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Mia sah die Anzeige eher zufällig. Auf der Suche nach dem Kinoprogramm durchstöberte sie die Webseiten des Szene-Magazins und blieb aus Neugier bei den Kontaktanzeigen hängen. Da suchte ein Paar eine Gespielin für heiße Stunden zu dritt. Ein Mann wünschte sich eine Partnerin für eine fesselnde Beziehung. Ein Jüngelchen wollte von einer reifen Frau entjungfert werden.

Mia fragte sich, was für Menschen solche Anzeigen aufgaben. Waren das alles Verrückte? Oder moderne Abenteurer, auf der Suche nach einer Erfüllung, die sie sonst nirgends fanden?

»Blowjob zu vergeben«, stand irgendwo dazwischen. »Sie blasen. Ich genieße und zahle. Mehr nicht.«

Mehr nicht? Was sollte das heißen – mehr nicht? Gab es nicht mehr als Blasen? Durfte die Frau nicht genießen? Wie stellte dieser Kerl sich das vor? Ich genieße und zahle.

Lächerlich, was Männer sich einbildeten!

Diese ganzen seltsamen Wünsche irritierten Mia. Sie hatte noch nie das Verlangen verspürt, sich mit einem wildfremden Mann zum Sex zu verabreden. Aber sie hatte das auch nicht nötig. Sie war glücklich verheiratet.

Gewesen, korrigierte sie in Gedanken und bemühte sich, den feinen Stich in ihrer Brust zu ignorieren. Sie war glücklich verheiratet gewesen – bis sich ihre Ehe innerhalb einer einzigen Minute als Lüge entpuppte. Seitdem war nichts mehr in ihrem Leben so wie früher. Trotzdem war Mia längst nicht so verzweifelt, um sich auf eine dieser Anzeigen zu melden. Sie schüttelte den Kopf und klickte zurück zum Kinoprogramm. Aber es lief kein Film, der sie interessierte.

Blowjob zu vergeben – immer wieder kam ihr der Satz in den Sinn. Seltsam. Was war daran so faszinierend?

Sie zog ihren Mantel an und ging spazieren. Ein wintergrauer Himmel hing über Hamburg, der Ostwind war eisig. Das Wasser der Elbe schlug gegen die Steine an der Uferböschung. Nur wenige Spaziergänger waren unterwegs.

Mia steckte ihre Hände in die Manteltaschen und sah einem großen Hund hinterher, der über den Strand rannte. Das Wetter deprimierte sie. Ihr ganzes Leben deprimierte sie. Frank hatte sie sitzen lassen, ihren Job in einer Werbeagentur hatte sie verloren, der Roman, der ihr Ruhm und Geld bringen sollte, verstaubte in der Schublade, und in diesem Jahr drohte auch noch ihr vierzigster Geburtstag.

Was für ein Albtraum!

Blowjob, dachte sie und kostete die Worte auf ihrer Zunge, gab dem heimlichen Sehnen Raum, das sich in ihrem Bauch ausbreitete. Sie hätte auf einen Schlag einen Job und einen Mann. Mach dich nicht lächerlich, schalt eine verächtliche Stimme in ihr, das wäre doch kein Job. Du wärst eine Hure, weiter nichts. Es wäre ein Abenteuer, ein Experiment, ein wenig Ablenkung im öden Alltag einer arbeitslosen Singlefrau, schmeichelte ihr eine andere Stimme.

Ein Mann kam ihr entgegen, groß und gut aussehend. Was, wenn er es wäre? Ihre Augen verfingen sich eine Sekunde lang ineinander. Mia hielt den Atem an, ihr Herz setzte einen Schlag aus, dann war es vorbei. Der Mann pfiff nach dem Hund, der zwischen den Steinen an der Uferböschung herumschnüffelte. Mia drehte sich um und ging heimwärts.

Sie dachte an Frank. Vor dem Gesetz waren sie noch Mann und Frau, aber sie konnte den Tag kaum erwarten, an dem sie endlich auch auf dem Papier geschieden waren. Keine Minute länger als zwingend nötig wollte sie mit diesem Mann verbunden sein. Wie so oft, wenn sie an Frank dachte, stieg in ihr eine ohnmächtige Wut auf.

Und plötzlich fasste sie einen Entschluss.

»Pah, Frank Lohmann«, sagte sie mit grimmiger Entschlossenheit in die Stille ihrer Wohnung hinein, »was du kannst, kann ich schon lange.«

Sie musste dennoch zwei Gläser Wein trinken, bevor sie den Mut fand, die Mail abzuschicken.

»Hallo, ich bin an dem Job interessiert. Wie sehen die Bedingungen aus?«

Die Antwort kam noch am selben Abend. Mia schlug das Herz bis zum Hals, als sie die Mail öffnete.

»Hallo,

danke für Ihr Interesse. Ich schlage vor, dass wir uns mal treffen und schauen, ob wir uns dieses besondere Arrangement miteinander vorstellen können. Falls ja, läuft es so ab: Sie kommen ein-, zweimal pro Woche zu mir, erledigen Ihren Job, ich bezahle Sie, und fertig. Sie müssen nur blasen, mehr nicht. Ich werde Sie nicht anfassen, werde nicht mehr von Ihnen verlangen. Für einmal Blasen gibt es 50 Euro.

Gruß A.«

Atemlos starrte Mia auf ihren Bildschirm und las die Mail noch mal und noch mal. Sie musste vollkommen verrückt geworden sein, dass sie auch nur in Erwägung zog, sich mit diesem Mann zu verabreden. Aber eine seltsame Aufregung hatte sie erfasst. Angenommen, sie ginge auf den Deal ein, dann könnte sie im Monat bis zu vierhundert Euro verdienen, bar auf die Hand, schwarz. Und es war mit keiner nennenswerten Anstrengung verbunden. Im Gegenteil, vielleicht würde es ihr sogar Spaß machen. Sie malte sich lustvolle Begegnungen aus, erotische Abenteuer, sinnliche Verführungen. Und sie stellte sich vor, was sie sich alles würde leisten können. Vierhundert Euro – das war für sie ein Vermögen. Mia schloss die Augen. Es konnte natürlich auch sein, dass der Typ total durchgeknallt war, krank im Kopf, ein Vergewaltiger. Es konnte sein, dass er fett und hässlich war und aus dem Mund stank – von anderen Körperteilen ganz zu schweigen.

Mia atmete tief durch und streckte sich auf ihrem Sofa aus. Wer wagt, gewinnt, säuselte die Verführerstimme in ihrem Ohr. Ein lustvolles Prickeln erfasste ihren Körper. Ja, dachte sie, oh ja!

Mia machte sich sorgfältig zurecht. Sie duschte und rasierte sich gründlich. Anschließend cremte sie sich am ganzen Körper mit nach Rosen duftender Bodybutter ein, einem sündhaft teuren Zeug, das ihre Freundin Henny ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie kramte die schwarzen Spitzendessous hervor, die sie von Frank zum zweiten Hochzeitstag bekommen hatte (wenn der wüsste!), und zog eine schwarze Strumpfhose an. Sie brauchte lange, bevor sie sich für ein grau meliertes Wollkleid mit langen Ärmeln entschied. Es endete knapp über ihren Knien und sah nicht zu freizügig, aber auch nicht zu langweilig aus. Nervös biss sie sich auf die Lippen. Dann machte sie sich auf den Weg.

Der Treffpunkt befand sich unten an der Elbe, in der neu gebauten HafenCity. Das war die erste Überraschung. Dies war auf jeden Fall kein Ort, an dem verwahrloste Penner lebten. Hier wohnten die Schönen und Erfolgreichen der Stadt, die Glücklichen, die alles hatten und urbanen Luxus liebten, das Exklusive, Außergewöhnliche. Hier wohnte niemand, der im Szene-Magazin schräge Anzeigen aufgab.

Der Mann hatte ihr angeboten, sich an einem öffentlichen Ort in der Nähe seines Hauses zu treffen. Mia war erleichtert. Sie hätte es unheimlich gefunden, sofort zu ihm in die Wohnung zu kommen. So aber konnte sie jederzeit gehen, wenn er ihr nicht gefiel, es war ein Spiel, bei dem sie keinerlei Risiko einging. Sie fand die vereinbarte Stelle, lehnte sich an ein Geländer und starrte in das glänzende Wasser des Hafenbeckens hinunter. Das Viertel war elegant, aber tot. Viel Beton, futuristische Hausfassaden, enge Straßenschluchten, durch die der Wind pfiff, kaum Grün. Wie konnte man hier leben? Wo fand man hier Wärme und Geborgenheit?

»Hallo, sind Sie Mia?«

Die Stimme faszinierte sie, noch bevor sie den Mann sah, zu dem sie gehörte. Dunkel und sehr erotisch. Mia drehte sich aufgeregt um. Sie blickte in zwei leuchtende blaue Augen, die sie zu durchbohren schienen.

»Äh, ja, hallo«, sagte sie verlegen.

»Ich bin Arthur.« Ohne die flüchtigste Spur eines Lächelns streckte er Mia eine Hand entgegen. Er musterte sie mit einem schnellen, wachen Blick und erfasste auf einen Schlag alles an ihr – das schmale Gesicht, die dicken, rotbraunen Haare, die sie hochgesteckt hatte, ihr nervöses Lachen, die langen Beine, die in teuren Stiefeln steckten – Relikte aus Zeiten, in denen es ihr finanziell erheblich besser gegangen war.

Arthur war groß und schlank, mit einem markanten Gesicht. Sein fast schwarzes Haar war sehr kurz geschnitten und bereits von vielen Silberfäden durchzogen, auf der Stirn hatten sich tiefe Furchen eingegraben. Trotz der sichtbaren Alterszeichen sah er außergewöhnlich gut aus und hatte eine so starke Ausstrahlung, dass die Welt um ihn herum in Bedeutungslosigkeit zu versinken schien.

Eine vage Erinnerung stieg in Mia auf, ein Gefühl, als würde sie Arthur von irgendwoher kennen, aber es fiel ihr nicht ein. Vermutlich lag das nur an seiner Präsenz, die Mia fast unheimlich war.

Sie hatte einen jüngeren Mann erwartet, keinen, der nicht schon schätzungsweise um die fünfzig war. Vor allem aber hatte sie einen Mann erwartet, der etwas Spitzbübisches an sich hatte, einen Lausbuben, der sich einen Spaß aus frechen Verführungen machte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie beide über diese absurde Anzeige lachen würden, bevor sie nach oben gehen und sich voller Lust und Vergnügen lieben würden.

Doch Arthur war ganz anders. Er trug einen eleganten Wollmantel, unter dem eine Anzughose zum Vorschein kam. Alles an ihm sah teuer, perfekt und sehr männlich aus. Männer wie er saßen in Aufsichtsräten und regierten die Welt, sie jetteten von Kontinent zu Kontinent, sprachen fließend sieben Sprachen, waren verheiratet und hatten zwei Geliebte. Männer wie Arthur hatten es nicht nötig, sich mit einer Kontaktanzeige eine Frau zu suchen, die ihnen für Geld gelegentlich ein wenig Erleichterung verschaffte.

Allein die Vorstellung, diesen Mann zu bedienen, fand Mia lächerlich.

»Und nun?« Sie sah Arthur unschlüssig an. Sie war sicher, dass er sich auch etwas anderes vorgestellt hatte, eine vollbusige Blondine vielleicht, deren Lippenstift eine Spur zu grell war, oder das genaue Gegenteil, eine Frau, die dieselbe kalte Eleganz wie er ausstrahlte. Vor allem aber hatte er vermutlich eine erheblich jüngere Frau erwartet, eine knackige Zwanzigjährige, die sich mit derart schrägen Jobs ihr Studium finanzierte, und keine arbeitslose Enddreißigerin, die vor lauter Scham und Verlegenheit kaum ein Wort herausbrachte.

»Setzen wir uns doch einen Moment.« Arthur wies auf eine Bank am Kai. Er wartete, bis Mia Platz genommen hatte, bevor er sich neben ihr niederließ, nah genug, um im Kontakt mit ihr zu bleiben, doch nicht so dicht, dass sie sich von ihm bedrängt fühlte.

»Das mag Ihnen alles seltsam vorkommen. Aber Sie können natürlich jederzeit gehen. Jetzt sofort oder zu jedem anderen Zeitpunkt.« Er sprach leise und mit großem Ernst.

Mia musterte ihn aufmerksam. Er hatte ein klassisches Profil mit einer geraden Nase und einem kräftigen Kinn. Beim Sprechen wurden makellose Zähne in seinem Mund sichtbar. Als er den Kopf ganz in ihre Richtung drehte, sah sie eine feine, gezackte Linie, die sich von seinem linken Auge bis hinunter auf die Wange zog. Eine Narbe. Ganz so makellos war dieser Arthur also doch nicht.

»Egal, wie Sie sich entscheiden, Verschwiegenheit ist mir sehr wichtig. Wenn Sie jetzt aufstehen und gehen, kann ich das verstehen. Sie werden garantiert nie wieder von mir hören. Wenn Sie aber heute oder in den nächsten Tagen zu mir in die Wohnung kommen, bitte ich Sie um absolute Diskretion. Ich erwarte, dass Sie mit niemandem über das sprechen, was zwischen uns passiert. Umgekehrt können Sie sicher sein, dass Ihnen nichts geschehen wird. Ich verlange nichts, was Sie mir nicht freiwillig geben wollen.« Arthur musterte Mia eindringlich, bis sie vor Verlegenheit die Augen niederschlug. »Was denken Sie?«

Mia war verwirrt. Arthur schien nicht eine Sekunde lang infrage zu stellen, dass sie die Richtige war, um diesen Job auszuüben. Er vertraute ihr gerade ohne zu zögern sein bestes Stück an. Wie absurd. Am liebsten hätte Mia gerufen, Arthur solle nach Hause gehen, er solle weiter in seinen Aufsichtsräten herumsitzen und mit Millionen jonglieren, statt sich mit ihr, einer arbeitslosen Werbetexterin einzulassen. Sie wollte sagen, dass sie sich überfordert fühlte, dass sie Angst vor Arthur und seiner Eleganz hatte, Angst, ihm nicht gut genug zu sein, Angst, sich vor ihm zu blamieren.

»Können Sie sich das denn mit mir vorstellen?«, fragte sie unsicher.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Arthurs Gesicht, ohne seine Augen zu erreichen. »Natürlich kann ich das. Sie sind eine attraktive Frau.« Mia freute sich schon über das Kompliment, als er hinzufügte: »Außerdem bin ich nicht sehr anspruchsvoll, ich habe schließlich keine große Wahl.«

Mias Freude schlug augenblicklich in Ärger um. Was für ein unverschämter Kerl! Glaubte der, er könne sich alles erlauben, bloß weil er Geld hatte?

Der Februarwind blies von der Elbe herauf. Mia zog fröstelnd die Schultern hoch. Sie zögerte. Arthurs herablassende Bemerkung ärgerte sie. Andererseits war sie jetzt schon so weit gegangen. War es nicht albern, in letzter Sekunde zu kneifen? Noch dazu bei einem so gut aussehenden Mann?

»Also gut«, sagte sie entschieden, »wir probieren es mal. Aber ich gehe sofort, wenn ich mich unwohl fühle. Und ich will sechzig Euro für jedes Kommen haben.« Der Doppeldeutigkeit ihres letzten Satzes wurde sie sich erst bewusst, als sie ihn bereits ausgesprochen hatte.

Arthur runzelte die Stirn. »Wie lange werden Sie wohl alles in allem für Ihren Job brauchen? Zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Das macht bei fünfzig Euro also mindestens zweihundert pro Stunde. Finden Sie nicht, dass das schon ein ganz guter Satz ist?«

»Außergewöhnliche Jobs sollte man auch außergewöhnlich bezahlen«, entgegnete Mia. Die Sache fing an, ihr Spaß zu machen.

»Einverstanden.« Arthur streckte ihr die Hand entgegen. »Sechzig Euro, keine Fragen und absolute Diskretion.«

Sie besiegelten ihren Vertrag mit einem festen Händedruck.

Mia stand auf. »Wollen Sie, dass ich sofort mit der, äh, Arbeit anfange, oder soll ich in den nächsten Tagen wiederkommen?«

Arthur erhob sich ebenfalls. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne sofort beginnen. Dann sehen wir gleich, ob es auch funktioniert.«

Mia nickte zustimmend. Die Spannung in ihr wuchs ins Unerträgliche. Sie hatte seit Ewigkeiten keinen Sex mehr gehabt. Und es war Lichtjahre her, seit sie das letzte Mal Sex mit einem fremden Mann gehabt hatte. Seit damals hatte sich ihr Körper deutlich verändert, und zwar keineswegs zu ihrem Vorteil. Würde sie Arthurs Ansprüchen genügen? Was würde er zu den Speckröllchen auf ihren Hüften sagen? Zu der Orangenhaut an ihren schlaffen Oberschenkeln und den Falten auf ihrem Dekolleté? Nicht dass sie wirklich dick war, im Gegenteil. Doch in der letzten Zeit hatte ihr Körper eine beunruhigende Tendenz entwickelt, breit und schlaff zu werden. Sie fühlte sich unbehaglich, als sie sich schweigend von Arthur in eins der Häuser führen ließ, die wie Bauklötze am Kai standen.

Sie fuhren mit dem Aufzug in den vierten Stock hinauf. Natürlich wohnte Arthur in der obersten Etage, das war nicht anders zu erwarten gewesen. Seine Wohnung war ein Traum aus lichtdurchfluteten Räumen auf drei Ebenen. Die sparsame Möblierung mit Antiquitäten und Designermöbeln unterstrich den luftigen Charakter der Wohnung. Jedes Teil hatte genau den richtigen Platz, jedes Bild war mit Bedacht ausgewählt worden und harmonierte perfekt mit seiner Umgebung. Persönliche Dinge wie Fotos oder Bücher fehlten jedoch, das Wohnzimmer wirkte so leblos wie ein Möbelladen.

Mia trat an eins der Fenster, die bis zum Boden reichten und den Blick auf Hafen und Elbe freigaben.

»Das ist ja fantastisch!«, rief sie begeistert.

Undeutlich hörte sie Arthur eine Antwort murmeln. Er war die Treppe hinauf in die offene Küche gegangen, die sich zusammen mit dem Essbereich auf der obersten Ebene befand. Er kam mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern zurück.

»Ich dachte, ein kleiner Schluck hilft uns vielleicht, den ersten Schritt zu machen.« Er reichte Mia ein Glas.

Sie griff dankbar danach und kippte das kostbare Getränk vor Aufregung in einem Zug hinunter.

»Nun ja«, bemerkte Arthur trocken, während er ihr nachschenkte, »manchmal reicht ein einziger Schluck wohl nicht.«

Mia lachte. Der Alkohol entspannte sie, und dieser Arthur schien tatsächlich ein lebendiger Mensch zu sein. Nachdem sie das zweite Glas geleert hatte, sagte er jedoch sehr nüchtern:

»Also gut, kommen wir zum eigentlichen Teil unserer Zusammenkunft.«

Er stellte die Gläser auf dem Couchtisch ab und setzte sich in die Mitte eines weißen Sofas, mit Blick auf die Elbe. Mia blieb unsicher stehen. Arthur hatte die Anzugjacke abgelegt und die Krawatte gelockert. Trotzdem sah er immer noch wie der Chef der Weltbank aus und nicht wie ein Mann, mit dem man sich hemmungslos in den Laken wälzte.

»Na dann …«, Arthur machte eine einladende Handbewegung in Richtung seines Schoßes. »Dann machen Sie mal.«

»Einfach so? Ohne Vorspiel und alles?«

»Ja, genau. Einfach so. Sie blasen, ich zahle, so stand es doch in der Anzeige.«

»Äh, ja …«

Mia bewegte sich langsam auf Arthur zu, der sie mit einem Ausdruck abwartender Neugier betrachtete. Wurde man so, wenn man zu lange in Luxushotels unter karibischer Sonne Urlaub gemacht hatte? Wenn man zu viele Aktien kaufte? Wenn man zu oft zum Vorstandsvorsitzenden gewählt wurde? Mia konnte sich keinen Reim darauf machen. Arthur wollte wirklich nur, dass sie seinen Schwanz aus der Hose holte, daran herumlutschte, ihn wieder einpackte, und fertig? Es schien ganz so.

Das war wirklich ekelhaft. Und total pervers.

Und außerdem – wo blieb sie selbst dabei? Was war mit ihrem Spaß, mit lustvollen Verführungen, wohligem Rekeln auf dem flauschigen Teppich vor dem riesigen Fernseher in der Ecke da hinten? Und warum zum Teufel hatte sie sich mit dieser sauteuren Bodybutter eingecremt und ihre schönste Wäsche angezogen?

Verwirrt kniete sie sich auf den Parkettboden zu Arthurs Füßen. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Was, um Himmels willen, tat sie hier? Irritiert und unsicher fummelte sie an Arthurs Hose herum, bis sie den Reißverschluss geöffnet hatte. Zum Vorschein kam eine schwarze Unterhose, unter der sich deutlich die Konturen eines hübschen Pakets abzeichneten. War Arthur etwa schon erregt? Das gab es doch gar nicht. Ein Mann in seinem Alter.

Mia strich behutsam mit den Fingern über den Stoff seiner Unterhose. Sie wollte den Bund hinunter schieben, doch Arthur fasste in den Eingriff und zog seinen steifen Penis hervor, der Mia groß und beängstigend fremd entgegen sprang. Arthur legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Mia umfasste seine pralle Männlichkeit, die so perfekt war wie der ganze restliche Mann. Arthur war komplett rasiert und roch auch an seinen intimsten Stellen frisch und verführerisch nach Seife, Sauberkeit und männlicher Kraft. Mia massierte ihn leicht und spürte sein Gewicht und seine Lebendigkeit in ihrer Hand. Sie beugte sich vor und streifte die zarte Haut mit ihrem Mund. Arthur stöhnte leise auf. Als Mia ihre Lippen fester um ihn legen wollte, richtete er sich jäh auf.

»Moment!«

Er zog aus seiner Hosentasche ein Kondomtütchen. Mia war überrascht und erleichtert zugleich. Sie hatte noch nie Oralsex mit Gummi gehabt und konnte sich nicht vorstellen, dass sie dabei Vergnügen empfinden würde. Andererseits – wer weiß, mit wie vielen Frauen dieser Arthur es sonst so trieb; Safer Sex war da in jedem Fall angebracht. Nachdem Arthur sich eingepackt hatte, beugte Mia sich erneut über ihn. Statt männlich-herber Frische schlug ihr nun ein süßlicher Geruch entgegen. Das Gummi schmeckte abscheulich.

»Bäh, was ist denn das?« Mia verzog angewidert das Gesicht.

»Was denn?« Arthur riss erschrocken die Augen auf.

»Ist das Kondom irgendwie aromatisiert?«

»Keine Ahnung. Ist es sehr schlimm? Dann suche ich ein anderes.«

Mia las die Aufschrift auf dem Kondomtütchen: »Mit Erdbeergeschmack.« Sie schüttelte sich. Dann fiel ihr Blick auf Arthurs gequälten Gesichtsausdruck. »Ist schon in Ordnung«, beeilte sie sich zu sagen und strich wie zur Beruhigung zart über seinen Penis, der schon gefährlich an Spannung verloren hatte.

Arthur kam jedoch schnell wieder in Schwung und diesmal lief alles störungsfrei. Der Erdbeergeschmack war zwar widerlich, aber irgendwie verstärkte er nur das distanzierte Gefühl, mit dem Mia diesen schrägen Job verrichtete. Arthur hingegen genoss ihre Verwöhnungen sichtlich.

Mia verharrte einen Moment reglos, nachdem er gekommen war. Langsam richtete sie sich auf. Arthur hatte die Augen immer noch geschlossen, sein Gesicht war seltsam verzerrt und sein Atem ging schnell und flach. Mit leichter Hand fuhr Mia über den feinen Wollstoff seiner Hose und spürte darunter die kräftigen Oberschenkelmuskeln.

Arthur öffnete blitzartig die Augen und richtete sich auf.

»Danke«, sagte er knapp, streifte sich das Gummi ab und verstaute sein Geschlecht wieder in der Hose.

»Das war’s?« Mia konnte es immer noch nicht glauben. Sie stand auf und streckte den Rücken durch.

»Das war’s.« Arthur stand ebenfalls auf. Er ging zu einer Kommode und kam mit ein paar Geldscheinen zurück. »Sechzig Euro, wie vereinbart. Werden Sie wiederkommen?«

»Sie?« Mia starrte Arthur an. Er hatte soeben vor ihr die Hosen heruntergelassen, sie hatte ihm einen geblasen, und jetzt siezte er sie immer noch? Der Typ musste komplett gestört sein. Aber Arthur bemerkte Mias Irritation gar nicht. Er fuhr sich durch die Haare und presste die Lippen aufeinander.

»Also, wie ist es – kommen Sie wieder?« In seiner Stimme lag ein drängender Ton.

Mias Wangen waren gerötet, ihre Frisur hatte sich ein wenig aufgelöst. Sie hob den Kopf und sah Arthur offen an. Zum ersten Mal gelang es ihr, sich von diesen durchdringenden Augen nicht einschüchtern zu lassen. Während sie das Gefühl hatte, Arthur schaue ihr mitten in die Seele, vermochte sie umgekehrt nicht zu deuten, was in ihm vorging. Seine Augen funkelten wie ein Ozean in der Sonne, aber unter der glitzernden Oberfläche schienen nur Dunkelheit und Kälte zu lauern. Eine Sekunde lang glaubte Mia, Furcht dazwischen aufblitzen zu sehen. Furcht wovor? Sie schüttelte irritiert den Kopf.

»Heißt das nein?«

»Es heißt, dass ich das alles hier ziemlich schräg und verwirrend finde. Aber ich komme wieder.« Ihre Stimme klang klar und fest, die Angst war verflogen.

Arthur nickte zufrieden. Er vereinbarte einen neuen Termin mit ihr, wie mit einer Geschäftspartnerin.

Mia ging die drei Kilometer zu Fuß nach Hause in ihre kleine Straße auf St. Pauli. Sie zog ihre Mütze tief in die Stirn und stemmte sich gegen den Wind, der in kräftigen Böen von der Elbe herüberfegte. Die frische Luft half ihr, ihre wirren Gefühle zu sortieren.

Sie war aufgedreht und erschöpft zugleich. Sie hatte Sex gehabt und doch keinen Sex gehabt. Sie war verführt worden und doch nicht verführt worden. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht darüber sein sollte, dass Arthur ihre Speckröllchen nicht zu Gesicht bekommen hatte. Vor allem aber wusste sie immer noch nicht, warum sie das getan hatte. Bevor sie Frank kennenlernte, hatte sie mit drei Männern Sex gehabt. Alle hatte sie geliebt, mit allen hatte sie eine feste Beziehung geführt. Ihr hatte nie der Sinn nach kurzen, schnellen Abenteuern gestanden.

Und jetzt so etwas. Ein Gefühl von Ekel wallte in ihr auf, als sie daran dachte, wie sie vor diesem Fremden gekniet und ihn befriedigt hatte. Verwirrt schob Mia eine Locke, die der Wind quer über ihr Gesicht geweht hatte, unter ihre Mütze. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, sich auf diesen Arthur einzulassen? Und warum zum Teufel wollte sie ihn wiedersehen? Ihr war das selber unbegreiflich.

Arthur, dachte sie abfällig, was war das überhaupt für ein beknackter Name?

Zuhause angekommen kochte Mia sich einen Tee und setzte sich damit auf ihr elegantes, graues Ecksofa, das viel zu groß für das kleine Wohnzimmer war. Sie hatte es einst mit Frank gekauft, damals, als sie noch glaubten, ewig zusammenzubleiben.

»Lass uns was Richtiges kaufen, das nicht schon nach einem Jahr auseinanderfällt«, hatte Mia gesagt, nachdem sie für sich entschieden hatte, dass von Franks geschmacklosen Möbeln nur wenige mit in ihre gemeinsame Wohnung durften.

Frank war fast ohnmächtig geworden, als er den Preis sah. »Fünftausend Euro für ein Sofa? Himmel, dafür muss ein alter Mann lange schuften.«

Mia hatte sich zärtlich an ihn geschmiegt. »Dafür müssen wir auch in den nächsten zwanzig Jahren kein neues kaufen«, hatte sie gesagt.

Am Ende hatte Frank sich überzeugen lassen und sogar noch freiwillig ein paar Hundert Euro draufgelegt, weil er einen robusteren Bezug haben wollte: »Dann übersteht das Sofa auch noch ein paar Kinder und Hunde.«

Mia hatte sich im siebten Himmel befunden. Doch das war lange her.

Ihr jetziges Wohnzimmer wurde – neben dem Sofa – von Bücherregalen beherrscht, die eine ganze Wand ausfüllten. Von der Decke hing ein Kronleuchter, der glitzerndes Licht verbreitete. Größer als zwischen dieser winzigen, alten Wohnung und Arthurs sterilem Palast konnten die Gegensätze kaum sein.

Mia lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Doch sie kam nicht zur Ruhe. Schließlich stand sie auf, nahm das Geld von Arthur aus ihrer Tasche und legte es in eine Schachtel auf ihrem Nachttisch. Noch zwei, drei Mal, und sie konnte sich den schicken Mantel leisten, den sie neulich in einem Schaufenster gesehen hatte. Zwei weitere Male und sie würde sich auch die Stiefel kaufen können, die sie bereits zweimal anprobiert hatte. Wenn sie einen ganzen Monat durchhielt, wäre sogar ein Urlaub drin. Eine Woche Last Minute nach Gran Canaria, einfach dem tristen norddeutschen Winter entkommen.

Sie dachte an Arthurs tiefblaue Augen. Und an sein gequältes Gesicht. Alles hat seinen Preis, dachte sie und schloss die Schachtel mit dem Geld behutsam.

Ebbe und Glut

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