Читать книгу Alles Glück da draußen - Katherine Slee - Страница 5
1 Kakadu
ОглавлениеCacatuidae
Emily saß an der Tür zum Garten, das Skizzenbuch aufgeschlagen auf dem Küchentisch, und wartete, dass etwas passierte.
Die Schatten auf dem Rasen verschwanden allmählich, während die Sonne am Sommerhimmel aufstieg, und in der Kirche nebenan machten sich die Glöckner bereit. Alles war, wie es an einem Montagmorgen im August sein sollte, doch Emily hatte das Gefühl, als wäre eine Lücke im Tag, und sie versuchte herauszufinden, wie sie diese füllen sollte.
Sie kam nicht weiter und wartete auf eine Eingebung, doch auch eine zweite Tasse Tee und ein Stück Zitronenkuchen hatten bisher nicht geholfen. Eine Auswahl an Tintenfässern stand neben der Spüle bereit, für den Fall, dass Emily entschied, welche Farbe sie dem Kakadu geben wollte, den sie beim Frühstück gezeichnet hatte.
Das Problem war, laut Auftrag ihrer Verlegerin sollte es eine naturgetreue Darstellung des Vogels sein, ohne Schrullen oder phantastische Elemente, doch immer wenn Emily ihn ansah (denn es war definitiv ein Er, mit seinem stolzen Kamm auf dem Kopf), überkam sie das Verlangen, seine Federn in allen Farben des Regenbogens anzumalen. Ihre Gedanken wollten nicht gehorchen und schweiften ab, malten sich aus, der Kakadu könnte sich verwandeln wie ein Chamäleon, wenn er vor irgendwem oder irgendwas davonfliegen musste.
Außerdem war noch ein anderes Bild in ihrem Kopf, von einem kleinen Mädchen im Rollstuhl mit dem Kakadu auf ihrer Schulter. Sie flüsterte ihm etwas zu, streichelte ihm die Brust und sah zu, wie die Farbe in kleinen Wellen vom Vogel auf ihre Haut überging. Denn ganz gleich, was für Bilder Emily zeichnen sollte, ihre Gedanken brachten sie immer wieder zu Ophelia zurück, der Kultfigur, die ihre Großmutter vor all den Jahren erschaffen hatte.
»Cacatuidae.« Emily sagte den lateinischen Begriff für den Vogel laut vor sich hin, während sie ihn unter den Ast schrieb, auf dem er saß. Sie sprach langsam, spürte sich in jede Silbe hinein, und ihr wurde bewusst, dass es das erste Mal seit Tagen war, dass sie überhaupt sprach.
Sie hatte sich ohnehin nur bereit erklärt, diese Illustrationen anzufertigen, weil sie sich davon ablenken wollte, dass sie ganz allein war. In ihrer Naivität hatte sie gedacht, ein neues Projekt würde reichen, um die Stunden des Tages zu füllen, in denen sie sonst nichts zu tun hatte und nirgendwohin musste.
Im Radio begann ein neuer Song, die samtigen Töne einer Klarinette spielten Peter und der Wolf, und Emily hatte sofort das Bild von einem Jungen im Kopf, der durch den Schnee nach Hause rannte, wo seine Mutter mit einem Truthahn auf dem Tisch und Geschenken unter dem Baum wartete.
Tut mir leid, dachte sie mit einem Blick auf den Kakadu und schaltete das Radio aus, bevor sie das Skizzenbuch zuklappte und die Tintenfässer wegräumte. Es scheint, als wärst du zu Gewöhnlichkeit verdammt.
Jahrelang hatte Emily Zeichnungen angefertigt, die alles andere als gewöhnlich waren. Ihre Bilder waren märchenhaft und phantasievoll und ließen die wundervollen Geschichten ihrer Großmutter zum Leben erwachen. Doch nach deren Tod fiel es Emily schwer, sich auf etwas Neues zu konzentrieren.
Sie schaute in das Zimmer neben der Küche, das Arbeitszimmer ihrer Großmutter. Eine Wand war ganz von Regalen in Besitz genommen, gefüllt mit Dutzenden der roten Notizbücher ihrer Großmutter, die sämtliche Ideen für alle Manuskripte enthielten, die sie über Ophelia und ihre zahme Ente geschrieben hatte. Zehn Bücher insgesamt, nicht mehr, nicht weniger. Aber jetzt schien die ganze Welt zu glauben, dass ein weiteres existierte, obwohl Emily wusste, dass die Zeit gefehlt hatte, es zu schreiben.
Wie konnte sie mir das antun?, dachte Emily. Die Ärzte hatten ihr doch noch Zeit gegeben. Zeit, ihr Werk zu beenden. Zeit, eine alternative Behandlungsmethode zu finden.
Zeit, um zu kämpfen.
Ihre Großmutter war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der sie verstand. Der ihren Kummer darüber, beide Eltern bei einem Autounfall verloren zu haben, geteilt hatte, ebenso wie die Qualen von Emilys anschließender Genesung. Sie war der einzige Mensch, der all die Jahre der grausamen Hänseleien von Kindern, die ihre Freunde hätten sein sollen, da gewesen war.
Sie hatte versprochen, Emily zu lieben, sich immer um sie zu kümmern. Doch jetzt konnte ihre Großmutter, die berühmte Catriona Robinson, niemanden mehr beschützen.
Von draußen hörte sie Schritte auf dem Gartenweg, Stille, dann wurde ein Stapel Post durch den Briefschlitz geschoben und landete auf der Fußmatte. Zweifellos weitere Beileidsbekundungen von Leuten, die Emily nicht kannte. Handschriftliche Mitteilungen von trauernden Fans, die ausführlich beschrieben, wie wundervoll und talentiert ihre Großmutter gewesen war – gewürzt mit persönlichen Geschichten darüber, wie deren Bücher ihre kindliche Phantasie angeregt hatten.
Emily ging in den Flur und bückte sich, um die Post aufzuheben, begann, sie zu Stapeln aus Briefen, Werbung, Katalogen und Rechnungen zu sortieren, als das schrille Klingeln des Telefons die Ruhe störte. Der Anrufbeantworter schaltete sich an.
»Emily, Schatz, hier ist Charlie.« Eine Frauenstimme, die aus dem fernen London nach Norfolk zu ihr drang, und Emily konnte sich die Person am anderen Ende der Leitung genau vorstellen, die in einem großen, hellen Büro im zweiundzwanzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers mit Blick auf die Themse saß. »Hör zu, tut mir leid, dass ich immer wieder damit komme, aber die Chefetage macht mir Druck, eine Presseerklärung über dieses verdammte Manuskript rauszugeben.« Es folgte ein langer Seufzer, und Emily schloss die Augen, weil sie ahnte, was kommen würde. »Bist du da? Ich weiß, du willst nicht darüber reden, aber irgendwann wirst du all diese Fragen über Catriona beantworten müssen, über ihr Leben. Es muss ja nicht persönlich sein, aber das bist du den Fans schuldig …«
Die Ruhe kehrte zurück, als Emily den Stecker aus der Dose zog und ihn dann einfach zu Boden fallen ließ, wo er mit einem dumpfen Aufprall auf dem Teppich landete. Sie schaute auf die Briefe, die ihre Hand umklammert hielt, bevor sie ins Wohnzimmer ging und sie allesamt in den Kamin warf. Als Nächstes ging sie wieder in den Flur, um einen großen Karton zu holen, der vor der Haustür stand, trug ihn zum Kamin und machte den Deckel auf. Es befand sich Fanpost darin, Hunderte von Briefen, die meisten ungeöffnet.
Ich will euer Mitleid nicht, dachte Emily, als sie anfing, sie in vier ordentlichen Haufen vor dem Kamin zu stapeln.
Nie zuvor hatte Emily weglaufen wollen, hatte im Gegenteil alles Erdenkliche getan, um in Wells-next-the-Sea zu bleiben, einer freundlichen kleinen Stadt an der Küste Norfolks, wo es angenehm gemächlich zuging und man sie größtenteils in Ruhe ließ. Jedenfalls bis ihre Großmutter dieses Interview gegeben hatte, in dem sie der ganzen Welt erzählt hatte, dass möglicherweise ein weiteres Manuskript existierte. Nach der Veröffentlichung brach das Chaos aus – Anrufe, E-Mails, Fremde, die vor der Tür standen, Emily ihre Handys vor die Nase hielten und sie fragten, ob das wahr sei. Letztlich passierte genau das, wovor ihre Großmutter sie zu Lebzeiten immer beschützt hatte. Doch Emily hatte keine Antworten, weder damals noch jetzt, weil sie ihre Großmutter nie nach der unvollendeten Geschichte gefragt hatte. Allmählich fühlte es sich so an, als hätte Emily sie nie irgendetwas Wichtiges gefragt, und jetzt war es zu spät.
An der gegenüberliegenden Wand von den ganzen Notizbüchern hing ein kleines, quadratisches Bild von zwei Hüttensängern. Es war stilistisch so ganz anders als all die anderen Bilder im Haus, aber Emily hatte nie gefragt, woher es kam oder warum es direkt neben dem Arbeitsplatz ihrer Großmutter hing. Das war nur ein Beispiel dafür, wie Emily in ihrer kindlichen Arroganz einfach davon ausgegangen war, dass Erwachsene vor der Geburt ihrer Kinder eigentlich keine Vergangenheit hatten. Jetzt wünschte sie sich mehr als alles andere, mit ihrer Großmutter reden zu können und alles zu erfahren, was sie vorher erlebt hatte.
Emily ging zum Kaminsims, betrachtete jedes einzelne Foto darauf und wünschte, sie würde wenigstens auf eine ihrer vielen Fragen eine Antwort bekommen.
Jahrelang hatte Emily zugelassen, dass andere über ihr Leben bestimmten, erst eine lange Reihe von Ärzten, dann ihre Großmutter. Es war immer Catriona gewesen, an die sie sich gewandt hatte, wenn sie in Not war, und der sie alle Entscheidungen überlassen hatte, die Verantwortung für so ziemlich jeden Aspekt ihres Lebens. Erst als Catriona beschlossen hatte, auf weitere Behandlungen zu verzichten, war Emily gezwungen gewesen, einzusehen, wie isoliert sie war, wie abhängig von ihrer Großmutter.
Emily betrachtete ihre Briefstapel und fragte sich, was mit all den Worten geschehen würde, wenn sie sie anzündete. Stellte sich vor, wie sie den Schornstein hinauf in den Himmel steigen würden, wo sie sich miteinander vermischten und vielleicht etwas Neues erschufen oder im Schnabel eines vorbeikommenden Kakadus landeten, der übers Meer flog und sie einem Jungen brachte, der davon träumte, eines Tages ein berühmter Schriftsteller zu sein.
»Was soll ich nur tun?«, seufzte Emily, während sie auf die Knie sank und zum Schreibtisch ihrer Großmutter sah, auf dem eine alte Schreibmaschine stand, die seit Monaten niemand angerührt hatte.
Achtundzwanzig Jahre war sie alt und hatte im Leben nichts vorzuweisen als ein Regal voller Bücher. Was war sie, wer war sie, ohne die große Catriona Robinson?