Читать книгу Das Karma verzeiht nichts - Kaspar Lunt - Страница 8
1
Оглавление31. März 2015
Das tote Fleisch der Leichen knirschte dumpf unter den Hufen. Jedes Mal, wenn ein Damhirsch auf den leblosen Körpern der Opfer rumtrampelte, zuckte es leicht im Auge von Hauptkommissar Harald Janus.
Die letzte Chance, den Fall seines Lebens zu lösen, von lebendem Hirschgulasch weich geklopft.
Das Karma hasste ihn, es zeigte ihm auf seine spezielle Art, dass die beiden Leichen, die im Wildgehege im Volkspark des Duisburger Stadtbezirks Rheinhausen lagen, wieder keine brauchbaren Spuren lieferten.
Janus hasste derartige Verzögerungen, die ihn von seiner Arbeit abhielten. Auf dem Rasen neben ihm stapelte sich ein recht ansehnlicher Haufen Kippen, weil die Wildhüter erhebliche Probleme damit hatten, den letzten Damhirsch von seinem Tatort wegzubekommen.
Er verfolgte die Bewegungen des Damhirsches, der im Zickzack durch das Gehege lief, einen Wildhüter nach dem anderen abschüttelte und im großen Stil alle Spuren an seinem Tatort zerstörte.
Warum er bereits mit den Kollegen von der Kriminaltechnik am Tatort sein wollte, wusste er nicht genau, aber bei diesem Fall hatte er so ein ungutes Bauchgefühl. Der Ablageort und die Platzierung der Leichen schrien förmlich nach dem Karma-Killer. Sollte sich seine Ahnung bestätigen, waren diese beiden Leichen die letzten Spuren und Hinweise, die er als Leiter der Duisburger Mordkommission vom Karma-Killer noch analysieren konnte.
Janus wippte ungeduldig von einem Bein auf das andere. Das Alles hier ging ihm nicht schnell genug. Ein Wildhüter landete bei dem Versuch, dem Damhirsch ein Seil um den Hals zu werfen, im Morast.
Diese elendigen Dilettanten schafften es tatsächlich noch, dass er in Rente ging, bevor er auch nur einen Blick auf den Tatort werfen konnte. In einer Woche hieß es für ihn Abschied nehmen, dann schickten sie ihn in den Ruhestand, aber er wollte nicht mit dem unschönen Gefühl in Rente gehen, etwas nicht erledigt zu haben – und der Karma-Killer-Fall ließ ihm einfach keine Ruhe.
Schlimm genug, dass das Damwild und die Wildhüter all die Spuren zertrampelten, die der Karma-Killer vielleicht am Tatort hinterlassen hatte, aber diese ganze Farce dauerte jetzt schon eine Stunde und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er diesen dämlichen Hirsch längst mit seiner Dienstwaffe abgeknallt und Gulasch aus ihm gemacht.
Der Hirsch wechselte erneut die Richtung, schüttelte seine Verfolger ab und galoppierte direkt auf Janus zu, der seine aufgerauchte Zigarette auf den Haufen neben sich schmiss und sie austrat. Er musste etwas unternehmen, sonst dauerte dieses Trauerspiel noch den ganzen Tag.
Janus hob den Riegel des Tores hoch, öffnete das Gatter und schob die Tür des Geheges so weit auf, dass der Hirsch ohne Probleme in die Freiheit flüchten konnte. Dann hob er seine Arme in die Höhe und wedelte wild mit ihnen hin und her, als ob er einem Passagierflugzeug beim Landeanflug in den Volkspark helfen wollte. Der Damhirsch behielt seinen Kurs bei, nahm Janus Angebot an und galoppierte direkt auf seine Freiheit zu.
»Ey, was machen Sie da, schließen Sie sofort wieder das Gatter«, brüllte einer der Wildhüter, aber Janus trat ein paar Schritte zur Seite und machte den Weg frei. Der Hirsch lief an Janus vorbei in Richtung Freiheit, fünf Meter hinter ihm folgte der Wildhüter, der Janus strafend ansah.
»Das wird Folgen für Sie haben, ich beschwere mich bei ihrem Chef«, schrie der Wildhüter im Vorbeilaufen, kam aber nicht dazu, sich weiter mit ihm zu beschäftigen, weil der Hirsch sich in Richtung Moerserstraße stadteinwärts aufmachte und Gefallen an seiner neugewonnen Freiheit fand.
»Ich bin selbst der Chef«, rief Janus dem Wildhüter hinterher. Dann gab er den Kollegen von der Kriminaltechnik ein Signal, dass sie an ihre Arbeit gehen sollten.
Die Kollegen starrten Janus noch mit offenen Mund an, fast so als leide er an Alzheimer – aber was sollten seine Vorgesetzten deswegen schon tun, ihn früher in Rente schicken, wenn sich dieser Wildhüterfutzi über ihn beschwerte? Nein, wegen einem blöden Damhirsch mit Sicherheit nicht.
In ein paar Tagen bei seiner Verabschiedung kramten seine Kollegen diese Geschichte mit Sicherheit wieder hervor, das wusste Janus, aber besser einen peinlichen Abschied und den Karma-Killer hinter Gittern, als mit dem Gefühl in den Ruhestand zu gehen, den Karma-Killer nur fast das Handwerk gelegt zu haben.
Die Kriminaltechniker legten einen Trampelpfad an, auf dem sich alle Kollegen den Leichen und dem Tatort nähern mussten, was reichlich absurd schien, in Anbetracht der Tatsache, dass vermutlich sowieso keine Spuren mehr um den Tatort herum aufgenommen werden konnten.
Janus ließ die Dinge seinen Lauf nehmen, fischte seine letzte Zigarette aus der Schachtel, klemmte sie sich hinters Ohr und sah dabei zu, wie die ersten Kriminaltechniker Fotos von der Leiche und der Umgebung schossen. In einem zweiten Schritt pflasterten sie die Leichen von oben bis unten mit Klebestreifen, für den Fall, dass der Täter Haare, Fasern oder andere Spuren von sich auf den Leichen hinterlassen hatte.
»Na Harry, ist ER es wieder?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Der Rechtsmediziner Birger Schulz stellte sich neben Janus, beide starrten in Richtung Tatort.
»Aus der Ferne sieht die Anordnung und Inszenierung der Leichen wie bei den übrigen Fällen des Karma-Killers aus«, antwortete Janus, »aber aus der Ferne sehen wir beide auch noch wie junge Männer aus und nicht wie zwei alte Säcke, die ihr halbes Leben mit Leichen verbracht haben.«
Schulz lachte laut los und Janus musterte seinen Freund kritisch, der fast genauso lange wie er selbst für die Polizei arbeitete.
»Sorry Birger, ich korrigiere mich. Nur ich sehe aus der Ferne noch wie ein junger Mann aus.«
Schulz Lachen verstummte, er schaute an sich runter, konnte aber seine eigenen Füße nicht sehen, weil ihm sein dicker Bauch die Sicht versperrte.
»Sehr witzig, Harry. Komm, die Kollegen sind so weit, lass uns mal schauen, was wir da haben.«
Janus und Schulz folgten dem Trampelpfad zum Tatort. Schulz kniete sich direkt neben die erste Leiche, öffnete seinen Koffer und ging an die Arbeit.
»Wetten, dass es unser Mann ist«, raunte Schulz, »schau dir die Inszenierung der Leichen an.«
Janus reagierte nicht auf Schulz erste Einschätzung.
»Harry, hast du gehört oder bist du gedanklich schon in Rente?«
»Kennst du dieses Gefühl, wenn man so müde ist, noch so viel zu erledigen hat, aber einem einfach die Zeit fehlt. Ich bin ausgebrannt, Birger, möchte einfach nur schlafen, aber der Karma-Killer-Fall raubt mir den letzten Nerv.«
»Ich verstehe, was du meinst«, holte Schulz aus, »letztens habe ich mit meiner Enkelin zusammen mit ihren Puppen gespielt. Sie wollte wissen, was Opa beruflich macht, das habe ich dann mit ihren Puppen nachgespielt, beziehungsweise ich habe es versucht, bin dann aber leider, bevor die Puppenautopsie richtig losging, zu einer echten Autopsie gerufen worden und für mich existierte kein Unterschied mehr zwischen den Puppen meiner Enkelin und der Leiche auf meinem Tisch. So abgestumpft bin ich mittlerweile schon.«
»Glück gehabt, sag ich da nur.«
»Wer? Die Leiche oder die Puppen?«
»Nein, deine Enkelin, du Idiot«, sagte Janus, »nicht jeder findet Leichen so toll oder stellt mit Puppen eine Autopsie für eine Dreijährige nach.«
»Reine Gewöhnungssache. Anfangs verfolgen dich ab und zu die Gesichter deiner Klienten im Schlaf, aber später sind es nur noch die Gesichter der Leichen, von denen wir den Mörder nicht fassen konnten – und beim Karma-Killer passen die Gesichter so langsam nicht mal mehr in den Reisebus hinein, den ich in meinem Traum immer fahre, kurz bevor sich alle in Zombies verwandeln und mich auffressen.«
Janus schaltete ab, wie er es jedes Mal tat, wenn Schulz versuchte, seinen Job in eine Schublade mit Zirkusclowns und Kindergärtnerinnen zu stecken oder wenn er mal wieder von seinen verrückten Träumen berichtete.
»Wie lange sind wir jetzt schon hinter dem Karma-Killer her?«, fragte Schulz, der merkte, dass sein Freund ihm nicht zuhörte.
»Fast vierzig Jahre«, antwortete Janus in Gedanken versunken, »es ist fast so, als hätten wir zusammen angefangen, er mit dem Töten und ich mit meiner Jagd nach Mördern, aber bisher haben sich unsere Wege nie gekreuzt. Wir sind beide so gut in dem geworden, was wir tun, dass wir vor lauter Respekt für den anderen gelernt haben, uns aus dem Weg zu gehen. Der Karma-Killer macht keine Fehler.«
»Irgendwann macht jeder einen Fehler«, versuchte ihm Schulz Mut zu machen, »es ist nur eine Frage der Zeit.«
Janus inspizierte von der Mitte des Geheges aus den Tatort und erst als er sich ein Gesamtbild gemacht hatte, widmete er seine volle Aufmerksamkeit den Leichen.
»Wen hat es erwischt?«
»Stephanie und Thomas Letter, beide Mitte 40. Die Ausweise lagen wieder direkt auf der Stirn, nur bei der Frau auf dem Hinterkopf. Der Karma-Killer präsentiert uns seine Opfer, will uns förmlich sagen: Seht her, was ich euch hier wieder für Unmenschen vom Hals geschafft habe.«
»Hat er ein Rätsel hinterlassen?«
»Die Opfer wurden beide ausgeschmückt und post mortem bestückt, wie er es immer tut. Bei all den Hirschhaaren und Hufabdrücken ist ein eindeutiger Befund allerdings schwierig. Beim männlichen Opfer erkenne ich eine Platzwunde am Kopf, aber die tödlichen Verletzungen konzentrieren sich nach meinem bisherigen Erkenntnisstand auf die Wunde im Brustkorb.«
»Was sind das für Perforationen in der Wunde?«
»Ein Pfeil hat sein Herz aus kurzer Entfernung durchbohrt, danach wurde der Pfeil vermutlich wieder rausgezogen, wie aus den Perforationen des Gewebes hervorgeht, um ihn erst mit dem Apfel und der Nachricht zu präparieren und danach wurde ihm wieder alles zusammen zurück in sein Herz gesteckt.«
Janus las die Nachricht: Ein Vater ist gut, wenn er nicht trifft das eigen Fleisch und Blut.
Er beugte sich über die Leiche und interessierte sich besonders für die Anordnung der Opfer.
Die Hände des Mannes lagen ineinander gefaltet auf dessen Brust, umschlossen den Apfel, der penibel auf den Pfeil aufgezogen worden war, damit er nicht kaputt ging. Es war eine Eigenart des Karma-Killers, die Leichen so zu arrangieren, dass sie eine Botschaft ergaben. Meist ließ sich das Rätsel relativ leicht lösen, aber dieses Mal ergab die Anordnung auf den ersten Blick keinen Sinn. Der Mann lag friedlich auf dem Rücken, während die Frau auf dem Bauch und mit dem Gesicht in ihrer eigenen Blutlache lag.
»Was ist mit der Frau?«, fragte Janus.
»Schwer zu sagen, vor der Autopsie. Der Speer, der in ihrem Körper steckt, durchdrang mit heftiger Wucht ihr Schulterblatt, jemand stand auf ihr, rammte ihn mit voller Wucht von oben in ihren Körper, so dass er sich gut einen halben Meter in den Untergrund bohrte. Dafür ist eine enorme Kraftaufwendung notwendig. Sie war nicht sofort tot, das kann ich schon mal sagen, aber die genaue Todesursache weiß ich erst nach der Obduktion.«
»Was ist mit den verklebten Haaren an ihrem Hinterkopf und dem Kreuz auf ihrer Kleidung, dort, wo der Speer ins Schulterblatt eindrang?«
»Sieht nach Dreck aus, könnte aber auch ein halber Schuh- oder Hufabdruck sein. Was das Kreuz zu bedeuten hat, fällt in deine Zuständigkeit.«
»Wenn es ein Schuh- und kein Hufabdruck ist, spräche alles dafür, dass der Täter ihr erst den Speer in den Körper gerammt hat, damit sie nicht mehr weg kann. Danach hat er sie mit seinem Fuß am Hinterkopf mit dem Gesicht in die Pfütze gedrückt, so dass sie in ihrem eigenen Blut ertrinkt«, dachte Janus laut und ging dabei die einzelnen Schritte nacheinander durch, so wie es Golfer bei Probeschwüngen vor ihrem eigentlichen Schlag taten.
»Könnte sein, aber ertrunken wäre sie bei einem derartigen Tathergang nicht. Hilf mir bitte einmal kurz, die Frau umzudrehen«, bat Schulz.
Janus und Schulz drehten gemeinsam die Leiche der Frau um, damit der Rechtsmediziner ihr Gesicht und ihren Mund untersuchen konnte.
»Bingo«, freute sich Schulz, »sie hat Stauungsblutungen in der Gesichtshaut, den Augenbindehäuten und auf der Mundschleimhaut. Sieht nach Ersticken aus. Das ist typisch für Opfer, die in Bauchlage gefunden werden oder die erdrosselt wurden. In ihrem Fall hat sie der Täter wahrscheinlich in ihrem eigenen Blut erstickt, ohne dass sie sich großartig dagegen wehren konnte.«
Schulz legte die Frau behutsam zurück auf die Ausgangsposition und Janus trat ein paar Schritte zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen. Für ihn war es das letzte Rätsel, das er untersuchen konnte.
Die letzten Spuren des Karma-Killers.
»Armbrust, Apfel, Speer, Kreuz«, murmelte Janus.
»Hast du schon eine Idee, was das Rätsel bedeutet?«, fragte Schulz.
»Tell und Siegfried«, schoss es aus Janus heraus.
»So wie Wilhelm Tell und Siegfried aus der Nibelungensage?«
»Richtig, der Karma-Killer hat ein Faible für Literatur, Sagen und Mythen. Der Pfeil, der den Mann direkt ins Herz getroffen hat, stammt aus einer Armbrust. Der Apfel und die Nachricht verweisen auf Wilhelm Tell, der vom Landvogt Hermann Gessler dazu gezwungen wurde, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen, weil er den Hut des Landvogts nicht gegrüßt hatte, der auf einer Stange steckte. So spielte es sich zumindest im Drama von Friedrich Schiller ab.«
»Ein Vater ist gut, wenn er nicht trifft das eigen Fleisch und Blut«, wiederholte Schulz die Nachricht, »aber in unserem Fall hat der Pfeil direkt ins Herz getroffen und wenn ich mich an meine Schulzeit noch richtig erinnere, hat Wilhelm Tell nur den Apfel aber nicht seinen Sohn getroffen.«
»Das stimmt, deswegen nennt es sich ja auch Rätsel, Birger. Wir müssen den Tatort als eine Art Gesamtbild verstehen. Die Inszenierung der Leichen liefert uns die Antwort auf das Rätsel des Karma-Killers.«
Janus trat einen weiteren Schritt zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen.
»Siegfried der Drachentöter badete im Blut des Drachen und wurde dadurch unbesiegbar. An seinem Körper bildete sich eine undurchdringbare Hornhaut, bis auf eine kleine Stelle am Rücken, die während des Bads im Drachenblut durch ein Lindenblatt bedeckt wurde. Später verriet Kriemhild die Stelle an Siegfrieds Körper, an der er verwundbar war, indem sie mit einem Kreuz diese Stelle auf seiner Kleidung markierte.«
»Hier liegt aber kein Siegfried, sondern eine Frau«, unterbrach ihn Schulz.
»Nein, es ist eine Kriemhild, die wie Siegfried getötet wurde. Die Anordnung der Frau zeigt Verrat oder Mittäterschaft, eine Schuld, die durch ihre Ermordung getilgt wurde und auf der anderen Seite liegt ein Mann – ein Wilhelm Tell – der nicht den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes, sondern direkt in sein Herz trifft. Der Karma-Killer sucht sich nie ohne Grund seine Opfer aus. Die Opfer machen sich alle einer Sache schuldig. Was will er uns bloß mit seinem Rätsel sagen?«, überlegte Janus – und plötzlich fügte sich jedes einzelne Puzzleteil in Janus Kopf zu einem Ganzen zusammen.
Er nahm die Ausweise der Opfer und rief über Funk die Leitstelle.
»Schicken Sie einen Wagen zur folgenden Adresse«, befahl Janus und gab die Adresse der Opfer über Funk durch, »die Kollegen sollen sich Zugang zum Haus verschaffen, nach einem Versteck oder einem Verließ im Keller oder dergleichen suchen und sagen Sie ihnen, dass Sie sich beeilen sollen, es ist Gefahr im Verzug.«
Schulz starrte Janus fragend an.