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Eltern im Spagat
ОглавлениеEntwicklungspsychologie und Hirnforschung sind sich einig: Erziehung, wie sie einmal gesehen wurde, ist mittlerweile überholt. Auch die Evolutionsbiologie liefert hierzu interessante Erkenntnisse. Viele Eltern möchten deshalb heute auch gerne anders handeln, möchten ihre Kinder verstehen, mehr auf die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und Verständnis zeigen, sei es auch noch so schwer. Und genau hier geraten Eltern dann oft an ihre Grenzen, es kommen schnell Verzweiflung auf und auch die Frage: »WIE kann ich es denn anders machen?« Um diese Frage wird es in den folgenden Kapiteln immer wieder gehen. Doch werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie es vielen Eltern heute geht.
Die Angst zu versagen
Eltern, die in meine Praxis kommen, wollen alle das Beste für ihre Kinder und sind auf der Suche nach neuen Wegen. Die Anforderung, allem gerecht zu werden, steigt jedoch stetig und durch äußere oder auch eigene Ansprüche geraten Eltern dann schnell unter Druck, was zu Verunsicherung führt. Und Eltern sind – gerade weil sie ihre Kinder lieben – leicht zu verunsichern.
Eltern sind angreifbar und VERLETZLICH in ihrer emotionalen Rolle als Mutter oder Vater und sie fühlen sich sofort schuldig, wenn etwas (vermeintlich) nicht gelingt.
Eltern erleben den WIDERSPRUCH zwischen einerseits dem Wunsch, das Beste für ihre Kinder zu ermöglichen und deren gesellschaftliche Chancen zu steigern, und dem kindlichen Bedürfnis nach familiärer Geborgenheit andererseits.
Deshalb stellt sich die Frage, wie wir unser Kind besser verstehen und gut mit ihm umgehen können, heute dringlicher denn je.
Wir sind also Suchende in einer Phase der Ungewissheit und des Umbruchs. Diese Unsicherheit ist aber grundsätzlich gar nichts Schlechtes. Sie gehört sogar unbedingt zum Elternsein dazu. Solche Empfindungen machen es überhaupt erst möglich, dass wir uns auf unsere Kinder einstellen, dass wir dynamisch und beweglich bleiben. Wenn jedoch Hilflosigkeit und das Gefühl, versagt zu haben, bei uns vorherrschen, bekommen wir Angst, die dazu führt, dass wir vermeintlich hilfreichen Ratschlägen folgen: Wir Erwachsene dürfen uns das Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen! Wir müssen immer wissen, wo es langgeht! Schnell fallen wir dann zurück in das alte Muster: Strafe wird wieder ein probates Mittel im Umgang mit Kindern. Es ist also gar nicht so einfach, auf seinem Weg zu bleiben, sich nicht verunsichern zu lassen und nicht zurückzufallen in – nur scheinbar – besser funktionierende Erziehungsmethoden.
Das optimierte Kind? – Nein danke!
Zum einen kann die Verunsicherung von einer diffusen Angst, es »falsch« zu machen, herrühren. Vor allem aber sind Eltern heute durch den enorm gestiegenen gesellschaftlichen Druck verunsichert, dem sie sich ausgesetzt fühlen. Spätestens wenn Kinder in die Kita oder die Schule kommen, steht das Leistungsprinzip im Vordergrund und Eltern wollen da nichts »verpassen«. Kinder werden immer früher mit staatlich organisierter Bildung, mit immer noch mehr Wissen und dessen gezielter Vermittlung konfrontiert. Besonders die frühkindliche Förderung wurde in den letzten Jahren optimiert. Gute Bildung soll schon in jüngsten Jahren möglich sein. Unsere Kinder sollen alle Chancen haben, sich gut, nein: optimal zu entwickeln. Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuung werden ausgebaut, gefördert – ein attraktives Angebot, das Familien kaum ausschlagen können. Die Kinder sind als Ressource des Wohlstands von morgen fest im Blick, ihr »Wert« wird allerdings ausschließlich in ihrer Fähigkeit beurteilt, Deutschland im internationalen WETTBEWERB zu stärken.
Was auf den ersten Blick nach einer begrüßenswerten Entwicklung aussehen mag, hat dunkle Schattenseiten. Die Ansprüche, die durch die umfassenden Förder- und Betreuungsangebote an die Eltern herangetragen werden oder diese an sich selbst stellen, sind enorm gestiegen. So fragen wir uns: »Wie kann ich meinem Erziehungsauftrag gerecht werden? Wie finde ich die richtige Betreuung? Welche Bildung soll mein Kind wann und in welcher Dosierung erhalten? Sind wir überhaupt gute Eltern? Was wird aus meinem Kind, wenn es versagt, wenn ich versage als Mutter oder Vater?« Und da ist sie wieder, die Angst, etwas falsch zu machen, sowie die Verunsicherung, die Eltern das Vertrauen in die Fähigkeiten ihres eigenen Kindes nimmt und sie von ihrem eigenen Weg (wieder) abkommen lässt.
RÜCKENSTÄRKUNG
Lassen Sie sich nicht verunsichern!
In meiner Beratungspraxis erlebe ich viele verunsicherte Eltern. Tragisch ist: Wenn sie und ihre Kinder in der leistungsbetonten öffentlichen Erziehung nicht »funktionieren«, werden Kinder in ihrem Verhalten schnell pathologisiert. So fühlen Eltern sich abgewertet und verlieren jedes Gefühl dafür, was gut für sie und ihre Kinder ist. Sie verlieren den Glauben an ihre Kinder und das Vertrauen, dass diese okay sind, so wie sie sind. Und: Sie verlieren das Vertrauen in sich selbst und ihre eigenen Fähigkeiten als Mutter oder Vater. Übrig bleibt das Gefühl, »schlechte Eltern« zu sein.
Lassen Sie dieses Gefühl nicht übermächtig werden. Sie machen es gut! Lassen Sie sich nicht verunsichern und bleiben Sie nicht mit Ihren Zweifeln alleine: Schon ein Gespräch mit anderen, ein Austausch, der auf Verständnis und Vertrauen beruht, der Sie bestärkt in dem, was Sie und alle Eltern wollen – nämlich dass es ihren Kindern gut geht –, gibt Sicherheit. Vertrauen Sie darauf, dass Sie Ihr Kind als gleichwertiges Gegenüber und in wertschätzendem Verhältnis führen können und dürfen! Lassen Sie sich nicht einreden, dass es in erster Linie um das »Funktionieren« Ihres Kindes geht: Spricht es genug Worte für sein Alter? Ist es im Sozialverhalten unauffällig? Ist es freundlich und kann es sich an Regeln halten? … Ihr Kind nicht? Deshalb ist es noch lange kein Fall für den Kinder- und Jugendpsychiater und Sie sind auch keine schlechten Eltern! Kinder verhalten sich immer entsprechend ihrer Umwelt. Deshalb: Spüren Sie nach, woran es liegen kann, wenn Ihr Kind sich »verweigert«, dann sind Sie auf einem guten Weg!
Bitte keine »Musterkinder«!
Eltern sind heutzutage nicht nur einem enormen Bildungsdruck ausgesetzt, sie werden oft auch mit fatalen Untergangsszenarien konfrontiert, die durch vermeintlich logische, tatsächlich aber haarsträubende Kausalketten hergeleitet werden: Vom Kleinkind, das sich protestierend auf den Boden wirft, weil es nicht einsehen will, das seine Mutter ihm den Mund abwischt, ist es nicht weit bis zu einem jugendlichen Arbeitslosen, der nicht fähig ist, eine Ausbildung zu absolvieren. Und: Hier zeigt sich, wie sehr die Welt, in der wir leben, auf Normierung ausgerichtet ist. Meine Erfahrung ist: Je mehr das Verhalten eines Kindes in der Bastelgruppe der Kita oder im Mathematikunterricht »stört«, desto mehr wird das Kind von der Umwelt als »auffällig« eingeschätzt. Schnell wird so entwicklungsgerechtes Verhalten des Kindes pathologisiert, denn der Korridor für das, was wir heute unter »normal entwickelt« verstehen, wird durch NORMIERUNG immer schmaler und enger und mit eigens dafür geschaffenen Instrumenten sind wir auf der Suche nach »Muster- und Schablonenkindern«.
Im BILDUNGSBEREICH wird mehr über Kinder gesprochen als mit ihnen – sie werden beobachtet, getestet, bewertet, eingeordnet. Es geht um messbare Zielerreichung; Testen und Normieren sind die Instrumente, mit denen Institutionen ihre Arbeit rechtfertigen und deren Qualität messen. Qualität wird hier durch Kennzahlen und Kurven ausgedrückt. Die Zahlenwelt hat sich also der Kindheit bemächtigt. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Vielfalt: Die individuelle Entwicklung eines jeden Kindes kann so nicht berücksichtigt werden, zu schnell fallen Kinder aus den vorgegebenen Normwerttabellen heraus. Und wir Eltern? Sind verunsichert, beunruhigt und besorgt, wie der folgende Brief einer jungen Mutter an mich zeigt:
Hallo Frau Saalfrank,
mein Sohn ist fast zwei Jahre alt und wir waren heute bei der U7-Untersuchung. Es war schrecklich! Er sollte einen Turm bauen mit Bausteinen, was er natürlich nicht gemacht hat (obwohl er es kann), und sollte zeigen, wo seine Nase ist, was er leider auch nicht gemacht hat (obwohl er es kann, wahrscheinlich war die Situation für ihn komisch!).
Die Arzthelferin hatte er noch nie gesehen und er guckte sie nur böse an. Ich hätte ehrlich gesagt auch keinen Turm gebaut. Ich würde so gern gelassen bleiben und Lucas in seiner Entwicklung nicht hetzen, aber ich bin einfach total verunsichert. Es gab noch einige andere Bereiche, wo mein Sohn nicht entsprechend der Kurve oder der Tabellen entwickelt war. Ich fühle mich schlecht. Der Arzt hat nichts Positives gesagt. Ich habe irgendwie das Gefühl, als Mutter zu versagen. Alle Kinder können immer mehr als meins. Ja, ich sehe auch, dass mein Sohn langsamer ist als andere Kinder in der Entwicklung, aber ist das denn nun ein Grund, gar nichts Positives zu sagen?
Ihre Lydia S.
Lucas und seine Mutter sind kein Einzelfall – die Erschütterung der jungen Mutter wird sehr spürbar. Immer wieder erhalte ich solche Zuschriften. Meine Aufgabe – in der Beratung und in diesem Buch – sehe ich deshalb darin, Sie in Ihrer Elternrolle zu bestärken und für Ihre eigenen Fähigkeiten als Mutter oder Vater zu sensibilisieren. Wenn Sie an sich und an Ihr Kind glauben, können Sie viel besser auf seine Bedürfnisse eingehen, ihm Vertrauen entgegenbringen und es ebenfalls bestärken. Sie können dann dem Kind auch auf emotionaler Ebene das geben, was es braucht, und eine entsprechende Umgebung für sich und Ihre Familie schaffen. Schauen Sie also zunächst auf das, was Ihr Kind kann, nicht auf seine (vermeintlichen) Defizite.
» ELTERN DÜRFEN IHR KIND ANNEHMEN, SO WIE ES IST, UND ES IN SEINER INDIVIDUELLEN ENTWICKLUNG UNTERSTÜTZEN. «
Mit Kanonen auf Spatzen
Kinder sind in unserer Gesellschaft zwar sehr in den Fokus gerückt. Allerdings nicht im positiven ganzheitlichen Sinn – mit ihren individuellen und emotionalen Bedürfnissen, ihren Chancen und ihren Potenzialen. Nein, sie sind in die Mühlen der Ansprüche und Vorstellungen von Erwachsenen geraten. Deshalb werden heute vor allem Defizite und Schwächen des Kindes wahrgenommen. Es wird dann auch schnell mit Kanonen auf Spatzen geschossen; passt ein Kind nicht, landet es nicht selten mit seinen verunsicherten Eltern beim Kinder- und Jugendpsychiater. Wie konnte es passieren, dass wir vielerorts eine Welt für Kinder geschaffen haben, in die sie nicht mehr passen? Anstatt die Umgebung für Kinder angemessen zu gestalten, suchen wir nach immer neuen Möglichkeiten, die Kinder in eine immer schneller werdende, digitalisierte und beziehungsarme Welt zu zwängen – nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. So werden Kinder zunehmend medikamentös behandelt. Die Zahl der ADHS-Diagnosen ist in den letzten Jahrzehnten explosionsartig angestiegen und es wurde immer mehr Methylphenidat (Wirkstoff, der bei ADHS verabreicht wird) verschrieben. Hinzu kommt, dass sich auch die individuellen Dosierungen stark erhöht haben. Das Ausmaß, in dem heutzutage der MEDIZINISCHE BEREICH bemüht wird, wenn es um sogenannte »schwierige« Kinder geht, legt den Verdacht nahe, dass es Erwachsenen vor allem um die Anpassung und Normierung von Kindern geht.
Der Perfektionsanspruch an Kinder ist insgesamt enorm gestiegen. Eltern lassen sich nicht selten davon anstecken und haben ihrerseits einen hohen Anspruch: Sie wollen »perfekte« Eltern sein. Liebe Eltern, das müssen Sie gar nicht, denn »perfekt« gibt es nicht. Es reicht, wenn Sie Ihren Kindern das geben, was sie brauchen, um gesund aufzuwachsen. Das ist nicht immer einfach. Es ist jedoch viel bereichernder, kleine Persönlichkeiten ins Erwachsenenleben zu begleiten, als Schablonen heranzuziehen. Gerne stehe ich Ihnen dabei zur Seite!