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An einem regnerischen Tag Anfang Mai stand Mia bei Arthur vor verschlossener Tür. Sie klingelte mehrmals, ohne dass Arthur reagierte. Sie starrte in die Überwachungskamera über der Tür, als könne sie dort des Rätsels Lösung finden. Hatte sie sich im Termin geirrt? War Arthur krank geworden? Hatte er das Interesse verloren?

Feiner Nieselregen durchnässte ihre Jacke. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, als ihr einfiel, dass sie sich nun nicht erneut mit Arthur verabreden konnte. Jeder ihrer Termine lag an einem anderen Wochentag, zu einer anderen Uhrzeit, es gab keinerlei Regelmäßigkeiten. Telefonnummern oder Mailadressen hatten sie nie getauscht. Die Mails vor ihrer ersten Begegnung hatten sie anonymisiert über eine Mailbox vom Szene-Magazin verschickt, die ihnen nicht mehr zur Verfügung stand. Das hatte Arthur nun also von seiner ewigen Geheimniskrämerei. Unschlüssig stand Mia vor dem Haus. Wenn sie jetzt ging und sich nie mehr rührte, war es vorbei. Vermutlich war das gut so. Hatte sie sich nicht schon viel zu lange verkauft? Höchste Zeit, zur Normalität zurückzukehren.

Der Regen wurde stärker und die Kälte kroch Mias Beine hinauf. Ein schwarzer Porsche brauste mit dröhnendem Motor die Straße herunter. Auf Mias Höhe stoppte er nur unwesentlich ab und sauste mit beängstigender Geschwindigkeit in die Tiefgarage des Nachbarhauses. Genervt zog Mia ihre Kapuze dichter ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Sie gehörte nicht hierher, das hier war nicht ihre Welt.

Da öffnete sich die Haustür und eine Frau kam heraus. Mia reagierte blitzschnell. Die Frau, eine Asiatin, hatte ein müdes Gesicht und war einfach gekleidet, vermutlich machte sie in einer der schicken Wohnungen sauber. Mia schlüpfte an ihr vorbei durch den offenen Türspalt. Die Frau schaute ihr nicht mal hinterher. Mia ging die Reihen der Briefkästen durch. Sie war unsicher, welcher zu Arthur gehörte. Die Initialen A. K. passten genauso gut zu ihm wie der Kasten mit dem leeren Namensschildchen. Also fuhr sie mit dem Fahrstuhl hinauf in den vierten Stock. Sie riss ein leeres Blatt aus ihrem Kalender und kritzelte wenige Worte darauf:

»War heute vergeblich hier. Melde Dich, wenn Du mich wiedersehen möchtest. Mia.« Darunter schrieb sie ihre Handynummer. Den Zettel klemmte sie gut sichtbar unter die Fußmatte vor der Tür.

Entgegen ihrer üblichen Gewohnheit, den Heimweg immer zu Fuß zu machen, fuhr sie an diesem ungemütlichen Tag mit dem Bus nach Hause. Sie fühlte sich seltsam verloren und wusste nichts mit dem restlichen Tag anzufangen. Ruhelos wanderte sie durch ihre Wohnung, bis ihr Handy klingelte und eine SMS ankündigte. Atemlos öffnete sie die Nachricht. Sie war tatsächlich von Arthur.

»1000 mal sorry, dass ich dich versetzt habe! Freitag 19 Uhr? Ich werde garantiert da sein. Arthur.«

»In Ordnung. Ich komme am Freitag«, schrieb Mia zurück.

Sie ließ sich auf ihr Sofa sinken. Endlich konnte sie entspannen.

Am Freitag entschuldigte Arthur sich, kaum dass Mia zur Tür hereingekommen war. »Es tut mir sehr leid, dass du neulich vergeblich warten musstest. Du weißt, das ist gar nicht meine Art.«

»Was weiß ich schon, was deine Art ist?«, entgegnete Mia spitz. Sie wollte es ihm nicht zu leicht machen. »So gut kennen wir uns ja nun wahrhaftig nicht. Was war denn los?«

»Ich hatte einen beruflichen Termin, der sich unerwartet in die Länge zog.«

Arthur nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in den Garderobenschrank.

Mia sagte verwundert: »Du arbeitest? Ich hatte bisher den Eindruck, dass du ständig zuhause bist.«

»Das eine schließt das andere ja nicht aus. Aber zugegeben, mein Arbeitseifer war schon mal bedeutend größer.«

»Was arbeitest du denn?

»Ich bin Unternehmensberater.«

Fast war Mia ein wenig enttäuscht. Irgendwie hatte sie erwartet, Arthur würde sagen, er sei der wichtigste Berater des amerikanischen Präsidenten. Oder des UNO-Generalsekretärs. Er sei der Mann, an dem auf dieser Welt niemand vorbei kam. Unternehmensberater klang so banal. Allerdings sagte es natürlich nichts über die Kunden aus, die Arthur hatte. Und es war auch keine Überraschung. Mia hatte Arthur von Anfang an keinen sonderlich originellen Beruf zugetraut. Er war ein langweiliger Anzugträger, der nur Geld und Macht im Sinn hatte, das stand für sie fest.

Arthur ging hinter ihr her ins Wohnzimmer und schien genau darauf zu achten, kein Wort zu viel zu sagen. Mia ließ trotzdem nicht locker. Wenn sie schon mal dabei waren, dann durfte er jetzt auch ein bisschen mehr preisgeben – als Ausgleich dafür, dass er sie versetzt hatte.

»Unternehmensberater mit geringem Arbeitseifer – und da kann man sich das alles hier leisten?« Mit einer Handbewegung umfasste Mia die Wohnung mit allem Inventar einschließlich Elbblick. Herausfordernd sah sie Arthur an. Der Unternehmensberater passte zu ihm. Allerdings passte diese ständige Tagesfreizeit überhaupt nicht zu all dem Geld, das Arthur offensichtlich besaß. Als erfolgreichem Unternehmensberater war es ihm doch wohl kaum möglich, nur im Homeoffice zu hocken und nebenbei ständig Frauen zu empfangen.

Arthur zögerte. Er setzte den verschlossenen, abwehrenden Blick auf, der Mia mittlerweile bestens vertraut war, und mit dem er in der Regel jedes Gespräch, das ihm lästig wurde, abrupt beendete. Ruhig füllte er zwei Gläser mit Rotwein – Champagner und Whisky waren offenbar aus – und antwortete erst, nachdem er einen Schluck genommen hatte.

Er wählte jedes Wort mit Bedacht. »Ich war früher mal ein recht erfolgreicher Investmentbanker. Damals war ich von Ehrgeiz zerfressen und habe mich fast zu Tode gearbeitet. Aber die Zeiten sind vorbei. Heute nehme ich nur noch ausgewählte Projekte an und den Rest der Zeit …«, es folgte ein überraschend anzüglicher Blick in Mias Richtung, »verbringe ich schweigend und genießend. Und ja, ich kann mir das alles leisten, weil ich mich als Banker dumm und dämlich verdient habe. Ganz einfach.« Mit einem abschließenden Lächeln wandte er sich seinem Sessel zu. »Dann können wir wohl zur Tagesordnung übergehen.«

Als es vorbei war und sie wie üblich gemeinsam ans Fenster traten, sahen sie, dass das bisher recht freundliche Wetter umschlug. Riesige schwarze Wolken ballten sich über der Elbe zusammen und vor allem die kleineren Boote schaukelten bedenklich im unruhigen Flusswasser hin und her. Von einer Minute auf die andere wurde aus einem kräftigen Wind ein handfester Sturm. Müll wirbelte durch die Luft, auf einer Baustelle fielen Absperrgitter um, ein kleines Segelboot kenterte ein Stück elbabwärts. Wie Käfer stoben die Menschen auseinander und suchten Schutz vor dem urplötzlich einsetzenden heftigen Regen. Mehrere Männer kämpften mit einer Zeltplane, die sich vor einem Restaurant losgerissen hatte. Doch der Sturm, der nun zum Orkan anschwoll, ergriff die Plane und wehte sie aufs Wasser hinaus, wo sie eine Barkasse unter sich begrub. Fasziniert und beklommen zugleich starrte Mia hinaus.

»Da kannst du jetzt unmöglich rausgehen«, sagte Arthur, und obwohl Mia sich über seinen bestimmenden Tonfall ärgerte, musste sie zugeben, dass er recht hatte.

Schweigend standen sie nebeneinander und beobachteten das Chaos, das dieses plötzliche Unwetter ausgelöst hatte.

»Ja, also, was machen wir dann jetzt?«, fragte Mia ratlos.

Arthur war genauso unschlüssig und hilflos wie sie.

Endlich fragte er: »Wie wär’s mit Essen? Hast du Hunger?«

Essen war eine großartige Idee! Da waren sie beide beschäftigt und nicht gezwungen, miteinander zu reden. Denn wer weiß, wie lange dieses Unwetter anhalten würde.

»Essen ist gut«, sagte Mia. »Was gibt deine Küche denn so her? Hummer? Kaviar?«

Arthur war irritiert. »Darauf hast du Appetit?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich dachte nur, dass sich die Leute in deinen Kreisen dieses Zeug reinstopfen wie andere Leute Pizza.«

Arthur lachte. Es war ein überraschend jungenhaftes, fröhliches Lachen, das ihn zu einem völlig anderen Menschen machte. »Ich verrate dir ein Geheimnis: Es gibt in meinen Kreisen auch Leute, die sich nicht an die Spielregeln halten. Ich zum Beispiel. Ich hasse alles, was mit Fisch zu tun hat.«

Er ließ sie vor sich die Treppe hinaufgehen. Mia sah sich in seiner nagelneuen Küche um, in der es an nichts fehlte.

»Benutzt du das auch alles?«, fragte sie mit einem Blick auf blitzende Messer, Töpfe und Pfannen.

Zu ihrer Verblüffung antwortete Arthur: »Ja, gewiss, ich koche oft.«

Mia hatte Mühe, sich Arthur am Herd vorzustellen, diesen Mann, der wahrscheinlich sogar in seinen Maßanzügen schlief und den Eindruck erweckte, als würde er sich nicht nur beim Sex ständig von Frauen bedienen lassen.

Vor dem Küchenfenster entdeckte sie eine große Dachterrasse, auf deren Holzplanken der Regen niederprasselte.

»Du meine Güte, die Terrasse ist ja der Hammer!«, rief Mia begeistert.

»Stimmt«, räumte Arthur ein, der einen Topf auf den Herd stellte. »Das ist ein schönes Plätzchen da draußen.«

»Warum sind wir denn da noch nie rausgegangen?«

Mia dachte an laue Frühlingsabende, die sie im Wohnzimmer statt oben auf dieser herrlichen Terrasse verbracht hatten. Aber sie war natürlich immer schnell wieder heimgegangen. Arthur hatte ihr nie angeboten, länger zu bleiben. Das fiel ihm offenbar auch gerade auf. Während er betont konzentriert in seinen Topf starrte, murmelte er:

»Hat sich halt nie ergeben.«

»Was gibts denn jetzt eigentlich?«, fragte Mia rasch, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

»Wie wär’s mit Spaghetti und Pesto? Ich habe mir sagen lassen, dass das in deinen Kreisen ein recht beliebtes Gericht sein soll.«

Mia gefiel der freundliche Spott in Arthurs Stimme. »Klingt super!«

Sie setzte sich an den Esstisch, ließ sich von Arthur ein Glas Wein einschenken und schaute ihm beim Kochen zu. Bewundernd musterte sie seinen durchtrainierten Körper – die breiten Schultern, den knackigen Hintern, der sich deutlich unter der Hose abzeichnete, die langen Beine und den Nacken, der sich dunkel vom weißen Hemdkragen abhob. Plötzlich überkam sie das überwältigende Verlangen, diesen schmalen Streifen zwischen Kragen und Haar zu berühren, jene ungeschützte Stelle mit der weichen Haut, unter der die Muskeln spielten. Hastig nahm Mia einen Schluck Wein und zwang sich, Arthur ganz sachlich beim Kochen zu beobachten. Das war ohnehin aufregend genug.

Dies war ein ganz anderer Arthur als der, den Mia bisher kannte. Er passte weder zu ihrem Bild des kalten, berechnenden Geschäftsmannes noch zu dem Mann mit den recht einseitigen sexuellen Obsessionen. Dieser Arthur war überraschend normal. Souverän bewegte er sich zwischen Herd und Kühlschrank und routiniert bereitete er das Essen zu. Das Basilikumpesto machte er selbst, der Parmesan kam frisch vom Stück. Zumindest in einem Punkt hatte Mia sich nicht getäuscht: Es gab nichts, wovon Arthur keine Ahnung hatte und das er nicht perfekt beherrschte.

Das Essen war schlicht und doch vollkommen, es schmeckte fantastisch. Der Wein versetzte Mia in eine entspannte, leicht melancholische Stimmung. Dazu trug auch die Musik bei, die Arthur aufgelegt hatte. Suchende Klavierakkorde traten in Dialog mit einer Trompete, ihre klagenden Töne erfüllten den Raum.

»Was ist das für Musik?«, fragte Mia.

»Miles Davis«, erklärte Arthur freundlich. »Kind of Blue zählt zu den größten Alben der Jazzgeschichte. Aber man muss diese Musik mögen, Jazz ist nicht jedermanns Sache.«

Mia hörte normalerweise keinen Jazz. Zunächst schien ihr auch diese Musik anstrengend und schwer zugänglich zu sein, doch bei genauerem Hinhören war ihr so, als würden die Instrumente Geschichten erzählen. Die dunkle, melancholische Stimmung dieser Geschichten berührte sie.

»Ich mag das«, sagte sie nach einer Weile.

Arthur nickte zufrieden und Mia lauschte weiter der Trompete von Miles Davis. Auch Arthur schien ganz in der Musik versunken zu sein. Er starrte vor sich hin und hatte Mia offenbar vollkommen vergessen.

Verstohlen musterte sie ihn. Wer war dieser Mann? Sie trafen sich seit Monaten, aber sie wusste nichts über ihn. Was dachte er? Was fühlte er? Anfangs hatte sie geglaubt, er sei ein kranker Spinner, ein reicher Idiot, der Gefallen daran fand, Frauen zu erniedrigen. Inzwischen hatte sie ihre Meinung ein wenig geändert. Die Sache war kniffliger, aber Mia kam nicht dahinter. Arthur war barsch und kalt, gleichzeitig aber auch sensibel und klug. Er behandelte Mia meistens höflich und zuvorkommend. Manchmal lag in seinen Augen eine Sehnsucht, die Mia anrührte. Dann wieder fand sie darin nur eine geradezu schockierende Dunkelheit. Sie hätte gerne mehr darüber erfahren.

Arthur hob den Kopf, er fühlte ihren Blick auf sich ruhen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er leise.

»Ja.« Der Wein ließ ihre Glieder schwer werden und verwirrte ihre Gedanken. »Wir haben schon ein merkwürdiges Verhältnis, findest du nicht?«, sagte sie.

»Kommt drauf an, was du unter merkwürdig verstehst.« Er war wieder ganz da und sah sie aufmerksam an.

»Na ja, das ist doch eine recht einseitige Angelegenheit. Du kriegst von mir Befriedigung, aber was kriege ich?«

»Du kriegst Geld.«

»Geld.« Sie schnaubte verächtlich. »Als ob es darauf ankäme. Wir haben eine Geschäftsbeziehung, sagst du, aber profitieren tust nur du davon. Ich gehe immer leer aus.«

»Moment mal!« Arthurs Blick wurde finster. »Du gehst ganz gewiss nicht leer aus. Sechzig Euro für jedes Treffen, richtig? Habe ich auch nur ein einziges Mal nicht gezahlt? Also, was willst du?«

Die friedliche Stimmung war zerstört. Mia ärgerte sich, dass sie das Thema angefangen und es dann auch noch so ungeschickt in die völlig falsche Richtung gelenkt hatte. Aber der Wein war ihr zu Kopf gestiegen, sie konnte ihre Gedanken nur mühsam sortieren.

»Geld ist doch nicht immer das Wichtigste«, brachte sie hervor. Sie konnte Arthur unmöglich von ihrem heimlichen Verlangen, ihren lustvollen Fantasien erzählen.

»Nein«, entgegnete Arthur kalt, »Geld ist wahrhaftig nicht das Wichtigste. Aber es erleichtert das Leben ungemein. Oder genießt du es etwa nicht, dass du dir diesen schicken, roten Mantel kaufen konntest?«

»Du hast gemerkt, dass ich einen neuen Mantel habe?« Mia war verblüfft. Den viel zu teuren Designermantel hatte sie sich tatsächlich erst kürzlich von Arthurs Geld geleistet.

»Natürlich habe ich das gemerkt«, erwiderte er ärgerlich. »Ich merke auch, dass du heute ein neues Kleid trägst. Und ich merke, dass du dich gerade auf einen gefährlichen Pfad begibst. Sei vorsichtig, Mia! Wenn du weiterhin herkommen möchtest, dann freut mich das. Allerdings werden wir dann auch weiterhin nach meinen Regeln spielen. Wenn dir das nicht passt, steht es dir jederzeit frei, zu gehen. Und behaupte ja nicht wieder, Geld bedeute nichts. Diese hübschen kleinen Annehmlichkeiten, die man sich mit Geld erkaufen kann, sind doch wohl eine Menge wert, nicht wahr?«

Als Mia verunsichert schwieg, fuhr er fort: »Oder liege ich falsch damit, dass diese ganzen Neuanschaffungen in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem kleinen Nebenjob hier stehen?«

»Nebenjob ist gut«, entgegnete Mia verdrießlich. »Ehrlich gesagt ist das zurzeit mein Hauptjob.«

Arthur starrte sie entgeistert an. »Das ist nicht dein Ernst.«

Bestürzt erkannte Mia, was für ein Riesenfehler ihre letzte Bemerkung gewesen war.

»Leider doch«, murmelte sie und konzentrierte sich darauf, die letzten Spaghetti auf ihre Gabel zu befördern. Ein Gefühl von Panik stieg in ihr auf. Dieser arrogante Arthur sollte auf keinen Fall etwas von ihrem Scheitern erfahren, das ging ihn alles nichts an.

Aber er ließ nicht locker. »Was heißt das?«, fragte er.

»Was das heißt?« Genervt hob sie den Kopf. War er wirklich so dämlich? »Das heißt, dass ich arbeitslos bin.«

»Arbeitslos.« Aus seinem Mund klang das so, als hätte sie gesagt, sie habe AIDS. »Wie lange denn schon?«

»Ein gutes halbes Jahr. Allmählich wird es eng, falls du verstehst, was ich meine.« Es war nicht ihre Absicht, so bissig zu klingen, aber sie bewegten sich auf gefährlich schwankendem Grund und sie drohte jeden Moment abzustürzen.

Arthur war fassungslos. »Gibt es niemanden, der dich unterstützt? Ich meine … gibt es keinen Mann, oder so?«

»Du bist der Mann, der mich unterstützt.« Mia lachte bitter über sein entsetztes Gesicht. »Herrgott nochmal, Arthur, was hast du denn gedacht? Dass ich eine gelangweilte Ehefrau bin, die sich hier mit dir ein bisschen die Zeit vertreibt und ihr Taschengeld aufbessert, während ihr Mann brav den Lebensunterhalt verdient?« Sie sah ihm an, dass er tatsächlich genau das gedacht hatte. »Tja, tut mir leid. So ist es leider nicht. Und ja, du hast ganz recht, den Mantel und das Kleid habe ich tatsächlich von deinem Geld gekauft. Beides hätte ich mir sonst nämlich nie leisten können.«

Ihr Ärger hielt nur kurz an. Eine tiefe Traurigkeit schob ihn beiseite und nahm Mia alle Energie.

Arthur sah sie lange an. Seine Narbe war im Schein der Küchenlampe deutlich sichtbar, sie zerschnitt die Symmetrie seines schönen Gesichts und gab ihm einen verwegenen Ausdruck. Mia fand, dass er selten attraktiver ausgesehen hatte.

Sachlich stellte Arthur die nächste Frage: »Wie ist es denn dazu gekommen?«

Hilflos hob sie die Hände. Wie sollte sie ihm das alles erklären? Wo sollte sie anfangen?

»Es gibt keinen besonderen Grund. Es ist einfach alles so passiert. Erst ist mein Mann abgehauen. Dann habe ich meinen Job verloren. Finanzkrise und so, du weißt schon.« Sie schickte einen bösen Blick in seine Richtung. Du warst doch auch einer von denen, sagte sie stumm, einer dieser gierigen Banker, die den Hals nicht voll genug kriegen konnten und uns alle in diesen Schlamassel befördert haben. Arthur reagierte nicht auf ihren stillen Vorwurf und Mia fuhr fort: »Ich konnte die Miete unserer großen Wohnung alleine nicht mehr bezahlen. Also bin ich dort auch ausgezogen.« Ihre Stimme zitterte gefährlich. »Tja … jetzt habe ich nichts mehr. Scheint so, dass ich auf ganzer Linie versagt habe.«

Warum erzählte sie ihm das alles? Er hatte nur nach ihrem Job gefragt, aber sie musste ihm gleich das gesamte Paket präsentieren. Was war sie doch für eine blöde Kuh! Resigniert sackte sie in sich zusammen. So mutlos und verzagt hatte sie sich ewig nicht gefühlt.

»Was hast du denn beruflich gemacht?«, fragte Arthur.

»Ich war Werbetexterin.«

»Aber da wird doch was zu machen sein. Die Branche erholt sich ja schon wieder etwas.«

Mia rieb sich erschöpft die Augen. Aus Arthurs Mund klang alles so leicht, so spielerisch. Er hatte keine Ahnung, wie viel Kraft es sie manchmal allein kostete, aufzustehen und sich einem weiteren erfolglosen Tag zu stellen.

»Ich habe trotzdem keine Chance mehr. Wer in meinem Alter einmal raus ist, hat verloren.«

Arthur musterte sie erstaunt. »Wieso? Wie alt bist du denn?«

Mia zögerte. Arthur schien sie für deutlich jünger zu halten, als sie war. Auch andere Leute ließen sich öfter von ihrer frischen, mädchenhaften Erscheinung täuschen. Wäre ja eigentlich ganz hübsch, Arthur seine Illusion zu lassen. Stattdessen musste sie sich nun wohl ein weiteres Versagen eingestehen – sie war nicht mal im passenden Alter, um diesen eigenwilligen Mann zufriedenzustellen. Es war zum Heulen.

»Ich bin neununddreißig«, sagte sie.

Wie erwartet weiteten sich Arthurs Augen vor Erstaunen. »Ich dachte, du seist viel jünger.«

Sie freute sich nicht über das Kompliment. »Tja … enttäuscht?«

»Nein.« Er zögerte leicht. »Ganz und gar nicht.«

»Aha.«

Arthur trank einen Schluck Wein und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Blick war undurchdringlich.

»Und wie alt bist du?«, fragte Mia, hauptsächlich, um ihre Verwirrung zu überspielen.

»Dreiundvierzig. Und sag jetzt ja nicht, du hättest gedacht, ich sei viel älter.« Drohend funkelte er sie an.

Mia grinste. »Ähm … nein, ich sage nichts.« Sie behielt für sich, dass sie Arthur tatsächlich für bedeutend älter gehalten hatte. Dreiundvierzig, dachte sie erstaunt, und ihr schoss durch den Kopf, was Arthur vorhin über seine Arbeit gesagt hatte. Ich war früher mal ein recht erfolgreicher Investmentbanker. Das klang so, als sei es Jahrzehnte her. Mit dreiundvierzig Jahren hatte Arthur bereits alles geschafft und sich mehr oder weniger zur Ruhe gesetzt. Die Scham über ihr eigenes Scheitern überwältigte Mia. Wie aus weiter Ferne hörte sie Arthurs Stimme:

„… kommt mir nicht so hoffnungslos vor.«

Mühsam brachte sie hervor: »Es ist aber so. Man hat nur Erfolg, wenn man ununterbrochen am Ball bleibt. Sobald man einmal hinfällt, kommt man nicht mehr auf die Beine.«

Diesmal behauptete Arthur nicht, dass es doch ganz leicht sei, wieder aufzustehen. Stattdessen sagte er leise, wie zu sich selbst: »Ist das so?«

Mia presste die Lippen aufeinander und zu ihrem eigenen Entsetzen schossen ihr plötzlich Tränen in die Augen. Sie schlug erschrocken die Hände vors Gesicht und versuchte verzweifelt, ihre Fassung wiederzugewinnen. Wieso heulte sie ausgerechnet hier vor diesem blöden Arthur, der vermutlich nicht mal wusste, was Tränen waren? Ihr war das schrecklich peinlich.

Arthur stand auf, holte aus einer Schublade eine Packung Kleenex und reichte sie ihr wortlos. Dankbar griff sie danach. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, aus Furcht, in seinem Blick nur Verachtung zu lesen. Sein Schweigen war deutlich genug. Sie putzte sich die Nase, schloss die Augen und holte ein paar Mal tief Luft, bemüht, das Beben in ihrer Brust wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dann stand sie auf und warf die nassen, zerknüllten Papiertücher in den Müll. Sie fühlte sich erbärmlich.

»Gehts wieder?«, hörte sie Arthurs Stimme in ihrem Rücken, leise und überraschend warm. Sie nickte, ohne sich umzudrehen.

»Das Leben beutelt einen manchmal ganz schön, was?«, fuhr Arthur fort.

Wieder nickte Mia stumm, hilflos und zutiefst beschämt. Sie suchte Halt am Spülbecken, stützte sich mit den Händen ab und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Vielleicht wenigstens ein paar erklärende Sätze zu ihren Tränen hinzufügen?

»Es ist so …«, hob sie an und brach wieder ab, als sie merkte, dass sie ihre Ängste, ihre Verzweiflung nicht in Worte zu fassen vermochte.

»Du bist mir keine Erklärung schuldig«, warf Arthur ein. Er stand dicht hinter ihr, so dicht, dass sie einander fast berührten. Es nahm ihr die Luft.

»Ach«, fuhr sie mit einer wegwerfenden Handbewegung fort, »du kannst das sowieso nicht verstehen.«

»Kann ich nicht? Oh, natürlich, schon klar. Wer in so einer Wohnung lebt und so ein dickes Bankkonto hat wie ich, für den muss das Leben ja ein ununterbrochener Sonntagsspaziergang sein.«

Wie feine Nadelspitzen streifte sein Atem ihr Ohr. Da war er wieder, der vertraute Zorn, die kalte Verachtung.

»Das ist es doch, was du ständig denkst, richtig? So ist das aber nicht.« Er trat noch dichter an sie heran. »Nur weil ich etwas mehr Geld habe als du und gerne mal den arroganten Sack raushängen lasse, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht weiß, wie es sich anfühlt, am Boden zu liegen.«

Über den arroganten Sack musste sie schmunzeln. Mit einem schiefen Grinsen und verheulten Augen drehte sie sich zu Arthur um. Er stand so dicht vor ihr, dass sie mit ihrer Nase seine Brust berührte.

»Tut mir leid.« Ihre Stimme zitterte immer noch gefährlich. »Ich … ich bin wohl grade ziemlich hinüber.«

»Das sehe ich.«

Ihre Nase stieß in sein frisch gebügeltes Hemd und ein betörender Duft nach Arthurs Parfüm, das ihr mittlerweile sehr vertraut war, umhüllte sie. Mia wagte nicht, ihr verheultes Gesicht zu bewegen, aus Furcht, sie könne das teure Hemd schmutzig machen, und Arthur rührte sich auch nicht vom Fleck. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er endlich zur Seite trat und Mia wieder frei atmen konnte.

Arthur wies zur Terrassentür hinaus. »Mir scheint, das Unwetter ist vorbei. Ich glaube, ich fahre dich mal nach Hause, okay?«

Mia nickte, dankbar und verwirrt zugleich, dass Arthur keine weiteren Fragen stellte und sich sogar noch anbot, sie heimzubringen.

Schweigend verließen sie die Wohnung und fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Arthur fuhr einen silbernen Mercedes, eine große, schwere Limousine, die breit wie ein Schiff war. Mia hatte etwas Sportlicheres erwartet, so eine kleine Flunder, schick anzusehen, aber total unpraktisch, ein typisches Männerspielzeug eben. In der Limousine fühlte Mia sich wie ein kleines Mädchen, das mit Papi auf große Fahrt gehen darf, während Arthur seine Angeberkarre konzentriert und souverän durch den dichten Wochenendverkehr steuerte.

Unterwegs sahen sie Feuerwehrleute, die umgestürzte Bäume von den Straßen räumten. Das kurze, aber heftige Unwetter hatte erheblichen Schaden angerichtet. Sie sprachen den ganzen Weg lang kein Wort, und als Arthur vor ihrem Haus parkte, saßen sie noch einen Moment in verlegenem Schweigen nebeneinander.

»Danke für den schönen Abend«, sagte Mia schließlich.

»Gleichfalls. Tut mir leid, dass ich wohl die falschen Fragen gestellt habe. Ich hätte mich an unsere Spielregeln halten sollen.«

»Ach, diese blöden Regeln.« Mia berührte ihn leicht am Arm. Er wandte ihr sein Gesicht zu, aber sie sah im Dämmerlicht den Ausdruck seiner Augen nicht. Sie öffnete die Autotür.

»Gute Nacht«, sagte sie leise.

»Gute Nacht.« Seine Stimme klang warm und dunkel.

Mia eilte zum Haus hinüber und sah dem Wagen hinterher, der die enge Straße hinabfuhr und um die nächste Ecke verschwand.

In ihrem Wohnzimmer entdeckte Mia auf dem Fensterbrett eine kleine Wasserlache. Der Sturm hatte den Regen durch das undichte Fenster gedrückt. Seufzend wischte sie das Wasser fort. Im Fernsehen erfuhr sie von schweren Verwüstungen, die das Unwetter angerichtet hatte. Niemand hatte den Orkan vorhergesehen, daher waren auch keine Warnungen ausgesprochen worden. Er fegte urplötzlich über die Stadt und zog genauso schnell weiter.

Mia fühlte sich unendlich müde und hatte trotzdem kein Bedürfnis, ins Bett zu gehen. Die Traurigkeit hing noch an ihr wie Arthurs Geruch, verwirrend und lästig. In letzter Zeit war doch alles ganz gut gelaufen. Sie verstand nicht, warum sie gerade an diesem stürmischen Tag im Mai, unter dem durchdringenden Blick von Arthurs blauen Augen, erneut allen Kampfgeist verloren hatte.

Auf einmal musste sie an Frank denken, der mit seiner Fröhlichkeit und seiner Gier nach Leben ganz anders als dieser steife, kalte Arthur war. Als sie heirateten, hatte sie geglaubt, nun sei alles gut, nun könne sie sich für die nächsten vierzig Jahre entspannen. Sie hatte in ihrem wunderschönen cremefarbenen Kleid vor dem Pfarrer gestanden und gedacht, er werde sie und Frank bis in alle Ewigkeit verbinden. Stattdessen hatte diese seltsame Ehe gerade mal vier Jahre gehalten.

Ebbe und Glut

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