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Kapitel 2

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Mein Handy weckte mich mit aufdringlich lautem Vibrieren. Ich tastete blind nach dem Gerät, das irgendwo auf meinem Nachttisch liegen musste. Erst nachdem ein paar andere Gegenstände auf den Boden gefallen waren, ertastete ich es und sah, dass mehrere Nachrichten von Zoya eingegangen waren. Außerdem erkannten meine müden Augen, dass es bereits acht Uhr war und ich mich echt beeilen musste, um noch pünktlich zu meiner Vorlesung zu kommen.

Ich klickte auf Zoyas Namen.

Und? Hat er sich bei dir gemeldet?

Sag schon!

Ignorierst du mich?

Henry? AUFSTEHEN! Ich warte auf Antworten, und außerdem verpennst du mal wieder die Uni!

Ich stöhnte und richtete mich ruckartig auf. Sie hatte recht. Ich musste mich dringend fertig machen, sonst würde ich wieder einmal zu spät kommen.

Trotzdem nahm ich mir die drei Sekunden und antwortete Zoya. Ansonsten würde sie einen Suchtrupp vorbeischicken oder am Ende gleich persönlich vor der Tür stehen.

Guten Morgen. Ich bin eben erst aufgewacht.

Und NEIN, er hat sich nicht gemeldet.

Direkt stellte sich wieder das schreckliche Gefühl in meiner Magengegend ein. Was hatte mich nur dazu getrieben, ihm meine Nummer zu geben? Der nächste Gang ins Green Leaf Pub würde so was von peinlich werden. Wenn ich allerdings genauer darüber nachdachte, würde es wahrscheinlich nur dann peinlich werden, wenn ich es zuließ. Wenn ich hingegen selbstsicher genug war und darüberstehen würde, wäre es vielleicht okay. Ein lässiges Schwamm drüber, und wir würden über diese Sache hinwegsehen und lachen können. Fake it, till you make it. Tue so, als wärst du der selbstbewussteste Kerl aller Zeiten, bis du es in einigen Jahrzehnten eventuell wirklich bist.

Mit Schwung stand ich auf, schnappte mir ein paar der Klamotten, die auf meinem Schreibtischstuhl lagen, und machte mich im Badezimmer schnell fertig. Als ich frisch geduscht, mit geputzten Zähnen und angezogen in die Küche trat, fiel mir auf, dass das ganze Haus ruhig war. Lissy war schon im Kindergarten und meine Eltern beide arbeiten. Und ich sollte eigentlich auch längst unterwegs sein. In Eile goss ich mir etwas Kaffee in meinen Game-of-Thrones-to-go-Becher und stopfte mir einen Apfel und zwei Müsliriegel in meine Uni-Tasche. Mit Jacke und der obligatorischen Beanie auf dem Kopf lief ich auch schon los zur Straßenbahnhaltestelle. Ich hatte das Glück, dass ich einen Studienplatz an der Uni ergattert hatte, die nur wenige Minuten von meinem Zuhause entfernt war. Damit hatte ich im Gegensatz zu anderen den Vorteil, dass ich nicht ellenlange Wege einplanen musste und sogar noch bei meinen Eltern wohnen bleiben konnte. Zwar entgingen mir so die Wohnheim- und WG-Erfahrungen, die würde ich dann aber einfach später nachholen. Oder eben nicht. Momentan genoss ich es, hier zu sein. Bei meinen Eltern und meiner kleinen Schwester.

An der Uni angekommen, war mein Kaffee leer getrunken und ich verstaute den Becher in meiner Tasche. Zwischen zahlreichen Studentinnen und Studenten lief ich zum großen Vorlesungssaal am anderen Ende des Campus. Der Tag begann mit Kulturwissenschaft. Ein Kurs, den wohl fast jeder, der eine Geisteswissenschaft studierte, belegen musste. Die meisten Kurse, die ich sonst so besuchte, fanden in kleinen Räumen statt, die maximal für zehn oder fünfzehn Leute ausgelegt waren. Viel mehr Studierende interessierten sich wohl nicht für Kleist oder Eichendorff. Solche riesigen Dimensionen gab es im Fach Germanistik selten. Zumindest an meiner Uni, an der die meisten Menschen Jura oder BWL studierten.

Als ich den Vorlesungssaal betrat, war er schon gut gefüllt. Ich suchte mir einen freien Platz, relativ weit hinten am Rand. So konnte ich schnell und unbemerkt wieder verschwinden. Angeborener Fluchtreflex oder so. Ich hasste es, mich an zahllosen Kommilitoninnen und Kommilitonen vorbeiquetschen zu müssen, wenn ich pünktlich gehen oder einfach mal aufs Klo wollte.

Aufmerksam beobachtete ich die Leute in den Reihen vor mir. Ein Kerl aß gerade genüsslich ein Leberwurstbrot, das ich bis hierher riechen konnte. Der war heute Morgen wahrscheinlich genauso spät dran gewesen wie ich. Ein Mädchen in derselben Reihe weiter links hatte nicht einen, sondern gleich zwei Laptops vor sich aufgeklappt. Was sollte das denn? Ergab eigentlich nur mit vier Armen Sinn. Laute Stimmen hinter mir zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. An der Eingangstür des Vorlesungssaales kabbelten sich zwei Kerle darum, wer als Erster den Raum betreten durfte. Das Ganze war eindeutig ein Spiel und keine echte Schlägerei. Am lautesten an ihnen war nämlich ihr Lachen. Dabei übersahen sie eine junge Frau hinter sich, die auch in den Saal wollte. Sie saß in einem Rollstuhl und schien zu glauben, dass einer der beiden Jungs ihr die Tür aufhalten würde. Die waren allerdings so mit sich selbst und mit ihrer lustigen Streiterei beschäftigt, dass ihnen die Frau gar nicht auffiel. Da ich am Rand saß, stand ich auf, um die Tür für sie zu öffnen.

»Danke dir«, sagte sie und lächelte mich an. Sie hatte blondes, langes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Ihre Augen waren strahlend blau und ihre Wangen leicht gerötet. Vielleicht ja vor Aufregung.

»Kein Problem. Es war Glück, dass ich gerade in deine Richtung gesehen habe.« Ich wandte mich wieder meinem Platz zu und wollte zurücklaufen, doch etwas hielt mich auf. Vielleicht war es ihr hilfloser Blick. »Sag mal«, ich sah wieder zu ihr, »bist du im ersten Semester? Ich hab dich bislang in keinem Kurs gesehen.«

»Sieht man mir an, wie unglaublich überfordert ich bin?« Sie lachte.

»Nein, so meinte ich das nicht.« Na ja, ein wenig vielleicht. Ich glaubte, dass ich an meinem ersten Tag an der Uni genauso verloren ausgesehen hatte. Aber das große Gelände, die vielen Lehrveranstaltungen, Pflichtfächer, die Kurse, die nur jährlich angeboten wurden … Vieles war am Anfang wirklich unnötig kompliziert. Und die ewig lange Prüfungsordnung und Studienführer machten es selten einfacher. Das war zumindest meine Erfahrung gewesen. Am meisten hatte mir geholfen, mich an erfahrene Kommilitonen zu halten und von ihnen zu lernen.

»Wo magst du denn hin?«, fragte ich, da ich keine Ahnung hatte, wie sie das mit dem Rollstuhl bewerkstelligen wollte und es vielleicht einen speziellen Platz für sie gab.

Sie sah sich im Saal um. »Ich werde mich einfach an den Rand einer Bank setzen. Da ich eine Unterlage für den Laptop habe, brauche ich keinen Tisch für mich.« Sie kramte eine gepolsterte Unterlage aus ihrer Tasche und trommelte mit den Fingern eine Melodie darauf.

»Das ist praktisch. Magst du dich vielleicht zu mir setzen? Ich konnte mir diesen wunderbaren Platz hier sichern.« Daraufhin zeigte ich mit gespieltem Stolz auf die Bank, auf der bereits meine Jacke lag.

»Sehr gern. Danke schön.« Sie lenkte den Rollstuhl neben mich und begann, ihre Utensilien auszupacken.

»Wow, ist das ein Mac?«

»Ja. Richtig tolles Teil. Habe ich vor ein paar Wochen geschenkt bekommen. Ein kleines Geschenk zum Studienbeginn«, sagte sie überglücklich.

»Ach, übrigens.« Ich reichte ihr die Hand. »Ich bin Henry.«

Sie schüttelte sie und lächelte noch immer von einem Ohr bis zum anderen. Dieses Lächeln war ansteckend.

»Ich bin Mathilda, und, um ehrlich zu sein, ziemlich froh, dass du mich angesprochen hast. Ich kenne hier nämlich noch niemanden. Das ist eine meiner ersten Vorlesungen.«

Und dann gleich eine so große, semesterübergreifende Vorlesung. Da konnte ich durchaus versehen, dass man erst einmal überfordert war.

»Dann kannst du ja von Glück reden, dass du mich getroffen hast. Ich bin im dritten Semester und quasi schon ein alter Hase. Wenn du Fragen hast, kannst du dich vertrauensvoll an mich wenden.«

»Ich bin echt ein Glückspilz.« Wir kicherten beide los.

In dem Moment betrat die Dozentin den Saal und das Gemurmel verstummte. Auch wir stellten das Reden ein. Zumindest für ein paar Anstandsminuten. Ziemlich schnell fingen wir wieder an, über dies und das zu tuscheln. Als dann die Unterschriftenliste herumgereicht wurde, konnten wir unser Lachen kaum unterdrücken. Irgendwelche Scherzkekse vor uns hatten die Liste mit wunderbar lustigen Namen komplettiert. Es gab angeblich einen Earl of Pearl, einen Mr Bombastik und eine Sailor Moon hier in diesem Kurs. Auf die Idee musste man erst mal kommen. Schnell unterschrieben wir, natürlich mit unseren richtigen Namen. Doch bevor ich die Liste nach links weitergeben konnte, griff Mathilda nochmals nach dem Blatt und schrieb Justin Bieber dazu. Erst dann durfte ich den Zettel weiterreichen.

»Nicht dein Ernst?« Ich sah sie mit großen Augen an und konnte es nicht glauben. Sie schien um einiges mutiger zu sein als ich. Das gefiel mir.

Danach fiel es uns beiden schwer, der Dozentin konzentriert zu folgen. Bei jeder Kleinigkeit drohten wir in Gelächter auszubrechen. Wenn der Lachmuskel mal angespannt war, war es für mich schier unmöglich, ernst zu bleiben. Mathilda schien es ähnlich zu gehen. Zumindest erwischte ich sie während der Vorlesung mehrmals dabei, wie sie sich die Faust vor den Mund hielt, um ihr Lachen zu verbergen. Ein Anblick, der mich mehr als einmal dazu brachte, schnell wegzusehen und einen imaginären Gegenstand in meiner Tasche unter der Bank zu suchen. Einfach weil ich ansonsten laut losgeprustet hätte.

Für meine Noten würde meine Bekanntschaft mit Mathilda kein gutes Ende nehmen. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, eine Verbündete gefunden zu haben. Und vielleicht ja sogar eine richtig gute Freundin.

Nach der Vorlesung verließen wir beide den Hörsaal.

»Hast du noch ein Seminar heute?«, fragte ich sie.

»Ja, aber erst in drei Stunden. Und du?«

»Ich hab jetzt auch erst mal Zeit. Soll ich dir vielleicht irgendetwas zeigen? Hast du Fragen?« Ich konnte mich noch an meine Anfangszeit an der Uni erinnern. Ich hatte ewig gebraucht, um alles zu finden und zu verstehen.

»Ja. Wie läuft das hier mit der Bibliothek? Ich weiß, dass sie in dem Gebäude da vorn ist.« Sie zeigte auf die Bibliothek auf der anderen Straßenseite. Ein riesiges Bauwerk mit einer großen Glasfront, durch die man die endlos langen Reihen der Bücherregale schon von hier erkennen konnte. »Brauche ich einen Ausweis? Muss ich irgendetwas beantragen?«

»Alles hier an der Uni funktioniert mit deinem Studentenausweis. Den hast du ja schon, oder?«

Sie nickte und kramte in ihrer Jackentasche, bis sie mir die Karte entgegenstreckte. Das Bild darauf war fürchterlich. Sie war kaum wiederzuerkennen.

»Schrecklich, oder?« Sie lachte und steckte die Karte schnell wieder weg. »Ich habe keine Ahnung, warum der Fotograf einfach ohne Vorwarnung auf den Auslöser gedrückt hat. Ich hatte nicht mal mehr Zeit, direkt in die Kamera zu sehen. Eigentlich hatte ich sogar noch Glück, dass ich nicht gerade meinen Finger in der Nase hatte.«

»Mach dir nichts draus. Sieh mal, wie mein Foto aussieht.« Ich griff in meine hintere Jeanstasche, holte den Geldbeutel heraus und zeigte ihr auch meinen Studentenausweis. Das Bild darauf war stark überlichtet. Ich hatte quasi keine Kontur im Gesicht. Den dicken Pickel am Kinn konnte man trotzdem leuchtend gut sehen. Mathilda prustete los.

»Jaja … mach dich ruhig über mich lustig«, meinte ich gespielt eingeschnappt.

»Sorry, aber wie kann man bei dem Bild nicht lachen? Ich muss dir recht geben. Dein Bild toppt alles. Warum stellen die nicht einfach einen richtigen Fotografen ein, oder kaufen besseres Equipment? Was soll das?«

Ich blieb stehen und rieb mir nachdenklich über mein stoppliges Kinn. Ja, für Rasieren war heute Morgen wirklich keine Zeit gewesen.

»Vielleicht gehört das schon zum Studentsein dazu. Dinge, die man als Student erlebt haben muss. Auf einer Wohnheimparty versacken, verkatert durch eine Prüfung fallen, ein schreckliches Bild auf dem Studentenausweis haben«, begann ich aufzuzählen.

»Lustige Namen auf die Anwesenheitsliste schreiben«, ergänzte Mathilda und brachte mich damit schon wieder zum Lachen.

Da hatte ich plötzlich eine Idee. »Wie wär’s? Soll ich dich auf einen Kaffee einladen? Da vorn ist ein super Laden, da bin ich recht häufig. Irgendwie habe ich das Gefühl, wir sollten an unserer studentischen Bucket List weiterarbeiten. Zwanzig Dinge, die man während des Studiums erlebt haben muss, oder so.«

»Gute Idee, auch wenn mir der Sinn eher nach heißer Schokolade steht und uns garantiert auch fünfundzwanzig Dinge einfallen werden.«

»Das klingt nach einem Plan.«

Nach einigen Heißgetränken und fünfzehn weiteren Punkten auf der Liste von Dingen, die du während deines Studiums unbedingt erlebt haben musst, verabschiedeten wir uns. Natürlich nicht, ohne vorher Handynummern zu tauschen und uns gegenseitig auf Instagram zu folgen. Danach mussten wir beide zurück zur Uni, nur in unterschiedliche Kurse.

Doch vorher versprachen wir uns, unsere Freistunden nun öfter miteinander zu verbringen, und ich freute mich schon sehr darauf.

Gegen Abend schrieb ich ihr direkt, dass ich Freitag ziemlich viel Freizeit zwischen zwei Vorlesungen haben würde, und sie antwortete mir erfreulicherweise, dass auch sie dann Zeit hätte. Also stand unserem nächsten Treffen schon mal nichts im Wege. Zufrieden lehnte ich mich auf dem Schreibtischstuhl zurück. Ich hatte bereits meinen Pyjama an, also eine Boxershorts und ein verwaschenes Bandshirt von Linkin Park, und ordnete gerade den ganzen Uni-Kram, der sich diese Woche angesammelt hatte. Arbeitsblätter, Mitschriften, Grafiken und so Zeug. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es mehr Sinn ergab, sich regelmäßig darum zu kümmern und nicht erst kurz vor einer Prüfung. Auch so eine Sache für die studentische Bucket List: Du hast nie richtig studiert, wenn du nicht mit großer Panik in der Nacht vor einer Prüfung diese eine wichtige Notiz gesucht hast.

Ich notierte den Punkt und schickte ihn an Mathilda. Genau in diesem Moment vibrierte mein Handy in der Hand und es ging eine Nachricht von einer unbekannten Nummer ein.

Hi, Henry! Schön, dass ich nun auch deinen Namen kenne. Meiner ist Max, falls du es noch nicht wusstest.

Und einige Sekunden später.

Ich bin’s übrigens. Der Barkeeper aus dem Green Leaf.

Ich starrte total perplex auf die beiden eingegangenen Nachrichten. Mein Hirn brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was da gerade passiert war.

Er schrieb mir! Er hatte den Zettel nicht weggeworfen. Vielmehr hatte er ihn aufbewahrt, sich die Mühe gemacht, die Nummer einzutippen, einzuspeichern und im Anschluss eine Nachricht an mich zu senden. Sogar zwei. An mich!

Geschah das gerade wirklich?

In diesem Moment wurde mir erst so richtig klar, dass ich tatsächlich nicht damit gerechnet hatte, dass er mir schreiben würde.

Aber er hatte es getan! Yes!

Was wir von Quallen lernen können

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