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10. April 2015

Robert Faber erinnerte sich nicht an den Mord.

Seine Hände waren voller Blut.

Er hielt das Messer in seinen Händen und die blonden Haare der Frau ertranken mit jedem Stich in einem Meer von Blut, das nicht wusste, wo es hinfließen sollte. Er kniete auf ihr, ließ nicht von ihr ab und schnitt ihr Gesicht in Stücke, ohne groß darüber nachzudenken, was er tat.

In einer ersten Einschätzung eines forensischen Gutachters stand, dass der Täter nicht zurechnungsfähig gewesen sei, nur unter Drogeneinfluss solch eine Tat begangen werden könne oder der Täter abgrundtief wahnsinnig gewesen sein müsse – und als sie ihn erwischt hatten, rauskam, dass er einer von ihnen war und eine von ihnen getötet hatte, da wurde es still um ihn herum. Was blieb, war Geflüster.

Erst waren es nur die Menschen in seinem Umfeld, die flüsterten, sich von seiner Tat erzählten, mit dem Finger auf ihn zeigten. Die Kollegen hörten schlagartig mit ihren Gesprächen auf, wenn er auf dem Flur des Präsidiums in Handschellen an ihnen vorbeigeführt wurde, um in einer weiteren Vernehmung auszusagen, dass er sich an den Tathergang nicht erinnern konnte.

Später kamen die eigenen Stimmen im Kopf hinzu, die flüsterten, Zweifel über die eigene Version und seinen Verstand tief in sein Bewusstsein einpflanzten und die nicht von ihm abließen, weil sich niemand für seine Version der Geschichte interessierte.

Und irgendwann glaubte er nicht mal mehr sich selbst, wenn er sich reden hörte.

Die Ermittler wollten es verstehen, allen voran ein Mann, der immer zu ihm aufgesehen hatte, wie es ein Sohn zu einem Vater tat. Die Leere in den Augen seines Gegenübers, in denen er zuvor stets Bewunderung und Zuneigung gesehen hatte, waren so leer, wie die Augen der Frau und Kollegin, die er angeblich mit seinen eigenen Händen ins Nichts geschickt hatte – und alles, was blieb, war Ungewissheit und Ratlosigkeit.

Jede Nacht lag Faber wach und dachte darüber nach, was er angeblich getan hatte. Wenn er die Augen schloss, wartete sie bereits auf ihn.

Es war immer derselbe Traum.

Sie stand auf einem weißen langen Flur, an dessen Ende ein grelles Licht ihn blendete, so dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Alles war verschwommen und nur ihre Augen starrten ihn an. Sie flüsterte ihm etwas zu, das er nicht verstand. Auf ihrer Netzhaut spiegelte sich das Gesicht des Täters, das er ebenfalls nicht erkennen konnte. Er versuchte jedes Mal, näher an die Frau heranzugehen, um zu verstehen, was sie sagte, um den Täter in ihren Augen zu erkennen, aber egal wie schnell er lief, die Entfernung blieb immer gleich. Der Traum und die Zweifel verfolgten ihn seit zehn Jahren.

In seinem Blut hatten sie einen Cocktail aus verschiedenen Drogen gefunden. Kokain, Spuren von Antidepressiva und Heroin hieß es im Polizeibericht, obwohl er noch nie in seinem Leben Drogen oder Antidepressiva genommen hatte. Er litt nicht einmal an Depressionen. Nach und nach kamen Beweise ans Tageslicht, die die Geschichte so schlüssig erscheinen ließen, dass es für eine Mordanklage reichte.

Das Gesamtbild, das die Beweise und die Tat lieferten, war ein Gegensatz zu dem Menschen, für den er sich ein Leben lang gehalten hatte. Die Zweifel fraßen seine Persönlichkeit Stück für Stück auf, bis nichts anderes als ein Mörder übrigblieb, den jeder in ihm sehen wollte. Der Mensch, dem er am meisten vertraute, zerstörte den Glauben an seine Unschuld.

Janus schob die Bilder im Vernehmungsraum über den Tisch, breitete sie vor Faber aus. Sein Blick und die von jedem Zweifel erhabene Überzeugung auf seinem Gesicht zeigten ihm unmissverständlich, wie die Geschichte für ihn ausging.

Die Bilder zeigten Julianne Pauly, von der nur noch die entsetzten Augen zu erkennen waren, die tief verborgen, auf der Netzhaut, das letzte Bild gespeichert hatten – das Gesicht ihres Mörders, das sich wie Säure in ihre Netzhaut eingebrannt hatte. Dieser kranke Mensch sollte er sein.

Es waren nicht die Bilder, die ihn verunsicherten, sondern die Tatsache, dass ein Mensch, der ihn kannte und liebte, so von seiner Schuld überzeugt war, dass auch er selbst begann, daran zu glauben. Die Selbstverständlichkeit, mit der ihn sein einstiger Schüler vernahm, ließ keine Zweifel übrig.

Janus zeigte ihm nach und nach die Beweise, von denen sich Faber keinen einzigen erklären konnte.

Alle Beweise waren schlüssig und bezogen sich auf eine Zeitspanne in seinem Kopf, die nichts weiter war, als ein dunkles, schwarzes Nichts, in dem alles hätte passiert sein können.

Die Gerichtsverhandlung offenbarte ein Monster, mit dem er sich nur schwer identifizieren konnte. Ein abgehalfterter Ex-Polizist auf Drogen, mit einem Alkoholproblem und Depressionen, den die Dämonen, die der Beruf zwangsläufig mit sich brachte, erst nach seiner Pension heimgesucht hatten. Verrückt soll er geworden sein – aber das war er nicht.

Der Richter kannte trotz seiner Reputation kein Erbarmen. Die Beweislast war erdrückend und nicht einmal die Tatsache, dass er der Justiz in vier Jahrzehnten Polizeiarbeit bei der Mordkommission hunderte Täter geliefert hatte, stimmte den Richter ihm gegenüber gnädiger.

Alle hassten ihn. Bei Polizistenmord kannten Justitia und das System keine Gnade.

»Robert Faber, Sie wurden des Totschlags in einem besonders schweren Fall für schuldig befunden. Im Namen des Volkes ergeht daher folgendes Urteil: Sie müssen ihre Haftstrafe im Maßregelvollzug der forensischen Psychiatrie im Niederrhein Therapiezentrum Duisburg absitzen«, verkündete der Richter damals, »darüber hinaus wird in Ihrem speziellen Fall über eine anschließende Sicherheitsverwahrung nach einem Aufenthalt von fünf Haftjahren gesondert entschieden, je nachdem, wie die Therapie bei Ihnen anschlägt.«

Zehn Jahre von dieser Strafe hatte Faber bereits abgesessen. Er wusste, wie das System tickte. All die weggesperrten Monster der Gesellschaft, die er Jahrzehnte lang gejagt hatte, mussten sich in ihrer Haft nur wie brave Hamster verhalten, die fleißig das Laufrad in Gang hielten. Danach wurden die Monster im Hamsterkostüm als resozialisiert wieder zurück auf die Straße entlassen.

Eine Sache hatte er in seiner Dienstzeit als Polizist gelernt. Justitia war durch Begriffe wie Geständnis, Reue und Resozialisierung gleichzeitig blind und korrupt geworden. Die ersten fünf Jahre lang hatte er den braven Hamster gemimt, wie kein anderer vor ihm, was ihm den Status des Freigängers eingebracht hatte. Eine Frechheit in Anbetracht der Tragweite und der Umstände seiner Tat. In einem halben Jahr setzten sie ihn wieder auf freien Fuß – aber so viel Zeit blieb ihm nicht. Nicht nur das System sollte seinen Fehler einsehen, sondern auch all die anderen, denen er sein Schicksal zu verdanken hatte.

Pauly stand in seinem Traum jetzt direkt vor ihm und flüsterte ihm ein einziges Wort ins Ohr, das Faber nach all den Jahren des Grübelns und des Zweifelns endlich verstand: »Sündenbock«.

Faber nahm Paulys blutiges Gesicht in beide Hände und sah ihr tief in die Augen. Auf ihrer Netzhaut sah er das Spiegelbild des Mörders. Die wahre Identität des Täters.

An diesem Punkt wachte er jedes Mal auf.

Das Gesicht des Mörders blieb, brannte sich wie ein Fahndungsfoto in sein Gedächtnis ein und auf eine tragische Weise ergab plötzlich alles einen Sinn.

Er holte die Zeitung, die ihm einer der Wärter unter der Tür durchgeschoben hatte, setzte sich auf sein Bett und schlug die Titelseite auf. »Karma-Killer rettet Kinder«, titelte die Rheinische Post.

Die Presse feierte den Karma-Killer als modernen Robin Hood und er musste unbedingt etwas dagegen tun, bevor der Karma-Killer einen Weg fand, ihn in diesem Loch verrotten zu lassen oder schlimmer noch, bevor er von der Bildfläche verschwand und alle Beweise wieder zu ihm führten.

Faber blätterte ein paar Seiten weiter und fand die Meldung »Langjähriger Chefermittler der Duisburger Mordkommission geht in den Ruhestand« und da wusste er, dass es an der Zeit war, seinen Plan, den er in den letzten fünf Jahren akribisch vorbereitet hatte, in die Tat umzusetzen. In einem halben Jahr entließen sie ihn, aber so lange konnte er nicht warten.

Die Tür ging auf und ein Wärter kam in seine Zelle.

»Na Faber, bereit für deinen heutigen Freigang?«

»Ja, Martin, einen Moment bitte noch, ich bin gleich so weit.«

Faber steckte die Postkarte an der richtigen Stelle als Lesezeichen ins Buch, legte es auf sein Bett, nahm die Zeitung mit und verließ die Zelle.

Es war sein letzter Freigang – und er würde nicht wieder zurückkommen.

Alles war bereit.

Das Karma verzeiht nichts

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