch zu einem Meister seines Faches. Auf Hinweise aus der Bevölkerung oder die dankbaren Hinterbliebenen der Opfer war kein Verlass, was die Ermittlungsarbeit auf die Rätsel und Leichen beschränkte, die der Karma-Killer hinterließ.

Janus starrte die Uhr auf seinem Arbeitsplatz an, auf dem er zwanzig Jahre lang gesessen hatte. Das Kerzenwachs war wieder hart geworden und all seine Kollegen hatten mit einem Stück Torte längst das Weite gesucht. Ein paar Händedrücke hier und ein paar Schulterklopfer dort, so ließen sich seine vierzig Jahre Dienstzeit bei der Polizei und seine zwanzigjährige Karriere bei der Mordkommission zusammenfassen.

In sechzig Minuten war er kein Polizist mehr und der Karma-Killer lief noch immer frei herum.

Alle Akten über den Fall Karma und die Ergebnisse der insgesamt fünf Sonderkommissionen, die versucht hatten, dem Karma-Killer auf die Spur zu kommen, lagen auf seinem Schreibtisch. Drei der Sonderkommissionen hatte er persönlich geleitet und dirigiert, aber jedes Mal, wenn sie dem Karma-Killer ein Stück näher kamen, schaffte er es aus unerklärlichen Gründen, das Netz, was sie um ihn spannten, abzustreifen.

Seine Abschiedstorte stand auf der einzigen freien Stelle auf seinem Schreibtisch und der Schriftzug auf der Torte bestand nur noch aus einem Happy, aber glücklich fühlte er sich mit seiner Pensionierung nicht. Ihm fehlte die Zeit, die Akten nach Fehlern und Dingen durchzugehen, die er übersehen hatte und die vielleicht eine Spur zum Karma-Killer lieferten. Die Früchte seiner Arbeit sollte kein anderer Kollege ernten, vor allem nicht dieser Kriminalkommissar-Frischling Nick Klein, der auf seinen Stuhl scharf war.

Janus mochte seinen Nachfolger nicht. Klein strotzte vor lauter Überheblichkeit, besaß keinerlei Integrität oder Moralvorstellungen und er hatte einen Sachverstand, mit dem er nicht einmal Heu in einem Heuhaufen fand, selbst wenn er in einem Heuhotel übernachtet hatte.

»Dieses Chaos räumen Sie aber noch auf, bevor ich Ihren Schreibtisch kriege, alter Mann«, sagte Klein in einem Ton, der Janus nicht gefiel.

Janus hatte Klein bereits beim Reinkommen bemerkt. Mit seinen stampfenden Schritten hatte Klein versucht, sich an ihn anzuschleichen, aber selbst das konnte er nicht. Kleins Auftreten schrie danach, dass er für den Job bei der Mordkommission nicht geeignet war. Vielleicht erinnerte ihn Klein auch nur ein bisschen an seine eigene Anfangszeit bei der Mordkommission, in der man als Frischling noch grün und naiv hinter den Ohren ist. An die Langeweile des Tötens, die Monotonie und die Tristesse der menschlichen Abgründe, die so durchschaubar waren, dass die Tätersuche meist nicht lange dauerte, weil die Menschen oft wegen banaler Gründe zu Mördern wurden.

In zwei oder drei Jahren wusste auch Klein, dass dieser Beruf in Abgründe hinabführte, bei denen man sich insgeheim wünschte, es gäbe mehr Mörder wie den Karma-Killer, die den Abschaum beseitigten, der das Nebenprodukt der Gesellschaft darstellte.

Klein verlor die Geduld, er stellte sich direkt vor Janus und bäumte sich auf.

»Hallo? Jemand zu Hause?«, rief Klein, aber Janus träumte nicht, er war hellwach und sein Nachfolger raubte ihm den letzten Nerv.

Vielleicht war es die Retourkutsche dafür, dass er Klein Kaffee holen geschickt hatte. Sonst wusste Klein, wer der Boss war, aber heute beließ es Klein nicht dabei, denn in einer Stunde gehörte dieser Stuhl ihm.

So oft wie Janus seinen Vorgesetzten davon abgeraten hatte, Klein die Leitung der Duisburger Mordkommission zu übertragen, seine Aufklärungsrate stieg unaufhörlich an, deswegen stieß seine Beurteilung von Klein in der Chefetage auf taube Ohren. Die Zukunft gehörte Ermittlern wie Klein, das Vertrauen in ihn nahm unangenehme Züge für Janus an, denn hinter seinem Rücken mauschelten die Kollegen bereits, dass Klein das schaffen könnte, was er in vierzig Jahren nicht geschafft hatte – den Karma-Killer endlich hinter Gitter zu bringen.

Klein gestikulierte wild mit beiden Armen, wollte auf das Chaos auf Janus Schreibtisch aufmerksam machen, den er schon für sein Eigentum hielt, aber Klein verwechselte ihn offenbar mit einer Putzfrau. Janus ignorierte Klein und griff sich eine Akte von dem Stapel, den er noch nicht durchgesehen hatte.

Diesen Schreibtisch überließ er Klein keine einzige Sekunde zu früh.

»Komm Oppa, das ist nicht mehr deine Aufgabe, Sie sind kein Polizist mehr«, Klein riss ihm die Akte wieder aus der Hand.

Jetzt reichte es. Janus hatte die Schnauze voll.

Er griff Kleins Hand und drückte auf den Druckpunkt zwischen Daumen und Zeigefinger, der höllische Schmerzen verursachte. Klein ließ die Akte fallen, Janus fing sie auf und verdrehte Klein so die Hand, dass er mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihm auf die Knie ging.

»In diesem Job muss man auf alles gefasst sein, Kindchen. Außerdem bin ich noch 57 Minuten und 30 Sekunden Polizist, so lange ist das hier noch mein verschissener, dreckiger Schreibtisch. Ist das klar? Und jetzt verzieh dich!«

Janus ließ Klein wieder los.

Daraufhin zog Klein sich sichtlich gekränkt zurück, nachdem er sich noch im ganzen Büro umgeschaut hatte, ob jemand beobachtet hatte, wie er von einem 63-jährigen Altkommissar überwältigt worden war.

Janus warf die Akte zurück auf die freie Stelle auf seinem Schreibtisch – und erst jetzt bemerkte er den Stempel. »Kopie aus dem Archiv« stand in großen roten Buchstaben auf dem Aktendeckel, was bedeutete, dass die Originalakte nicht mehr auffindbar war.

Janus Instinkt meldete sich.

Irgendetwas stimmte mit dieser Akte nicht.

Er erinnerte sich wage daran, dass jemand aus den eigenen Reihen damals entweder geschlampt oder bewusst Beweismaterial hatte verschwinden lassen und diese Akte ebenfalls abhandengekommen war.

In der Akte zur Sonderkommission »Schiller« stieß er auf einen Vermerk, den er noch nie gesehen hatte. Oben auf dem Schreiben klebte ein gelber Notizzettel, auf dem stand: »Weiterleiten an Interne Ermittlungen. Herzlichst Julianne Pauly«.

»Julianne Pauly?«, überlegte Janus.

Der Name kam ihm mehr als bekannt vor. Er blätterte direkt zur letzten Seite und sah ein Foto, auf dem das verstümmelte Gesicht einer jungen Frau zu sehen war.

Janus erinnerte sich wieder an Julianne Pauly. Eine hübsche und talentierte junge Kommissarin, der die Welt offenstand, bis sie brutal ermordet worden war.

Pauly zählte zeitweise zu den Opfern des Karma-Killers. Bei dem Mord an ihr gab es allerdings keinerlei Schuld oder Inszenierung der Leiche. Janus vertrat entgegen einiger anderer Kollegen aus der Sonderkommission deswegen die Ansicht, dass Pauly nicht zu den Opfern des Karma-Killers zählte und auch in keinerlei Verbindung zu dem Mörder stand, was sich letzten Endes und aufgrund mangelnder Beweise auch so in den Akten wiederfand und bestätigte, als sie den wahren Mörder von Pauly festnahmen.

Janus blätterte die Akte durch, in der Hoffnung, übersehene Hinweise auf den Karma-Killer zu finden.

In einem ihrer Berichte äußerte Pauly den Verdacht, dass der Karma-Killer womöglich ein Polizist sei und über internes Wissen verfügte, das ihn in die Lage versetzte, die Polizei jedes Mal auszutricksen.

Janus erinnerte sich noch an die Besprechung, in der Pauly diese Anschuldigungen vorgebracht hatte. Sie stießen auf heftige Kritik innerhalb der Sonderkommission und bei den Kollegen. »Nestbeschmutzerin« brodelte es wochenlang hinter ihrem Rücken. Nur Janus hörte sich ihre Theorie bis ins kleinste Detail an und war beeindruckt.

Bevor die Ermittlungen in diese Richtung Fahrt aufnahmen, wurde Pauly ermordet und alle Indizien und Beweise deuteten in eine andere Richtung.

Es gab einen Täter und eine Verurteilung.

Niemand verfolgte ihren Ansatz weiter, denn Ermittlungen in den eigenen Reihen waren eine heikle Angelegenheit, das wusste Janus nur zu gut und irgendwann verstaubte die Spur von Julianne Pauly im Archiv. Zumindest bis heute.

Janus schaute auf die Uhr.

Nur noch 50 Minuten blieben ihm, sich die Früchte seiner Arbeit nicht verderben zu lassen oder schlimmer noch, sie diesem Klein zu überlassen.

Er schaute sich jedes noch so kleine Detail in der Akte an und überprüfte, ob es eine Spur zum Karma-Killer gab – und plötzlich wurde ihm flau im Magen.

Das Gesicht des Mannes, dessen Personenbeschreibung er in den Händen hielt, hatte er verdrängt. Robert Faber, ein Ex-Polizist, der seit zehn Jahren in der Psychiatrie einsaß, war damals Paulys Hauptinformant und gleichzeitig ein Hauptverdächtiger der anschließenden Mordermittlung gewesen, da alle Spuren an ihrer Leiche darauf hindeuteten, dass Faber sie ermordet hatte.

Zur Tatzeit stand Faber unter Drogeneinfluss und konnte sich an die Tat selbst nicht erinnern. In der Akte stand auch, dass Faber vor seiner Verhaftung angab, die Identität des Karma-Killers zu kennen und nach seiner Verhaftung soll er sogar im Rausch behauptet haben, er sei selbst der Karma-Killer.

Faber befand sich zum damaligen Zeitpunkt schon in Pension, arbeitete vor seiner Rente als Chefermittler an dem Karma-Killer-Fall und leitete die beiden anderen Sonderkommissionen. Durch sein Geständnis und seine Verurteilung verlor er all seine Pensionsansprüche und alle waren zufrieden damit, ihn wegzusperren und den Fall als abgeschlossen zu den Akten zu legen.

Janus rechnete zurück.

Faber musste jetzt 75 Jahre alt sein und es gab eine Zeit, in der Faber für ihn so etwas wie eine Art Ziehvater gewesen war, weil er seinen eigenen Vater und die Vorstellung an eine intakte Vater-Sohn-Beziehung vor langer Zeit zusammen mit seinem echten Vater beerdigt hatte. Faber war für Janus vor diesem Mord mehr Vater, als es sein Vater jemals hätte sein können. Zumindest bis zu diesem tragischen Vorfall.

Aus diesem Grund hatte Janus diesen Abschnitt seines Lebens aus seinem Gedächtnis gestrichen. Er hatte in dieser Phase der Ermittlungen mit Faber nicht nur einen geliebten Menschen, sondern mit Julianne Pauly auch noch eine geschätzte Kollegin verloren.

Janus las weiter in der Akte.

Bis zu seiner Pensionierung ging Faber davon aus, dass der Karma-Killer bereits zwanzig Jahre länger mordete, als sie bisher angenommen hatten, und die Möglichkeit bestand, dass es sich um zwei Täter handelte. Janus selbst hatte Faber in dutzenden teilweise auch inoffiziellen Verhören mürbe gemacht, bis er die wahnwitzige Behauptung von sich gab, selbst der Karma-Killer zu sein.

Daraufhin musste Faber seine lebenslange Haftstrafe in der forensischen Psychiatrie absitzen, aber ob er tatsächlich der Karma-Killer war, hatte nie jemand beweisen können, weil seine angebliche Drogenabhängigkeit Wahnvorstellungen nahelegte und er als unglaubwürdig eingestuft wurde.

Janus durchforstete den Rest der Akte.

Ein weiterer Abschnitt der Akte beinhaltete relevante Ermittlungsergebnisse von Faber. Die Überschneidungen mit Julianne Paulys Erkenntnissen ergaben ein Muster. Bevor der Karma-Killer zum ersten Mal im Ruhrgebiet getötet hatte, gab es eine Mordserie in den Niederlanden, bei der im regelmäßigen Abstand von einem Jahr jeweils zwei Menschen ermordet wurden und das über einen Gesamtzeitraum von zwanzig Jahren. Die niederländische Polizei und die Presse tauften den Mörder damals Raadsel Mordenaar.

Der Rätsel-Mörder ordnete die Leichen seiner Opfer ähnlich an, wie es der Karma-Killer tat, aber die Mordserie im Nachbarland hörte plötzlich auf, so dass die niederländischen Kollegen den Fall zu den Akten legten. Und ein Jahr später begann im Ruhrpott die Mordserie des Karma-Killers.

Janus las gespannt die Ausführungen von Faber und Pauly. Nach heutigem Ermittlungsstand musste der Karma-Killer weit über 80 Jahre alt sein oder es handelte sich tatsächlich um zwei Personen. Ebenfalls plausibel war, dass er früh mit dem Morden angefangen hat. In diesem Fall könnte er auch 75 Jahre alt sein. So wie Faber.

Pauly hatte Faber damals nicht in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen, was der Brisanz ihrer Anschuldigungen noch mehr Explosionskraft verliehen hätte, als sie es ohnehin schon taten. Wenn Faber der Karma-Killer war, hätte sie mit diesen Zeilen im Bericht selbst ihr Todesurteil besiegelt, weil sie sich dem Falschen geöffnet hatte und vielleicht hatte deshalb jemand die Originalakte verschwinden lassen.

Janus ärgerte sich, dass er diese Zeit und Faber nicht mehr auf dem Schirm hatte. So eine Nachlässigkeit passierte ihm selten. Er suchte auf seinem Schreibtisch die Faber-Akte. Die Adresse und die Telefonnummer des Niederrhein Therapiezentrums im Stadtteil Rheinhausen standen in der Akte und er suchte unter all den anderen Akten sein Telefon.

»Guten Tag, Niederrhein Therapiezentrum Duisburg, Abteilung forensische Psychiatrie, mein Name ist Schäfer, was kann ich für Sie tun?«, ertönte es am anderen Ende der Leitung.

»Guten Tag, hier spricht Hauptkommissar Harald Janus, ich bin der Leiter der Duisburger Mordkommission und ermittle gerade in einem Mordfall. Ich bräuchte ein paar Informationen über einen ihrer Insassen.«

»Tut mir leid, Herr Hauptkommissar, ich kann Ihnen am Telefon keine Informationen über unsere Insassen geben. Sie müssten den offiziellen Dienstweg einhalten und einen Antrag stellen oder persönlich vorbeikommen.«

»Ich bitte Sie, Herr Schäfer, es geht um Leben und Tod. Für den offiziellen Dienstweg fehlt mir die Zeit.«

Am anderen Ende der Leitung wurde es still.

Janus schaute auf die Uhr.

In zehn Minuten begann sein Ruhestand.

»Es handelt sich bei den Informationen um unwichtige Details wie Freigangzeiten, die nicht direkt die Persönlichkeitsrechte des Patienten verletzten. Ich bitte Sie«, setzte Janus nach.

»Hm, um welchen Patienten handelt es sich denn?«

Wenn es um Leben und Tod ging, waren die Menschen oft bereit, mit Regeln zu brechen.

»Es geht um ihren Patienten Robert Faber. Ich benötige eine Auskunft darüber, ob Herr Faber mittlerweile Freigänger ist und wenn ja, seit wann er Freigänger ist.«

Janus hörte, wie Schäfer etwas in eine Tastatur eingab.

»Robert Faber, Moment … dort habe ich ihn. Das ist ja merkwürdig.«

»Was ist los?«

»Sie sind scheinbar nicht der Erste, der sich für die Freigänge von Herrn Faber interessiert. In den Log-Daten steht, dass die Informationen mehrmals abgerufen und bearbeitet worden sind.«

»Ist Herr Faber Freigänger oder ist er es nicht?«, fragte Janus ungeduldig.

»Ähm ja, Herr Faber ist seit fünf Jahren Freigänger, aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens, guter Führung und keinerlei Rückfallgefahr wurde sein Antrag auf Freigang gebilligt. Allerdings nur an einem Tag jedes zweite Wochenende.«

Das erklärte die fünfjährige Pause, die der Karma-Killer nicht gemordet hatte.

»Ich bitte Sie, dass Sie bei den folgenden Daten, die ich Ihnen gleich nennen werde, abgleichen, ob Herr Faber an diesen Tagen Freigang hatte.«

»29.03.15, 21.12.14, 11.05.2014, 08.11.2013, 28.04.2013, 07.10.2012, 03.03.2012, 11.09.2011, 06.02.2011, 08.08.2010, 01.01.2010.«

»Der 01. Januar 2010 war der erste Tag, an dem Herr Faber Freigang hatte und an allen anderen Tagen, die Sie mir genannt haben, war Herr Faber ebenfalls auf Freigang. Darüber hinaus ist er, während wir gerade miteinander sprechen, auf Freigang.«

»Das passte wie die Faust aufs Auge«, dachte Janus.

»Für die Daten lege ich meine Hand nicht ins Feuer«, gab Schäfer zu bedenken, »ich kann Ihnen nicht sagen, inwieweit die Daten manipuliert worden sind, dafür müssten Sie einen IT-Experten vorbeischicken.«

»Das wird nicht nötig sein, Herr Schäfer. Sie haben mir sehr geholfen und ich habe alle Informationen, die ich benötige. Vielen Dank.«

Janus legte auf.

Nach vierzig Jahren gab es zum ersten Mal einen stichhaltigen Hinweis auf die Identität des Karma-Killers. In der Akte suchte er nach der aktuellen Adresse von Faber. Das Haus von Faber, in dem er eine Zeit lang, wie sein eigener Sohn ein- und ausgegangen war, gehörte noch ihm.

Janus griff in seine Schublade, holte seine Dienstwaffe raus und wollte mit der Akte unter dem Arm zur Tür hinaus, als Klein sich ihm in den Weg stellte.

»Ihre Dienstwaffe und die Akte bleiben hier, Janus«, befahl Klein, »Sie sind jetzt kein Polizist mehr.«

Janus schaute auf die Uhr.

Klein hatte Recht.

Seine Zeit bei der Mordkommission war Geschichte, nichts weiter als Vergangenheit und er würde als derjenige Mordermittler in die Kriminalgeschichte eingehen, der den Karma-Killer nur fast erwischt hatte. Nein, das konnte er mit seinem Ego nicht vereinbaren, dass dieser Klein die Lorbeeren erntete und womöglich einen Falschen als Karma-Killer einbuchtete.

Dummheit war eine weitaus größere Gefahr für ihn und Klein war so dumm, dass Janus nicht ausrechnen konnte, wie er den Inhalt der Akte interpretieren würde.

»Hast deine Lektion wohl noch nicht gelernt, Bürschchen?«

»Warten wir einmal ab, wie gut Sie ohne Überraschungsmoment sind, Janus«, konterte Klein.

Klein ging in Stellung und legte seine Hand auf seiner Dienstwaffe ab, so wie es die Cowboys im Wilden Westen immer vor einem Duell taten.

Janus überlegte.

Eine Szene konnte er sich nicht erlauben, außerdem galt es, keine Zeit zu verlieren. Mit etwas Vorsprung schaffte er es vielleicht doch noch, in die Kriminalgeschichte einzugehen und in einem Atemzug mit dem Karma-Killer genannt zu werden.

»Waffe und Akte, Janus! Ich werde Sie nicht noch einmal so höflich darum bitten«, wiederholte Klein.

Janus warf die Akte zurück auf den Schreibtisch und griff mit zwei Fingern nach seiner Waffe, für den Fall, dass Klein so nervös war, wie er aussah.

»Bitteschön, Herr Kollege.«

»Nein, wir sind keine Kollegen mehr, Janus. Und jetzt scheren Sie sich aus dem Präsidium«, forderte ihn Klein auf, »ach ja, hab ich fast vergessen – einen schönen Ruhestand.«

Janus hasste Klein, sein abfälliges Grinsen, seine Respektlosigkeit, einfach alles an ihm. Aber man sah sich immer zwei Mal im Leben. Er verließ das Büro und sah noch, wie Klein sich auf seinen Stuhl und an seinen Schreibtisch setzte.

Im Augenwinkel beobachtete Janus interessiert, wie Klein die Akte aufschlug und zum Telefonhörer griff, dabei trafen sich ein letztes Mal ihre Blicke und Klein winkte Janus selbstgefällig zum Abschied hinterher, frei nach dem Motto »Das gehört jetzt alles mir«.

Vermutlich wählte er gerade die Rufwiederholung. Für so schlau hielt Janus ihn zwar nicht, aber wenn er es tat, musste er sich beeilen.

Janus legte einen kurzen Zwischenstopp Zuhause ein, holte eine Waffe und lud ein paar weitere Dinge ein, die er für ein Wiedersehen mit Faber benötigte.

Das Karma verzeiht nichts

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