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BEZIEHUNG
statt
ERZIEHUNG

In der neuen Eltern-Kind-Beziehung gehen wir Eltern verständnisvoll auf die Anliegen der Kinder ein und zeigen uns als Persönlichkeiten mit eigenen Bedürfnissen und Gefühlen. Dabei bewegt sich die Beziehung dynamisch im Spannungsfeld zwischen tiefer Verbundenheit und dem Streben nach Unabhängigkeit. Diese beiden Grundbedürfnisse sind von Geburt an in uns Menschen angelegt.

WIE ES HÄUFIG IST: WIR SETZEN AUF MACHT

Es gibt viele verschiedene Erziehungsstile. Zwischen dem autoritären auf der einen Seite und dem antiautoritären Stil auf der anderen herrscht eine große Bandbreite. Heute weit verbreitet sind der autoritative und der demokratische Erziehungsstil.

 Die AUTORITATIVE ERZIEHUNG ist im Vergleich zur autoritären Erziehung von mehr emotionaler Wärme und Kommunikationsbereitschaft dem Kind gegenüber gekennzeichnet. Gleichzeitig wird das Kind aber von elterlicher Seite auf ein bestimmtes Ziel hin gelenkt, wobei verschiedene Erziehungsmittel (etwa Belohnung und Strafe) zum Einsatz kommen können.

 Die DEMOKRATISCHE ERZIEHUNG ist ebenfalls durch emotionale Wärme sowie durch Wertschätzung und Verständnis charakterisiert. Kommunikation spielt dabei eine zentrale Rolle: Die Kinder haben ein hohes Maß an Mitspracherecht; Regeln, Verhaltensweisen und Konsequenzen werden ausdiskutiert.

Wie herkömmliche Erziehung funktioniert

Auch wenn in neueren Erziehungsansätzen Wert darauf gelegt wird, auf die Bedürfnisse und Eigenarten des Kindes einzugehen, bedienen wir uns doch nach wie vor der herkömmlichen Erziehung mit ihren spezifischen Mechanismen und Wirkungsweisen:

 MACHT: Die machtvolle Position der Eltern wird für die Durchsetzung eigener Interessen genutzt.

 GEWALT: Wenn nicht anders möglich, werden auch gewaltsame Maßnahmen zur Durchsetzung elterlicher Ziele angewandt.

 ANPASSUNG: Ziel ist die Anpassung des Kindes an die Vorstellungen und Erwartungen der Erwachsenen.

 GEHORSAM: Der Gehorsam des Kindes ist die grundlegende Bedingung und das Ziel der Erziehung.

Doch erreichen wir mit dieser Form von Erziehung, was wir Eltern uns wünschen (>), etwa dass Kinder zu eigenständigen und verantwortungsvollen Persönlichkeiten heranwachsen? Ich bezweifle das. Denn diese Mechanismen führen dazu, dass Kinder vor allem lernen, sich anzupassen, und eher unselbstständig bleiben.

» WENN WIR WOLLEN, DASS KINDER LERNEN, FÜR IHR LEBEN PERSÖNLICHE VERANTWORTUNG ZU ÜBERNEHMEN, IST DIE ERZIEHUNG ZUM GEHORSAM NICHT ZIELFÜHREND. «

»Na ja«, denken Sie jetzt vielleicht, »ich erziehe doch gar nicht im herkömmlichen Sinn, ich nutze doch meine elterliche Macht gar nicht aus.« Doch im Alltag passiert es uns immer wieder, dass wir in alte Muster – oft ungewollt und auch unbewusst – zurückfallen.

Moritz (acht Jahre) ist in seinem Zimmer und soll seine Hausaufgaben machen. Zunächst beginnt er motiviert, schreibt etwas in seinen Ordner und beginnt auch, Bücher aus seiner Tasche auf den Schreibtisch zu räumen. Zunehmend lässt er sich jedoch ablenken. Vor allem seine Lektüre ist gerade so spannend. Er steht auf, geht durch sein Zimmer, lässt sich auf sein Bett plumpsen und klappt sein Buch an der Stelle auf, wo er nach dem Mittagessen stehengeblieben war. Er beginnt zu lesen und vertieft sich so sehr, dass er seine Mutter erst gar nicht bemerkt, die in sein Zimmer gekommen ist.

»Moritz, warum machst du denn deine Aufgaben nicht? Du liegst hier rum und machst nix und liest nur! Wir haben doch gesagt, dass du erst alle Hausaufgaben erledigen sollst, das hatten wir so besprochen, das war abgemacht!«, ruft die Mutter empört. Moritz springt erschrocken auf und versucht stotternd, sich zu erklären: »Ich hab doch schon, aber dann ... Das Buch ist gerade so spannend und ich wollte nur kurz das Kapitel zu Ende lesen, Mama.« – »Jedes Mal das Theater mit den Hausaufgaben!«, ruft Moritz’ Mutter ärgerlich. »Es reicht jetzt wirklich, wenn in 20 Minuten deine Hausaufgaben nicht erledigt sind, dann ist deine Computerzeit für heute gestrichen!« Moritz schaut entsetzt. »Nein, Mama, das ist unfair! Ich hab so viele Aufgaben auf!« – »Ja, aber du hattest genügend Zeit, Moritz! Jetzt musst du dich dann eben beeilen! So ist das nun mal, wenn man bummelt. Merk dir das für die Zukunft!« Moritz lässt die Schultern hängen und setzt sich traurig auf die Bettkante. Seine Mutter verlässt wütend das Zimmer.

Es geht jetzt nicht darum festzustellen, ob Moritz’ Mutter hier »richtig« oder »falsch« gehandelt hat oder ob sie eine »gute« oder »schlechte« Mutter ist. Es geht mir vielmehr darum aufzuzeigen, dass sie Methoden und Mechanismen folgt, die den sieben Werten (>) entgegenstehen: ERZIEHUNG (Moritz’ Bedürfnis spielt keine Rolle, es zählt nur das Interesse der Mutter, was die Beziehung belastet), BEVORMUNDUNG (»Es reicht jetzt!«) und BELEHRUNG (»So ist das nun mal!«, »Jetzt musst du dich dann eben beeilen!«), ABWERTUNG (Wortwahl der Mutter: »Theater«, »rumliegen« »nix machen«, »bummeln«) und Grenzüberschreitung (Mutter kommt einfach ins Zimmer), KONTROLLE (Mutter macht Vorgaben: Erledigung der Aufgaben in 20 Minuten), MONOLOG (Mutter redet viel und alleine, Moritz wird kaum gehört; was er sagt, zählt nicht), GEGENEINANDER (Mutter setzt sich machtvoll durch, greift Moritz verbal an).

Nähe und Wärme kommen zu kurz

Moritz’ Mutter will – wie alle Eltern – das Beste für ihr Kind. Jedoch ist der Preis, den sie zahlt, hoch, wenn sie im herkömmlichen Erziehungsmodell verharrt, denn: Die Atmosphäre in der BEZIEHUNG zueinander wirkt hier nicht warm und nah. Wenn man sich einmal vorstellt, eine ähnliche Situation wie die zwischen Moritz und seiner Mutter würde sich unter Erwachsenen abspielen, dann wird sofort deutlich, dass daran etwas nicht stimmt.

Frau: »Was? Du hast die Abrechnung immer noch nicht gemacht?«

Mann: »Ich hatte noch andere wichtige Dinge zu tun und bin noch nicht dazu gekommen.«

Frau: »Also, jetzt reicht es wirklich! Du liegst hier rum und liest! Und du hast dich nicht an unsere Absprache gehalten. Das geht so nicht! Wenn du die Abrechnung nicht in 20 Minuten fertig hast, ist deine Computerzeit für heute gestrichen und deinen Kegelabend mit deinen Freunden kannst du auch vergessen.«

Würden wir mit dem Partner so umgehen? Wohl kaum! Warum aber dann mit Kindern? Warum verletzen wir auf diese Weise ihre persönlichen Grenzen, obwohl wir das ja eigentlich gar nicht wollen? Auf den folgenden Seiten werden wir Antworten auf diese Fragen suchen. Denn bevor wir die Beziehung zu unseren Kindern neu gestalten, sollten wir herausfinden, warum wir oft noch im herkömmlichen Sinn »erziehen«.

Struwwelpeter und Schwarze Pädagogik

Das immer noch berühmteste Buch über die angebliche Notwendigkeit von kindlichem Gehorsam ist Heinrich Hoffmanns 1845 erstmals erschienener »Struwwelpeter«. In dem Buch veranschaulicht der Autor in Bildern und Versen die Grundsätze der »Schwarzen Pädagogik«, die auf dem Gehorsamsprinzip aufbaut und auf der – auch heute noch nicht ganz überwundenen – Vorstellung vom »bösen« Kind, das »schlecht« auf die Welt kommt und sich nur dann zum guten entwickelt, wenn wir Zwang ausüben und es zum Gehorsam erziehen.

Geprägt wurde der Begriff »Schwarze Pädagogik« von der Soziologin und Pädagogin Katharina Rutschky. Er ist ein Sammelbegriff für Erziehungsmethoden, die auf Gewalt, Einschüchterung und Strafe beruhen. Auch die Psychologin Alice Miller hat sich wie Rutschky kritisch mit der Schwarzen Pädagogik und deren Folgen auseinandergesetzt (>).

Eine Vertreterin der Schwarzen Pädagogik, die weit bis ins 20. Jahrhundert hinein Einfluss hatte, war die nationalsozialistische Ärztin Johanna Haarer (>).

Warum wollen wir unbedingt erziehen?

Wir lieben unsere Kinder und wollen das Beste für sie (>). Doch warum schaffen wir es oft nicht, unsere Liebe auch in liebevolles Handeln zu übersetzen?

Eine Erklärung dafür, dass wir unseren Kindern – mal mehr, mal weniger stark – mit Macht begegnen, ist: Sie aktivieren mit ihrem Verhalten unsere eigenen aggressiven Gefühlsanteile. Wir werden wütend, weil sie nicht das tun, was wir für richtig halten, beziehungsweise weil unser Anliegen (»Mach bitte deine Hausaufgaben«) nicht gehört wird. Die Wut lässt sich nicht unterdrücken und entlädt sich ungefiltert in Strafmaßnahmen wie »Jetzt hast du nur noch 20 Minuten Zeit für deine Hausaufgaben«. Wir glauben, dass wir uns durch eine solche Erziehungsmaßnahme besser Gehör verschaffen können. Wir unterstreichen quasi unsere Wut mit einer Maßnahme. Ganz nach dem Motto: »So, das hast du nun davon!« Oder: »Wer nicht hören will, muss fühlen!« Als wollten wir uns rächen: »Wie du mir, so ich dir.«

Ein weiterer Grund für unseren Reflex zum aktiven Erziehen scheint zu sein: Wir haben Angst, unsere Macht und damit die Kontrolle über das Kind zu verlieren. Wir sind besorgt, dass »alles aus dem Ruder läuft«, dass die Kinder uns »auf der Nase herumtanzen«, wenn wir nicht »durchgreifen« – alles Relikte aus der Schwarzen Pädagogik (>). Und um unsere Macht als Eltern zu erhalten, verlangen wir Gehorsam von unseren Kindern und wenden Methoden an, die wir selbst erfahren, manchmal sogar durchlitten haben.

Zwischen den Zeilen

Moritz’ Mutter erscheint in dem Beispiel wenig liebevoll und zeigt wenig Verständnis für ihr Kind. Sie liebt ihren Sohn jedoch, auch wenn sie sich nicht liebevoll verhält. Sie fühlt sich absolut verantwortlich in ihrer Rolle als Mutter und sie möchte diese Rolle besonders gut ausfüllen. So glaubt sie, dass sie ihren Sohn nicht anders als mit Drohung und Strafe (»Wenn du nicht …, dann …«) zum Hausaufgabenmachen bringen kann. Vielleicht wird sie auch ihr Ziel erreichen, nämlich: dass Moritz demnächst seine Aufgaben immer sofort macht. Zu einem hohen Preis jedoch, denn die Beziehung zwischen Mutter und Sohn wird so ganz unnötig belastet und beide bleiben unglücklich zurück. Die Botschaft, die zwischen den Zeilen bei Moritz ankommt, ist: »Wenn ich etwas sage, musst du gehorchen.« Moritz lernt daraus, dass seine Mutter stärker und machtvoller ist als er. Sie ist diejenige, die bestimmt und Entscheidungen fällt, die ihn betreffen. Und er lernt darüber hinaus, dass seine eigene Persönlichkeit nicht den gleichen Wert hat wie die seiner Mutter, wodurch er in seiner Handlungsfreiheit und seinem Recht auf Selbstbestimmung stark eingeschränkt wird. Langfristig kann das dazu führen, dass sich Kinder dann eben nicht – wie eigentlich gewünscht – zu selbstständigen, verantwortungsvollen, sondern zu unselbstständigen und angepassten Persönlichkeiten entwickeln.

» WENN-DANN-SÄTZE GEHÖREN ZU EINEM VON MACHT GEPRÄGTEN ERZIEHUNGSALLTAG. SIE SETZEN KINDER UNTER DRUCK UND BELASTEN UNSERE BEZIEHUNG ZU IHNEN UNNÖTIG. «

»Unsere Kinder können doch nicht machen, was sie wollen, sie brauchen doch Führung!«, würde Moritz’ Mutter nun sagen und vielleicht ist das auch gerade Ihr Gedanke. Ja, genau darum geht es. Kinder brauchen Führung. Die Frage ist, auf welche Art und Weise Eltern führen und welche Erfahrungen Kinder machen dürfen. Ich werde später noch einmal auf die Situation mit Moritz und seiner Mutter zurückkommen (>) und zeigen, dass wir – ohne unsere Macht als Eltern zu missbrauchen und ohne die Grenzen der Kinder zu überschreiten – eine wertschätzende und klare Führungsrolle und einen liebevollen Umgang mit unseren Kindern finden können.

Wir wissen heute so viel mehr darüber, was Kinder brauchen, um sich gut zu entwickeln, und es ist unsere Aufgabe als Eltern, die Beziehung zu unseren Kindern entsprechend zu gestalten. Es geht dabei um eine gute, tragfähige Beziehung, die geprägt ist von den sieben Werten (>) und die unseren Kindern Schutz und Sicherheit genauso bietet wie Freiheit und Selbstständigkeit.

Was unsere Kinder brauchen

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