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Manchmal kamen Mia die stillen, einsamen Sonntage in ihrer kleinen Wohnung richtig unwirklich vor. Mit Frank war sie nie zur Ruhe gekommen. Damals war es für sie undenkbar, ein ganzes Wochenende lang nur zuhause zu verbringen. Sie waren ständig unterwegs gewesen und wie im Rausch von Event zu Event gesaust. Heute grauste ihr schon allein bei der Vorstellung daran. Wie hatte sie das nur geschafft? Wo hatte sie die Energie hergenommen?

Seit sie wieder arbeitete, brauchte sie den größten Teil des Wochenendes zum Schlafen, Einkaufen und Saubermachen. Wann hatte sie das früher alles erledigt? Lag es an ihr? Daran, dass sie mittlerweile eine Frau in den Vierzigern war? Oder hatte vor allem Frank das bunte Treiben zu verantworten gehabt? War er der Motor, der Mia einfach immer mitgezogen hatte? Sie vermochte es nicht mehr zu sagen.

Der Kontakt zu all den kreativen, unkonventionellen Menschen, die sie durch Frank kennenlernte, inspirierte Mia. Sie hätte niemals alles aufgeben und sich ganz der Kunst verschreiben können, wie es einige ihrer Freunde taten. Aber sie träumte schon seit Jahren davon, ein Buch zu schreiben – genau genommen, seit ihre Patentante ihr einen Karton mit alten Tagebüchern vererbt hatte.

Die kleinen Hefte erzählten vom Leben ihrer Tante in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, von der Zeit in einem Potsdamer Internat, dem Krieg, ihrer Flucht aus Pommern und ihrem Neustart im Westen. Der Reiz der Texte lag in der ungefilterten, teils naiven Sicht des Mädchens auf das Leben und die politischen Verhältnisse in Deutschland. Mia hatte die Tagebücher verschlungen und anschließend beschlossen, sie zu einem Roman zu verarbeiten. Aber immer wieder verwarf sie ihre Ideen und löschte erste Gliederungen und szenische Skizzen.

Erst seit sie Frank kannte, nahm das Projekt deutlich konkretere Formen an.

Frank war hellauf begeistert. »Das ist ein grandioser Stoff, Süße. Damit kommst du ganz groß raus.« Er packte Mia bei den Schultern und sah sie beschwörend an. »Nimm dir Zeit zum Schreiben. Kündige deinen Job, fahr alleine in Urlaub, mach irgendwas, damit dieser Roman ganz schnell was wird.«

»Meinst du das ernst?«, fragte Mia verdattert. Frank sah in diesem Moment so aus, als würde er niemanden und nichts ernst nehmen. Er trug eine Marilyn Monroe-Perücke, die ihm zu tief ins Gesicht gerutscht war, und ein knallrotes, langes Taftkleid, das sich über seinem Bauch gefährlich spannte, obwohl er den Reißverschluss am Rücken sicherheitshalber offengelassen hatte.

»Das Kleid geht gar nicht, oder?« Er sah besorgt an sich herab. Seit Tagen trieb er Mia damit in den Wahnsinn, dass er ein schräges Kostüm nach dem nächsten anprobierte, weil er sich nicht entscheiden konnte, was er bei Boogies Kostümparty am Wochenende tragen sollte.

Mia schüttelte den Kopf. »Es geht nur, wenn du bis Samstag mindestens fünf Kilo abnimmst. Aber das meinte ich nicht. Ich wollte wissen, ob es dein Ernst ist, dass ich meinen Job wegen dieses Schreibprojekts kündigen soll.«

»Ja, natürlich.« Frank schob sich die Perücke aus der Stirn. »Wenn du diesen Roman geschrieben hast, musst du wahrscheinlich nie wieder Werbetexte schreiben. Das ist eine große Sache, ehrlich.«

Mia blieb skeptisch. »Das glaube ich kaum. Es ist nicht leicht, als unbekannte Autorin einen Verlag zu finden. Und um einen Bestseller zu landen, bin ich nicht gut genug.«

»Woher willst du das wissen? Du hast es ja noch gar nicht versucht.«

Das stimmte allerdings.

»Und außerdem«, fuhr Frank fort »kenne ich genug Leute, die dir dabei helfen können. Wir fragen morgen gleich mal Rocco, der ist schließlich Autor.«

»Rocco!« Mia verdrehte die Augen. Was wusste dieser Hans-Dampf-in-allen-Gassen schon? Frank lächelte nachsichtig. Ihm war nicht entgangen, dass Mia Rocco nicht gerade liebte. »Ich weiß, Rocco überspannt den Bogen manchmal etwas, aber immerhin schafft er es, vom Schreiben zu leben. Das muss man erst mal hinkriegen.«

Widerstrebend gab Mia zu, dass Frank auch damit recht hatte. Nachdem Rocco sich jahrelang mit Fachartikeln für diverse Musik- und Kunstzeitschriften durchgeschlagen hatte, arbeitete er seit einiger Zeit recht erfolgreich als Drehbuchautor.

»Schreib dieses Buch, Süße!«, sagte Frank noch einmal nachdrücklich.

Mia war gerührt, weil er ihre Träume ernst nahm und sie darin unterstützen wollte, sie zu verwirklichen. Er fand nicht, dieses Projekt sei eine Spinnerei, für die bestenfalls an langweiligen Wochenenden Zeit war. Nein, er schlug allen Ernstes vor, Mia solle für den Roman ihren Job kündigen.

Zärtlich schlang sie ihre Arme um Frank und küsste ihn. »Du bist wundervoll!«

Er strahlte und erwiderte ihren Kuss. »Das kann ich nur zurückgeben.«

Der Kuss wurde inniger, leidenschaftlicher.

»Ich liebe dich«, murmelte Mia. Blonde Kunsthaare kitzelten sie im Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung zog sie Frank die Perücke vom Kopf. »Zieh doch mal diesen Fummel aus«, sagte sie und nestelte am tiefen Ausschnitt seines Kleides herum.

»Ich glaube, ich komme da gar nicht mehr raus.« Frank zog den Bauch ein und hielt die Luft an, während er den Rock über seinen Kopf zog. Mia half ihm, aber es dauerte trotzdem ewig, bis Frank endlich nur noch in Unterhose und Socken vor ihr stand. Mia streichelte seinen Bauch und fuhr spielerisch mit ihrer Hand abwärts.

»Ich muss das Kleid mal eben noch aufhängen.« Frank drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln weg von ihr. »Nicht dass es noch kaputt geht. Das hab ich von Bonzo geliehen, und der ist mit so was recht eigen.«

»Wer ist denn Bonzo?«

»Ein Freund von Boogie.«

»Ah.«

Mia lächelte dünn und blickte Frank nach, der Richtung Schlafzimmer verschwand. Wenn dieser Bonzo so eigen war, wieso lieh Frank sich dann von ihm ein Kleid, das er ausgerechnet auf einer Party tragen wollte? Und wieso besaß Bonzo überhaupt Kleider? Mia ließ sich müde in die Sofakissen sinken und stieß mit einer ärgerlichen Bewegung die alberne Perücke fort, die sich zwischen ihren Füßen verfangen hatte. Das Glück, das sie eben noch verspürt hatte, war verpufft.

Es dauerte ewig, bis Frank wiederkam.

»Wie findest du denn das hier?« Er sprühte vor Begeisterung, als er Mia sein neuestes Outfit präsentierte – einen blau-weiß-gestreiften Männerbadeanzug nach der Mode des 19. Jahrhunderts. Weiß der Himmel, wo er den aufgetrieben hatte. Mia lachte pflichtbewusst, aber innerlich fühlte sie sich auf einmal sehr leer. Ihr stand der Sinn nach ganz anderen Dingen, doch die kamen wieder mal zu kurz – wie so oft in letzter Zeit.

»Lass uns ins Bett gehen, Schatz«, unternahm sie einen neuen Versuch.

»Aber es ist doch erst halb zehn.« Frank schaute sie mit geradezu kindlicher Verwunderung an.

»Ich bin aber müde.« Mia stand auf. »Und mir ist so nach Kuscheln.«

Frank drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. »Ist gut, Süße, ich komme auch gleich.«

Mia zog sich aus und legte sich ins Bett. Nachdenklich starrte sie vor sich hin. Wann hatten sie und Frank das letzte Mal miteinander geschlafen? Es fiel ihr nicht ein. Zwischen Arbeit, Partys und Freunden war ihr Liebesleben auf der Strecke geblieben. Frank schien das gar nicht aufzufallen, doch Mia fehlten die intimen Momente mit ihm, die innigen Augenblicke voller Zärtlichkeit und Lust. Langsam fuhr sie mit den Händen unter ihr Nachthemd. Ihre eigenen Berührungen weckten ein Sehnen und Verlangen in ihr, das sie traurig stimmte.

Sie war eingeschlafen, bevor Frank auch endlich ins Bett kam.

Am nächsten Morgen erwachte sie von einem knisternden Rascheln und einem intensiven Duft, der ihr in die Nase stieg. Sie blinzelte verschlafen, als Frank sich über sie beugte und küsste.

»Alles Liebe zum Hochzeitstag, mein Engel.«

Ihr Hochzeitstag! Nach gestern Abend hatte sie nicht erwartet, dass Frank daran denken würde. Liebevoll hatte er auf einem Tablett ein Frühstück angerichtet. Gerührt schaute Mia auf die Kaffeebecher, belegten Brötchenhälften und Schälchen mit selbstgemachtem Obstsalat. Auf der Kommode stand ein Strauß frischer Rosen. Und zwischen den Brötchen entdeckte Mia eine kleine Schachtel. Darin befand sich ein wunderschöner Ring aus Gold mit einem kleinen, rechteckigen Smaragd in der Mitte. Der grüne Stein funkelte und glitzerte zauberhaft, als Mia den Ring ansteckte. Frank musste ein Vermögen für das Schmuckstück ausgegeben haben.

Er strahlte vor Glück über das ganze Gesicht, reichte Mia einen Kaffeebecher und fütterte sie mit einem Nutellabrötchen. Später leckte er ihr die Schokolade von den Lippen, kroch zu ihr unter die Decke und verwöhnte sie voller Zärtlichkeit. Genau darum liebte sie ihn – weil er immer wieder für Überraschungen gut war. Und weil er Mia trotz aller Turbulenzen auf eine Weise umsorgte, die ihr dieses überwältigende Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gab. Sanft glitt sie auf dieser Woge voller Glück dahin, überzeugt, dass sie ewig anhalten würde.

Ebbe und Glut

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