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2 Rotkehlchen

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Erithacus rubecula

Mr Thomas erkannte den Umriss einer Gestalt am Fenster, als er sich näherte. Das Haus selbst lag versteckt am Ende eines langen Kieswegs neben der Kirche. Auf einem Schild, das leicht zu übersehen war, wenn man im falschen Moment blinzelte, stand Meadow Cottage – in derselben Handschrift wie der Brief, den er im Auftrag jener Frau überbrachte, die er jeden Tag schon beim Aufwachen vermisste.

Es war sein Hund Max, der sie ursprünglich zusammengeführt hatte, vor knapp einem Jahr. Schwanzwedelnd war er im Kreis um einen Kleiderhaufen herumgerannt, während sein Bellen die Morgenluft durchdrang. Es hatte eine kurze Rangelei gegeben, bei der er Max das eine Ende eines Gürtels aus dem Maul zog, dann hatte er bereits halb zugebuddelt einen kleinen goldenen Ring im Sand neben den Kleidern entdeckt, die jetzt von sandigen Pfoten zerwühlt waren. Er hatte sich einmal um die eigene Achse gedreht, auf der Suche nach einer anderen Person, und eine Frau entdeckt, die auf ihn zugelaufen kam, außer Atem, aber lächelnd, mit klitschnassen Haarsträhnen im Gesicht.

Sie trug nichts weiter als ein Seidenunterkleid, das von ihrem Bad im Meer durchweicht war. Sie entschuldigte sich für das Missverständnis und lachte darüber, wie ihre abgelegte Kleidung für einen Mann aussehen musste, der zufällig mit seinem Hund vorbeikam.

Sie stellte sich als Catriona vor, ihre Hand klein und kalt in seiner. Eine Hand, die er noch oft halten sollte, wenn sie jeden Morgen zusammen mit Max spazieren gingen, bevor sie zur Enkelin nach Hause zurückkehrte, die kennenzulernen er nie Gelegenheit gehabt hatte. Bis jetzt.

Einerseits wäre er am liebsten wieder gegangen und hätte seinen Morgen fortgesetzt wie geplant – ein Spaziergang am Strand, gefolgt von starkem schwarzen Kaffee, Croissant und Zeitung im benachbarten Café, dann nach Hause, um an den Hochbeeten im Garten weiterzuarbeiten.

Andererseits wusste er, es wäre töricht, die Wünsche einer sterbenden Frau zu ignorieren. Einer Frau, die ihn gewählt hatte, weil er verstand, dass Emilys Welt auf den Kopf gestellt würde.

Max stupste an das Bein seines Herrchens und holte ihn ins Hier und Jetzt zurück. Im Garten war es still: Blütenblätter, die unter der aufsteigenden Sonne dösten, Bienen auf der Suche nach einem zweiten Frühstück, ein Rotkehlchen auf dem Stiel einer Harke, einen Wurm im Schnabel.

Der Hund bellte, und der Vogel ergriff die Flucht, als sich die Haustür öffnete. Eine junge Frau in einem hellgrünen T-Shirt und kurzen Jeans erschien in der Tür. Ihre Haut war leicht gebräunt, bis auf eine lange Narbe an ihrem Kinn. Barfuß stand sie da, die Zehennägel in einem glänzenden Rot lackiert, und beobachtete Mr Thomas unter einem schweren Pony hindurch, der bis kurz über die haselnussbraunen Augen reichte.

Ihr Blick hatte etwas Verstörendes, fand Mr Thomas. Als wollte sie ihn herausfordern, sie noch einen Augenblick länger zu betrachten, den Schwung ihrer Lippen, die denen ihrer Großmutter so ähnelten, und die Sommersprossen auf ihrer Nase.

»Sind Sie Emily?«, fragte er.

Ein kurzes Nicken als Antwort, während sie sich bückte, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen, ein Lächeln, das die Narbe durchbrach, als der Hund ihr die Hand leckte.

»Ich habe etwas für Sie«, sagte er und hielt ihr den Umschlag hin, den er sechs Wochen aufbewahrt hatte. »Er ist von Ihrer Großmutter.«

Sie betrachtete das Kuvert kurz, bevor sie es nahm, dann drehte sie sich um, ging zurück ins Haus und winkte ihm, ihr zu folgen.

Der Hund riss sich von der Leine los und trottete hinter der Frau her, die in einem Zimmer verschwand. Innen war das Haus kühl, und die Frische der Nacht krallte sich noch in den Steinwänden fest. Links lag ein kleines Wohnzimmer, geradeaus eine schmale Treppe. Eine Kuckucksuhr tickte in einer Ecke vor sich hin, und er war gezwungen, den Kopf einzuziehen, um einem Balken auszuweichen, als er zur Küche durchging. Der Duft von Toast und Kaffee zog seinen Blick auf einen Tisch an der Tür zum Garten, auf dem ein leerer Teller und eine Tasse standen, neben einem Skizzenbuch, das auf einer weißen Seite aufgeschlagen war.

Emily stand an der Spüle, und er beobachtete, wie sie den Umschlag in der Hand drehte und ihn von allen Seiten betrachtete. Sie hielt ihn gegen das Licht, dann warf sie ihn in die Spüle, wo er auf einem sich langsam auflösenden Schaumturm landete. Dunkle Tintenranken begannen, durch das Papier zu sickern.

»Ach, ja«, sagte er, und seine hektischen Finger straften die ruhige Fassade Lügen. »Da ist noch etwas.« Aus der Tasche zog er einen Füllfederhalter mit flaschengrüner Marmorierung und goldener Kappe heraus. Emily nahm den Stift, hielt ihn in der Handfläche, dann schrie sie plötzlich auf, schlug mit der Faust gegen das Porzellan und sank zu Boden.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte er und eilte an ihre Seite, doch sie senkte nur den Kopf, um ihre Tränen zu verbergen. »Es tut mir so leid«, fuhr er fort und streckte eine Hand aus, die er gleich wieder zurückzog. »Wissen Sie, was es bedeutet?« Catriona hatte es ihm nicht verraten. Ihn nur gebeten, den Brief und den Stift zu übergeben.

Emily nickte, dann schüttelte sie den Kopf, und ein schwacher Seufzer entwich ihren Lippen. Max legte ihr eine Pfote aufs Bein. Der Hund schien ihren Schmerz zu verstehen und winselte leise, als sie einen Arm um seinen Hals schlang und das Gesicht in seinem Fell vergrub.

»Gibt es jemanden, der Ihnen behilflich sein kann?«, fragte Mr Thomas, und sah sich in der Küche um, als hoffte er auf einen Wink, was er tun sollte. Sein Blick überflog die alltäglichen Gegenstände, die sich bei jedermann fanden. Ein Laptop, eine Kaffeemaschine, diverse Schlüssel an einer Reihe Haken an der Wand, zwei Paar Gummistiefel nebeneinander an der Tür. Das gerahmte Cover eines Kinderbuchs von einer der beliebtesten Autorinnen Englands.

Emily saß noch immer auf dem Boden und streichelte mit einer Hand gedankenverloren Max’ Ohren, während sie mit der anderen den Füller drehte und wendete.

Plötzlich spürte er die ganze Tragweite seines Eindringens. Dass er Zeuge von etwas wurde, das ihn nichts anging, und es regte ihn auf, ärgerte ihn, dass er hergekommen war, um Schicksal zu spielen, obwohl ihm das eigentlich nicht zustand.

»Es tut mir wirklich furchtbar leid«, murmelte er, während er Max am Halsband griff und ihn von der Frau wegzog. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach so reingeplatzt bin. Es war nicht meine Absicht, Ihnen Kummer zu bereiten, aber ich musste Ihrer Großmutter ein Versprechen geben, und, na ja, ich fand, dass ich es einlösen musste.« Er plapperte, eine nervöse Angewohnheit von ihm, umso auffälliger in diesem Raum, der so still war, bis auf das Ticken der Uhr und das Klackern von Max’ Krallen auf dem Boden, als sie zur Tür gingen.

Sie bedachte ihn mit nicht mehr als einem flüchtigen Blick, als er ging, und erst nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wurde ihm bewusst, dass sie trotz seines Gefasels, trotz des Schocks über das, was er überbracht hatte, die ganze Zeit, während er dort war, kein einziges Wort gesagt hatte.

Alles Glück da draußen

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