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3 Elster

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Pica pica

Der Mann war fort. Der Hund auch. Emily war zugleich traurig und erleichtert. Ihr eine Nachricht aus dem Grab zukommen zu lassen, war so typisch für ihre Großmutter. Alles zu planen, bis hin zu der Person, die sie überbrachte, mit einem Hund sogar, als würde es das leichter machen.

Sie nahm ihre Tasse, deren Rand mit winzigen Turteltauben verziert war, und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Wärmte sich die Handfläche daran und tippte mit dem Füller gegen den Rand, während sie darüber nachdachte, warum ihre Großmutter ihn genommen hatte. Vielleicht hatte sie ihn in der Tasche ihrer Strickjacke versteckt oder in einem Beutel Tabak, weil sie wusste, dort würde Emily niemals nachsehen. Emily hatte den Stift überall gesucht, Kissen zur Seite geschleudert, Bücher aus den Regalen des Arbeitszimmers gezogen und sogar nachgesehen, ob er aus unerfindlichen Gründen bei den Tomaten im Gewächshaus gelandet war.

»Achte auf Hinweise«, hatte ihre Großmutter immer gesagt. »Vergiss nie, auf alle Zeichen und Wunder zu achten, die sich in jedem Winkel der Welt verbergen.«

Doch was für eine Art Hinweis sollte das sein? Emily schraubte die Kappe ab, hielt die Feder unter die Nase und atmete tief ein. Sie musste immer an die Tube Germolene-Creme denken, rosa und klebrig, die hinten im Badezimmerschrank über dem Waschbecken lag. Ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit mit charakteristischem Geruch. Der Füller war ein Geschenk von ihrer Großmutter, um Emilys Selbstvertrauen in sich und in ihre Zeichnungen zu stärken. Sie solle nie auch nur auf die Idee kommen, etwas wegzuradieren, sagte sie, alle Bilder, die sie zeichnete, hätten einen Grund, und sie solle alle wie einen Schatz hüten. Seither zeichnete Emily mit schwarzer Tinte, nie mit Bleistift.

Ein langer Seufzer, weil alle Erinnerungen Emily nur erneut offenbarten, dass sie allein war. Sie schloss die Augen, versuchte, sich an das Gesicht ihrer Großmutter am letzten Abend ihres Lebens zu erinnern. Versuchte, sich die genauen Worte ins Gedächtnis zu rufen, die sie gesagt hatte, bevor sie ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte und Emily sich wieder ihrer Arbeit zu- und vom Klang der Schritte auf der schmalen Treppe abgewendet hatte. Vom Knarren der Dielen über ihr, als die alte Frau sich schlafen legte.

Emily pustete in ihre Tasse, ließ den Dampf aufsteigen und ihr Gesicht bedecken. Spürte Tränen auf den Wangen, eine Mischung aus Trauer und Wut darüber, allein gelassen worden zu sein.

Plötzlich ertönte der Ruf einer Elster. Emily öffnete die Augen und entdeckte den Übeltäter im Apfelbaum am Rand des Rasens. Zwei scharfe Pfiffe, und der Vogel flog vom Ast herab, hüpfte über das Gras, dann durch die Tür und auf den Küchentisch.

»Hallo, Milton«, flüsterte Emily leise.

Der Vogel pickte in den Toastkrümeln herum, dann hüpfte er auf ein Regal und klopfte mit dem Schnabel gegen eine Keksdose. Emily streckte den Arm aus, um den Vogel herunterzuholen, und beugte sich zu ihm, um ihn leise zu rügen, worauf Milton den Kopf schief legte.

Zwei schwarze Augen betrachteten sie für einen Moment, dann hüpfte er zum Waschbecken. Kopf runter, Schwanz hoch, machte sich die Elster daran, mit dem Schnabel einen durchweichten Umschlag zu untersuchen, den Emily ihm wegschnappte und auf den Tisch warf.

»Nein«, flüsterte Emily, ein Knall von Tasse auf Holz, bevor sie in den Garten hinausstürmte.

Sie konnte ihn nicht ansehen. Schon gar nicht ihn öffnen und die letzten Worte ihrer Großmutter lesen. Denn damit würde es Wirklichkeit, mehr als eine vorübergehende Ablenkung von der Eintönigkeit des Lebens. Würden die Drohungen und Versprechungen ihrer Großmutter wahr: dass Emily schon bald auf sich gestellt sein würde.

Sie hatte das seltsame Gefühl, wenn sie den Brief läse, würde sich alles ändern, und dafür war sie nicht bereit. Noch nicht.

Durch das feuchte Gras spürte sie unter den Zehen die Erde und winzige Gänseblümchenstängel. Gänseblümchen, aus denen sie immer Ketten gemacht, die sie in den Bäumen im Umkreis des Gartens aufgehängt hatte. Ein Schutzschild gegen die Welt da draußen.

Die immer hereinschaute, immer gaffte. Immer etwas über die berühmte Autorin erfahren wollte und vielleicht noch mehr über das stille Kind.

Emily lehnte sich an den rauen Stamm des Apfelbaums und sah zu Milton, der zu ihren Füßen wartete. Ein Rotkehlchen hatte sich zu ihm gesellt, das Emily mit einem Zwitschern begrüßte, dann aufflatterte und dicht neben ihrem Ohr landete.

Eine leichte Brise bauschte die Federn an seiner Brust auf und trug den Duft von Geißblatt und karamellisiertem Zucker vom Pfarrhaus nebenan herüber. Der Pfarrer war eine Naschkatze, und Emily leistete ihm manchmal Gesellschaft, wenn er bei einem Teller mit Keksen oder Plunderstücken, die seine Frau gebacken hatte, seine Predigten schrieb. Vielleicht konnte sie kurz vorbeischauen und ihn den Brief lesen lassen?

Egal, wer ihn las, sie würde sich eingestehen müssen, dass ihre Großmutter nicht mehr war.

Ihre Kehle begann sich zuzuschnüren, als die Wahrheit in ihr Herz drang, und sie stieß ein lautes Schluchzen aus, das die Stille des Gartens zerriss.

Milton schüttelte den Kopf, dann hoppelte er über den Rasen davon. Das Rotkehlchen sang seinen eigenen Klagelaut, und Emily malte sich aus, wie ein Chor aus Vögeln im Apfelbaum landete, ein bunter Haufen aus Elstern und Zaunkönigen, Krähen, die ganz oben hockten, und Schwalben, die aus dem Himmel tauchten und wieder hinaufschossen.

Sie wusste, sie tat es schon wieder – flüchtete sich in ihre Phantasie, um die Realität dessen, was sie verloren hatte, nicht zulassen zu müssen. Denn sie hatte so viel verloren, und sie wollte nicht wieder von vorn anfangen.

Emily atmete tief durch, wischte sich die Augen und kehrte in die Küche zurück, wo Milton auf dem Frühstückstisch die letzten Krümel aufpickte, der ungeöffnete Umschlag ihrer Großmutter zu seinen Füßen.

»Okay«, seufzte sie, während sie mit den Fingern unter das Siegel fuhr. Heraus fiel ein einzelnes Blatt Papier mit der sauberen, schwarzen Schrift ihrer Großmutter:

East Quay 117a

Nicht mehr, nicht weniger. Nur ein paar Buchstaben auf einer Seite. War das so eine Art Brotkrumen-Spur, der sie folgen sollte?

Emily riss das Papier in immer kleinere Fitzel, ließ sie nacheinander zu Boden fallen und scharrte sie mit den Füßen fort, wollte, dass sie verschwinden.

Sie brauchte den Zettel nicht, um den Ort zu finden – sie kannte die Adresse auswendig. Es war das, was sie dort erwartete, das sie zögern ließ. Sie dazu brachte, zum Tisch zu schauen, auf dem ihr Skizzenbuch wie eine stumme Einladung lag und wartete.

Während sie die Seiten glatt strich, fuhr sie mit den Fingern über eine andere Zeichnung, an der sie arbeitete, von einem jetzt erwachsenen Mädchen, das durch die Landschaft radelte, das ganze Leben mit all seinen Möglichkeiten vor sich. Ein Mädchen, das sie in genau diesem Zimmer erdacht hatte, als sie selbst noch ein Kind war. Als sie gebrochen, geschlagen und stumm war, aber dennoch einen Weg fand, auszudrücken, was in ihrem Innern vorging. Bilder von einer kleinen Heldin, die die Phantasie von Millionen von Kindern in der ganzen Welt beflügelt hatte, zusammen mit den Worten ihrer Großmutter. Ein Mädchen, dessen Abenteuer nur im Kopf von jemandem existierten, der nun fort war. Für immer. Und der nichts als diesen blöden Hinweis hinterlassen hatte.

Aber wenn sie nicht ging, wenn sie nicht den Wünschen ihrer Großmutter folgte, konnte sie einfach so tun, als wäre alles wie immer.

Wäre da nicht der Mann, der ihr den Brief gebracht hatte. Er würde es wissen. Es würde es sich zusammenreimen. Sie hatte gesehen, wie er sie angeschaut hatte. Wie er die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihrer Großmutter verarbeitet hatte. Er hatte das gerahmte Cover der Erstausgabe gesehen, ein Cover, das weltberühmt war. Es würde nicht lange dauern, bis er alle Puzzleteile zusammengesetzt hatte.

Wieder einmal hatte ihre Großmutter vorausgeahnt, wie Emily reagieren würde, hatte gewusst, dass sie sich verkriechen würde, um sich vor der Realität zu schützen. Sie hatte dafür gesorgt, dass es einen Zeugen gab, der Emily irgendwann in Zugzwang brachte.

In den letzten Tagen vor ihrem Tod hatte ihre Großmutter von etwas gesprochen, das lange zurücklag. Ein gut gehütetes Geheimnis, das Emily herausfinden sollte. Es war eine Art Puzzle, ein Versteckspiel, wie Catriona Robinson es liebte. Folge den Hinweisen, und du findest die Belohnung. Ein Schokoladenei oder eine winzige Tür in einem Baum, hinter der angeblich eine Fee wohnte. Nur diesmal war Emily nicht sicher, ob sie mitspielen wollte.

Die Elster klopfte mit dem Schnabel erneut gegen die Keksdose. Sie schien darauf zu warten, dass Emily eine Entscheidung traf. Entweder das oder sie wollte einfach nur noch ein Leckerli. Ein flüchtiges Augenverdrehen, ein letzter Schluck Kaffee, dann ging Emily wieder nach draußen.

Das Bein über den Sattel geworfen, die nackten Füße auf den Pedalen radelte sie durchs Dorf, und der Wind flüsterte ihr Geheimnisse ins Haar. Winzige Blütenstaubsprenkel berührten ihre Haut, als sie die Straße entlangsauste.

Sie spürte die Blicke, die Köpfe, die sich nach ihr umdrehten, als sie vorbeifuhr. Die Vogelfrau. Die Schweigsame. Die Fremde in ihrer Mitte, die in der Kirche immer ganz hinten stand, damit niemand sie singen hörte.

Über ihrem Kopf flog Milton: ihr Begleitschutz, ihr Aufpasser, eine schwarz-weiße Schliere, die zu wissen schien, wo Emily hinwollte. Zu einem Buchladen im Nachbardorf. Nicht der große in der Hauptstraße zwischen Friseursalons und Secondhandläden. Dieser lag versteckt in einer Seitenstraße, und Emily hatte einen Großteil ihrer Kindheit hier verbracht, beschützt von den erdachten Worten fremder Menschen. Darunter auch die ihrer Großmutter, die Geschichten über ein Mädchen namens Ophelia schrieb, deren einziger Freund eine Ente war. Die beiden reisten durch die ganze Welt auf der Suche nach Märchen und Abenteuern. Es waren Abenteuer, die Emily sich im echten Leben nie getraut hätte.

Als sie näherkam, sah Emily, dass die Tür offen war. Die Luft um ihren Rahmen gesprenkelt von Licht, das über den Boden hineinsickerte. Es war Donnerstag. Normalerweise war der Laden zu. Doch heute war kein Tag wie jeder andere – das spürte Emily jetzt.

Sie lehnte das Fahrrad an die Wand, Milton als Wache, trat über die Schwelle und spürte den Luftzug auf der Haut, als die Tür hinter ihr zufiel.

Der Laden war vertraut und fremd zugleich. Jede freie Fläche mit Büchern bedeckt. Regale, die bis unter die Decke reichten, Seitentische und Stühle, die unter dem Gewicht all dieser Worte ächzten. Der behagliche Geruch von Papier und Tinte in der Luft.

Doch da war noch etwas anderes, etwas, das Emily nicht genau benennen konnte. Am anderen Ende des Ladens führten drei Stufen durch einen Torbogen hinunter in einen kleinen Raum, der von einem alten Ledersessel beherrscht wurde. Zu jeder Seite stand ein Turm aus Büchern, der aussah, als würde er bei der kleinsten Berührung einstürzen. Dazwischen saß der Buchhändler, ein aufgeschlagenes Taschenbuch auf dem Schoß. Sein Haar hatte die Farbe von Whiskey, seine Tweedweste war aufgeknöpft, und ein Finger folgte den Buchstaben, während er las und die dünnen Lippen sich still dazu bewegten.

Sein Kopf hob sich nur ganz leicht, als sie sich näherte.

»Ah, Emily«, sagte er und blinzelte sie durch verschmierte Brillengläser an. »Ich habe mich schon gefragt, wann du endlich auftauchst.«

Alles Glück da draußen

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