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Kapitel 4

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»Da bist du ja endlich«, rief mir Mathilda winkend entgegen.

»Sorry.« Ich entschuldigte mich außer Atem. Die letzten Meter war ich hierhergerannt. »Das ist ’ne doofe Angewohnheit von mir. Ich bin leider viel zu oft zu spät. Ist mir verdammt unangenehm.«

»Wie kommt’s?«, fragte sie und wirkte ehrlich interessiert. Ich setzte mich auf einen Stuhl gegenüber von ihr und zuckte mit den Schultern.

»Ich geb mir echt Mühe, pünktlich zu sein, aber dann werde ich durch irgendwas abgelenkt, oder ich verschätze mich einfach total. Vorhin dachte ich zum Beispiel, dass ich ja noch eine halbe Stunde Zeit habe, bis wir uns treffen, und dass das noch locker reicht, um im Supermarkt ein paar Besorgungen zu machen. Hat es ja ganz eindeutig nicht.«

»Gut zu wissen, dann lasse ich mir in Zukunft einfach auch Zeit, wenn wir uns treffen.«

»Beeilen musst du dich mit Sicherheit nicht. Noch mal Entschuldigung! Deine heiße Schokolade geht dafür auf mich.« So hoffte ich, mein schlechtes Gewissen zumindest ein wenig zu beruhigen. Und natürlich wollte ich damit auch Mathilda besänftigen. Obwohl sie keinen wütenden oder beleidigten Eindruck machte. Wir kannten uns noch nicht so lange, und ich wollte es mir nicht direkt mit ihr verscherzen, nur weil ich mein Zeitmanagement nicht im Griff hatte.

»Du hast mich doch schon letztes Mal eingeladen.«

»Wenn ich dich so hängen lasse, ist das wohl das Mindeste. Wenn ich mal pünktlich sein sollte, geht die Rechnung auf dich, okay? Spoiler: Das ist ein gutes Geschäft für dich.«

Sie lachte herzlich.

»Deal!«

Nachdem ich zwei Tassen vom Tresen zu uns balanciert hatte, setzte ich mich wieder an den runden Tisch. Mathilda schnappte sich direkt den Löffel, um die Sahne von ihrer Schokolade zu löffeln. Ich nahm den Zuckerstreuer von der Mitte des Tischs und schüttete etwas in meinen Milchkaffee.

»Wie war die Uni bis jetzt?«, fragte ich sie und nippte an meinem Kaffee. Natürlich verbrannte ich mir sofort die Zunge. Warum musste sich unter dem Milchschaum auch immer flüssige Lava verstecken?

»Ziemlich langweilig«, antwortete sie kurz und knapp. »Aber lass uns doch nicht über die Uni sprechen. Erzähl mal, was gibt’s sonst so bei dir?«

Als wir das letzte Mal hier gesessen waren, hatte ich ihr schon einiges über mich erzählt. Über meine Studienfächer, meine Familie, Hobbys und so. Aber es hatte sich seither ja tatsächlich etwas anderes von Bedeutung ereignet.

»Ich hab am Samstag ein Date und bin megaaufgeregt.«

»Nein! Echt?« Sie machte große Augen. »Woher kennst du sie?«

»Ich kenne ihn«, das ihn betonte ich besonders, »aus meiner Stammkneipe. Er ist der Barkeeper.«

»Oh, wie cool. Hat er dich angesprochen oder du ihn? Erzähl mir jedes Detail!«

»Das ist das Allerkrasseste. Ich habe den ersten Schritt gemacht. Ich hab meinen ganzen Mumm zusammengenommen und ihm meine Nummer gegeben. Das macht mich im Nachhinein echt ziemlich stolz. Und ganz so doof scheine ich mich auch nicht verhalten zu haben. Immerhin hat er sich tatsächlich am nächsten Tag bei mir gemeldet.«

Mathilda quietschte vor Freude und klatschte in die Hände.

»Und dann? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«

Also berichtete ich ihr im Detail von den Nachrichten, die wir uns geschrieben hatten, von meiner Unsicherheit, als wir uns im Pub wiedergesehen hatten und ich nicht gewusst hatte, ob ich zu ihm gehen sollte. Und natürlich auch davon, dass er mich gefragt hatte, ob ich am Samstag Zeit hätte, um mit ihm auszugehen. Während des Erzählens spürte ich, wie ich schon wieder ganz aufgeregt wurde und heiße Wangen und feuchte Handflächen bekam.

»Und jetzt schiebe ich Panik. Ich weiß so gut wie nichts von ihm und habe Angst, dass das am Samstag ein Desaster werden könnte. Ich hab nicht wirklich viel Dating-Erfahrung. Und ich bin in seiner Anwesenheit total eingeschüchtert. Ich werde kein Wort herausbekommen.«

»Aber das, was wir hier haben, ist doch auch nichts anderes als ein Date. Nur eben ohne romantische Hintergedanken. Also ist das hier«, sie zeigte zwischen uns beiden hin und her, »doch eine echt gute Übung.«

»Aber bei dir bin ich nicht aufgeregt. Da stottere ich nicht oder versuche zwanghaft ein Thema zu finden, über das man reden kann.«

»Okay, Generalprobe.« Sie fuhr sich einmal mit den Fingern durch ihr Haar, atmete tief durch und legte dann einen Gesichtsausdruck auf, der mich direkt zum Lachen brachte.

»Was wird das?«, fragte ich zwischen zwei Lachanfällen.

»Das ist mein männlichster Flirt-Gesichtsausdruck. Ist doch klar. Was gibt’s da zu lachen? In der Schule war ich zwei Jahre in der Theater-AG. Wenn du das nicht erkennst, dann liegt das an dir.«

»Klar. Mein Fehler.«

»Stell dir also vor: Ich bin Mister-hot-Barkeeper und du bist gerade hier reingekommen und na ja … nun müssen wir eben miteinander sprechen.«

Ich versuchte mir Max vorzustellen. Wie er vor mir saß und mich vielleicht genauso frech angrinste, wie sie es gerade tat. Das Bemerkenswerte: Allein bei dem Gedanken daran begann mein Herz schon zu rasen, und ich hatte den Drang, mir die Hände an der Jeans trocken zu wischen. Entweder war meine Vorstellungskraft außergewöhnlich gut oder ich war einfach außergewöhnlich merkwürdig. Mathilda räusperte sich.

»Hi, Henry, hast du gut hierhergefunden?« Wow. Small Talk mit verstellter Stimme. Sie gab wirklich alles.

»Ja«, antwortete ich und erntete ein Augenrollen von ihr.

»So wird das nichts, Henry. Einsilbige Antworten müssen wir dir abtrainieren. Die sind der absolute Gesprächskiller. Es ist ganz simpel: Wenn du antwortest und direkt eine Gegenfrage stellst, dann schläft das Gespräch nicht ein. Logisch, oder?«

Ich nickte zaghaft und trank von meinem Kaffee. Keine Lava mehr, trotzdem noch zu heiß für mich.

»Also noch mal. Hast du gut hierhergefunden?«

»Ja.« Kurz überlegte ich. »Und du?«

Mathilda lächelte.

»Das war nicht wirklich gut, aber ein Anfang.«

Wir probten noch eine ganze Stunde, und danach war ich zwar nicht wirklich selbstbewusster, aber zumindest hatten wir unseren Spaß gehabt. Wie womöglich alle um uns herum auch. Denn Mathilda war alles andere als leise. Vor allem, wenn sie mich lautstark zur Schnecke machte, weil ich mal wieder der ungesprächigste Gesprächspartner aller Zeiten war. Sie winkte mir noch mal zu, als sie sich zu ihrer nächsten Vorlesung aufmachte. Ich hatte mich dazu entschlossen, zu schwänzen. Ja, keine Glanzleistung von mir. Aber ich konnte mittlerweile ganz gut einschätzen, bei welchen Seminaren und Vorlesungen man auch gern mal fehlen konnte. Nach dem Gespräch mit Mathilda und unserer kleinen Date-Generalprobe hatte ich eine Auszeit verdient und auch ziemlich nötig. Wenn ich aufgeregt war, mich ärgerte oder einfach schlecht drauf war, hatte ich einen Wohlfühlort, wo es mich seit Jahren regelmäßig hintrieb. Meine eigene kleine heile Welt. Und genau dorthin ging ich auch jetzt.

Ich stieg in die nächste Straßenbahn und suchte mir einen Fensterplatz. Gedankenverloren starrte ich hinaus und betrachtete die trübe Landschaft. Das Wetter war alles andere als gut, und eigentlich wartete man nur darauf, dass es irgendwann anfing zu regnen, und jeder hoffte, dass es erst dann begann, wenn man zu Hause war. Genau wie ich, denn an einen Regenschirm hatte ich natürlich nicht gedacht. Mathilda hatte mir viel zum Nachdenken gegeben, aber auch Tipps und Ratschläge, die ich mir einprägen sollte. Zum Beispiel wäre es nicht schlecht, wenn ich gerade sitzen und meinem Gegenüber in die Augen sehen würde. Verschüchtertes nach unten schauen und die Maserung des Holztischs mustern, während man auf dem Stuhl hing wie ein nasser Sack, war wenig attraktiv. Das waren ihre Worte gewesen. Ich sollte außerdem mit deutlicher Stimme sprechen und nicht leise vor mich hin nuscheln. Wenn ich so darüber nachdachte, verhielt ich mich ja tatsächlich schrecklich. Zumindest, wenn ich aufgeregt war. Ob Mathilda wohl viel mehr Dating-Erfahrung hatte als ich? Sie wirkte so. Bei unserem nächsten Treffen würde ich sie einfach mal fragen. Es konnte ja nicht angehen, dass ich ihr mein Liebesleben auf dem Silbertablett präsentierte und sie über ihres schwieg. Keine Chance.

Einige Haltestellen später stieg ich aus und wechselte die Straßenseite. Da war es auch schon. Mein Zufluchtsort! Aquantis, das hiesige Aquarium.

Ich betrat das imposante Gebäude und zeigte an der Kasse kurz meine Jahreskarte vor, die ich, seit ich denken konnte, jedes Jahr zu Weihnachten von meinen Eltern geschenkt bekam. Der Typ an der Kasse hieß Walter und saß dort gefühlt schon immer. Aber auch hier hielt ich nicht viel von Small Talk.

»Hey, Henry.«

»Hi.« Das war’s dann auch schon mit Konversation und ich betrat die abgedunkelten Räumlichkeiten des Aquariums. Um mich herum waren unzählige Glasfronten, hinter denen sich Fische in allen Größen und sämtlichen Farben des Regenbogens tummelten. Mehrere knallrote Skalare, Schmetterlingsbuntbarsche, ein Schwarm Zebrabärlinge und weiter hinten ein Becken mit unglaublich vielen verschiedenen Goldfischen. Man glaubte gar nicht, wie unterschiedlich Goldfische aussehen konnten. Es gab helle, dunkle, sogar gefleckte. Fische waren wirklich unglaublich interessant, und ich hatte noch nie verstehen können, warum niemand in meinem Freundeskreis diese Begeisterung mit mir teilte. Ich lief an den vielen Glasfronten vorbei und entdeckte jedes Mal, wenn ich hier war, etwas Neues. Dieses Mal zum Beispiel ein paar kleine Meeresschnecken, die innen an der Scheibe klebten. Dann kam ich zu dem wohl beliebtesten Ort im Aquantis: einen großen Tunnel, in dem man umgeben war von Wasser. Nicht selten hatte man Glück, und es schwamm ein kleiner Hai über einen hinweg.

Danach durchschritt ich einen weiteren Raum, der vor allem beliebt war durch das Aquarium mit vielen verschiedenen Seepferdchen. Aber auch ein Becken mit Schildkröten zog Besucherinnen und Besucher an. Heute stand eine große Gruppe Kinder davor, deren laute und begeisterte Stimmen sich überschlugen. Ich hatte allerdings ein anders Ziel. Mein Ziel war das große blau beleuchtete Aquarium ganz am Ende des Rundgangs. Kurz vorm Ausgang, wo dann der Souvenirshop auf einen wartete. In diesem Becken war alles voll von wunderschönen Quallen.

Schon viele hatten mich gefragt, warum gerade Quallen so eine Faszination auf mich ausübten. Und ich fragte mich einfach nur: warum bitte schön nicht? Wie konnte man nicht vollkommen gefangen sein, wenn man diesen zarten Wesen beim eleganten Schweben zusah? Diese Tiere waren so fragil, dass es ein Wunder war, dass sie tatsächlich existierten. Und dennoch waren sie mit die ältesten Lebewesen auf der Erde. Sie existierten schon seit einer halben Milliarde Jahren. Auf mich wirkten sie fast weise, wie sie so dahintrieben und sich nicht darum kümmerten, was um sie herum geschah. Dabei hatten sie nicht mal ein Gehirn. Womöglich erinnerten mich die vielen Tentakel einfach an eine Art Methusalem. Alt, weise und bärtig. Dieses Aquarium war meine überdimensional große Lavalampe. Es beruhigte mich, hatte sogar die Kraft, mich einzuschläfern, wenn ich nicht aufpasste.

Neben mir erschien ein kleines Mädchen, das die Quallen genau wie ich beobachtete.

»Wie essen die denn?«, fragte sie. Wahrscheinlich war die Frage gar nicht an mich gerichtet, aber es war ja sonst niemand da.

»Die dünnen Tentakel am Rand nehmen die Nahrung, die im Wasser schwimmt, auf und geben sie an die dickeren inneren Tentakel, die sogenannten Mundarme, weiter. Meistens essen sie kleine Krebse oder auch Plankton.«

Das Mädchen neben mir starrte mich mit offenem Mund an. »Hübsch, oder?« Ich lächelte, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Dann kamen ihre Eltern um die Ecke und zogen sie weiter. Ich seufzte. Vielleicht war ich ja doch der einzige Mensch auf dieser Welt, der Quallen mochte. Ich setzte mich auf eine Bank, die glücklicherweise genau gegenüber von dem großen Aquarium der Quallen stand. Das war mein Platz. Ich wunderte mich, dass da nicht schon längst mein Name eingraviert war. Ich hatte dort noch nie jemand anderes sitzen sehen. Höchstens mal eine Oma, die sich kurz ausruhen musste. Vielleicht konnte ich ja auch Max mal mit hierhernehmen? Oder würde es ihn langweilen? Ich befürchtete, dass es mich sehr enttäuschen würde, wenn er meine Faszination nicht verstehen könnte. Wenn er mich am Ende vielleicht sogar für meine Liebe zu Meerestieren und Quallen auslachen würde.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Max nicht so ein Mensch war. Wie er wohl so war?

Was wir von Quallen lernen können

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