Читать книгу Alles Glück da draußen - Katherine Slee - Страница 9
5 Pelikan
ОглавлениеPelecanus
Er war in ihrer Küche. Machte Schränke auf und zu, nahm sich Schinken und Käse aus dem Kühlschrank. Als wäre es für ihn das Natürlichste der Welt, hier zu sein, bei ihr.
Tyler saß jetzt auf dem Rand des Tisches mit den Resten ihres Frühstücks und dem Skizzenbuch und redete darüber, wie leid es ihm täte, dass er es nicht zur Beerdigung geschafft hatte, dass ihm immer gefallen hatte, wie chaotisch und frei Tante Cat war.
War, dachte Emily.
»Hast du fertig gepackt?«
Emily sah zu, wie Tyler sich den Mundwinkel mit einer Stoff-serviette abwischte, deren Rand mit winzigen Sternen bestickt war. Das letzte Mal hatte sie ihn an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag gesehen. Auf einem Fest, das aus einem bunt zusammengewürfelten Haufen verlorener Seelen bestand, die in irgendeiner Form mit ihr zu tun hatten, obwohl keine von ihnen sie zu kennen schien. Er war draußen im Garten gewesen, drüben bei einem der Apfelbäume, hatte eine Zigarette geraucht und stirnrunzelnd den Pfarrer angesehen, der vom Skilanglauf schwärmte.
»Gepackt?«, fragte sie und hasste es, wie ihre Zunge in der Mitte des Wortes hängenblieb. Es spielte keine Rolle, dass sie Tyler schon ihr ganzes Leben kannte oder dass er wusste, woher ihre Sprachbehinderung rührte, es war ihr trotzdem peinlich, dass sie rot wurde.
»Der Zug fährt in gut einer Stunde«, erwiderte er, während er die Keksdose öffnete und hineinspähte, bevor er eine Handvoll nahm. »Ich bin davon ausgegangen, dass du fertig bist!«
Emily schüttelte den Kopf und sah sich hektisch in der Küche um, als gäbe es dort einen versteckten Hinweis darauf, wovon er redete. Der Buchhändler hatte gesagt, sie würde Bescheid wissen, sie würde es verstehen.
Mit Sicherheit nicht, dachte Emily und begann, auf und ab zu gehen. Sie sah zu Tyler, dann zur Uhr über der Spüle und wieder zu Tyler.
Obwohl es typisch für ihre Großmutter wäre, ihr einen Aufpasser zu schicken. Ihre Art, dafür zu sorgen, dass Emily die anstehende Aufgabe auch erledigte. Und sich nicht unter dem Deckmantel der Unkenntnis verkroch. So wie sie diesen Mann mit dem Dalmatiner geschickt hatte, hatte sie auch Tyler geschickt. Doch Emily verstand nicht, warum ausgerechnet ihn?
»Nein, du hast noch nicht gepackt?«, fragte Tyler, während er zusah, wie Emily hektisch auf und ab ging. »Oder nein, du kommst nicht mit?«
Emily blieb stehen. Lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Sie war kein Kind im Rollstuhl mehr, das Ärzte und Erwachsene brauchte, um zu entscheiden, was gut für es war. Sie war jetzt eine erwachsene Frau, doch offenbar hielt man sie noch immer für unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen.
Tyler redete einfach weiter, während sie ins Arbeitszimmer ihrer Großmutter schlüpfte. Er folgte ihr in den kleinen, dunklen Raum, der von einer Bücherwand und einem Mahagonischreibtisch am Fenster beherrscht wurde. Emily ging an die altmodische Schreibmaschine, die mitten auf dem Tisch stand, und tippte in regelmäßigem Rhythmus immer wieder abwechselnd zwei Tasten. Tyler kam näher, um ihr über die Schulter zu schauen.
»NONONONONONONONONONONONON …«, las er laut, und Emily drehte sich zu ihm um. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch sie hatte vergessen, was oder ob sie überhaupt etwas hatte sagen wollen.
Eine Bilderflut überschwemmte sie: Erinnerungen, die sie lieber aus ihrem Gedächtnis verbannt hätte, auch die, wie Tyler sie angesehen hatte, als sie sich nach dem Unfall zum ersten Mal wiedersahen. Mit einer Mischung aus Angst und Mitleid hatte er versucht, nicht den tiefen Schnitt quer über die eine Gesichtshälfte anzustarren oder die Metallkonstruktion, die ihren Schädel zusammenhielt, die es ihr aber auch unmöglich machte zu sprechen. Neben dem Rollstuhl, der sie gefangen hielt, während ihre Wirbelsäule heilte. Sie erinnerte sich, wie er dagestanden hatte, halb versteckt hinter seiner Mutter. Die Hände tief in den Taschen, hatte er mit einem Fuß auf dem Boden gescharrt. Dann machte er kehrt und lief ans andere Ende des Gartens, kletterte die Leiter hoch, die von einem niedrigen Ast hing, ins Baumhaus, in dem sie beide als Kinder gespielt hatten, und weigerte sich, runterzukommen, selbst als er zum Abendessen gerufen wurde.
Emily wusste, wie schwer es anderen fiel, sie anzusehen, an einen Stuhl gefesselt, das Gesicht entstellt und lädiert. Seither war es ihr jeden Tag bewusst, selbst nachdem ihr Körper geheilt war, die Narben zu einem silbrigen Rosa verblasst. Sie wusste, er sah sie noch immer so, wie sie früher war, vor dem Unfall, und ein Teil von ihr hasste ihn dafür.
»Du kannst hier nicht bleiben, Emily.« Tyler legte ihr eine Hand auf die Schulter, die sie sofort abschüttelte. »Mum hat gesagt, dass Tante Cats Anweisungen sehr konkret waren.«
»Sie wusste Bescheid?« Emily kämpfte gleichermaßen mit den Worten wie mit der Vorstellung. Obwohl es eigentlich nichts zu bedeuten hatte, dass Tylers Mutter, ihre Patentante, von den Absichten ihrer Großmutter wusste.
»Ja, natürlich.« Tyler runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf, als er sah, wie Emilys die Fäuste ballte und die Schultern hochzog. »Du etwa nicht?«
Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken, griff nach dem Briefbeschwerer in Form eines Apfels und stellte ihn wieder hin.
»Ich weiß, was du denkst.« Er fing an, sich auf dem Stuhl hin- und herzudrehen, öffnete eine Schublade, schloss sie dann wieder. »Und ja, du hast recht. Ich bin nicht aus freien Stücken hier. Betrachte es als eine Art Gefallen.«
Emily sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und verschränkte die Arme.
»Die Sache ist, ich brauche diese Reise genauso sehr wie du. Betrachten wir es als Waffenstillstand. Und helfen uns gegenseitig.«
Emily musste darüber lachen, wie ekelhaft fies er war, und wollte aus dem Zimmer gehen, spürte jedoch seine Hand auf ihrem Arm. Sie wollte sich losreißen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie spürte sein Gewicht, die Wärme, die sich von Haut zu Haut übertrug. Betrachtete die Sommersprossen auf seinen Wangen, halb versteckt unter Bartstoppeln.
»Nein.« Emily stapfte die Treppe hoch, hörte ihn hinter ihr her rufen.
»Da ist noch etwas«, sagte er.
Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen.
»Ich habe einen Brief. Von deiner Großmutter. Aber ich darf ihn dir erst im Zug geben. Der übrigens in fünfundfünfzig Minuten fährt.«
Emily schlug die Tür zu, um ihn nicht mehr zu hören, ließ sich aufs Bett sinken und starrte aus dem Fenster in den Garten.
Ein Brief. Ein weiterer Hinweis? Sie musste ihre Optionen abwägen. Konnte sie ihm den Brief klauen? Die Notwendigkeit leugnen, auch nur aus dem Haus zu gehen? Nur wusste sie nicht, wo der Brief versteckt war. Vielleicht in seinem Gitarrenkoffer? Oder seiner Tasche?
Sie drehte sich zur Seite und schaute unter das Bett, sah nichts außer einem Paar Hausschuhe, die sie nie trug, nicht einmal an den kältesten Tagen. Kein Koffer, andererseits konnte sie sich auch nicht erinnern, wann sie zuletzt einen Koffer hatte packen müssen oder ob sie überhaupt einen besaß.
Sie ging wieder auf den Flur und stieß die Tür zum Zimmer ihrer Großmutter auf, das ein Sonnenstrahl in zwei Hälften teilte. Das Bett war abgezogen, doch am Fußende lag noch eine Steppdecke. In ihren letzten Monaten hatte Catriona eine Extradecke gebraucht, obwohl die Nächte hell und warm waren. Emily hatte ihr oft vorgelesen, bis sie eingeschlafen war, die Rollen von Erwachsenem und Kind vertauscht.
Emily ging zum Bett, legte sich auf die Matratze, die in der Mitte durchgelegen war, zog die Decke über die Schultern, schloss die Augen und atmete den Lavendelduft ein, der ihrer Großmutter überallhin gefolgt war.
Sie hatte das Zimmer seit Wochen nicht betreten, nicht seit sie Schrank und Nachttisch ihrer Großmutter ausgeräumt hatte. Durchgegangen war, was sie spenden konnte und woran zu viele Erinnerungen hingen, um es wegzuwerfen, wie eine alte Puderdose mit Lippenstiftetui, eine Spieldose mit filigranem Schlüssel und ein Reisewecker, der zu jeder vollen Stunde läutete.
Andere Stücke, die Emily nie zuvor gesehen hatte, die aber aus der Vergangenheit ihrer Großmutter stammten – Stücke, von denen Catriona sich offenbar nicht hatte trennen können und die sie stattdessen all die Jahre hinten im Kleiderschrank versteckt hatte. Ein Paar handgefertigte Samtschuhe mit dünn gelaufenen Sohlen, bei denen Emily an durchtanzte Nächte in den Armen eines schönen Mannes in Uniform dachte. Ein Exemplar von Zimmer mit Aussicht mit einer zerbröselnden Rose darin, die Blütenblätter bröckelig und platt, und ein Foto in einem angelaufenen Silberrahmen von ihrer Großmutter als Baby auf dem Arm ihrer Mutter, dick eingepackt gegen den bitterkalten schottischen Winter.
Emily hatte jedes Stück sorgfältig in dünne Schichten aus Seidenpapier eingewickelt, in einen Karton gepackt und dann eine Liste der Habseligkeiten ihrer Großmutter angefertigt.
Emily drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke, beobachtete eine Spinne, die in der Ecke ihr Netz webte, direkt über dem Schrank, auf dem ein ramponierter gelber Koffer lag. Derselbe Koffer, von dem ihre Großmutter behauptete, ihn durch ganz Europa geschleppt zu haben, als Emilys Mutter selbst noch ein Baby war.
Wo mögen sie überall gewesen sein?, fragte sich Emily, denn sie konnte sich nicht an die Namen aller Orte erinnern, an die Catriona Robinson mit ihrer Mutter auf der Suche nach Inspiration und Abenteuer gereist war. Sie wusste nur, dass ihre Mutter immer gesagt hatte, sie sei viel lieber zu Hause bei ihrer Familie. Dass sie keinen Bedarf an Abenteuern habe, weil sie alles hatte, was sie brauchte.
Es gab so vieles, das man ihr nicht erzählt hatte, und Emily begriff, dass sie zu dumm gewesen war, um zu fragen. Es war, als hätte Catriona aus ihrer Vergangenheit absichtlich ein Geheimnis gemacht, weil sie gewusst hatte, dass es sich eines Tages als nützlich erweisen würde.
Ein Wirrwarr aus Rätseln, oder vielleicht war es für ihre Großmutter auch einfach zu schmerzlich gewesen, sich zu erinnern. Sie hatten seit deren Tod kaum über ihre Eltern gesprochen. Selbst jetzt noch fühlte Emily, wie sie sich verschloss, wenn sie an die Zeit vor dem Unfall dachte. Während ihrer Genesung hatte man ihr gesagt, sie solle sich auf die Gegenwart konzentrieren, einen Tag nach dem anderen angehen, und ihre Großmutter sagte immer, zurückzublicken bringe nichts als Bedauern, ein sowieso überflüssiges Gefühl.
Emily setzte sich auf und schob die Decke zur Seite. Sie kletterte auf die Kommode, streckte sich nach dem ramponierten gelben Koffer, warf ihn aufs Bett und klappte ihn auf. Es befand sich ein Porzellanpelikan darin. Die Spitze des Schnabels war abgebrochen, aber die Augen waren immer noch strahlend blau.
»Hallo«, flüsterte sie und fuhr mit dem Finger über die drei Löcher in seinem Kopf, während sie die Treppe hinunterging, den Koffer fest in der Hand.
Tyler saß am Küchentisch und scrollte durch sein Handy. Er stand auf, als sie das Zimmer betrat, sodass sein Stuhl umkippte, und der laute Rumms hallte in der Stille wider, die zwischen ihnen hing.
»Hast du es dir anders überlegt?« Er deutete auf den Koffer.
Emily schüttelte den Kopf, stellte den Koffer neben dem Kühlschrank ab, dann nahm sie einen weiteren Porzellanvogel vom Regal neben der Spüle. Dieser Pelikan hatte nur ein Loch im Kopf und dünne Wimpern um die blauen Augen. Emily stellte das Pärchen nebeneinander auf die Fensterbank, Schnabel an Schnabel, und versuchte, sich zu erinnern, woher sie stammten.
»Ringwerfen«, sagte Tyler mit einem Blick auf die Salz-und-Pfefferstreuer-Vögel, nachdem er den umgekippten Stuhl aufgehoben und seinen schmutzigen Teller in die Spüle gestellt hatte.
»Ingwerfen?«, erwiderte Emily und biss frustriert über den verlorenen Konsonanten die Zähne zusammen.
»Erinnerst du dich nicht? Der Jahrmarkt auf dem Anger?« Tyler drehte den Wasserhahn auf, drückte etwas Spülmittel in das Becken und rührte mit der Hand in dem wachsenden Schaumberg.
Wir sind jedes Jahr hingegangen, dachte Emily, während sie die winzigen Regenbogen in jeder der perfekten Bläschen betrachtete und so tat, als würde sie nicht bemerken, wie wohl Tyler sich in ihrer Gegenwart fühlte, wie mühelos er sich in ihren Tag geschoben hatte. Es war wie ein schlechter Witz, dass ihre Vergangenheit einfach so aus dem Nichts auftauchte und so tat, als hätte es die dazwischenliegenden Jahre nicht gegeben.
»Es war das Einzige, worin ich besser war als du«, sagte Tyler, während er Seifenblasen nach ihr schnipste, und sie wandte sich ab, damit er nicht sah, dass sie rot wurde. »Du konntest überhaupt nicht zielen.«
Doch Tyler hatte ihr den Gewinn trotzdem gegeben, ihr die Vögel mit einer tiefen Verbeugung überreicht, und als er sich wieder aufrichtete, lag ein breites Grinsen auf seinem Gesicht, worauf sie mit dem Fuß aufstampfte und so tat, als wäre sie wütend.
Er war jedes Jahr derselbe, der Jahrmarkt, der über Nacht aufzutauchen schien, mit Autoskooter, Zuckerwatte und reihenweise bunt beleuchteten Buden.
Die Vögel waren in der Tasche ihres Trägerkleids nach Hause transportiert worden, und jeder Schritt brachte das Porzellan zum Klirren, sodass sie immer wieder stehen blieb, um sich zu vergewissern, dass sie nicht kaputt waren. Salz- und Pfefferstreuer, die stolz auf dem Küchentisch standen und jedes Mal benutzt wurden, wenn sie und ihre Eltern zu Abend aßen. Emilys Mutter schimpfte immer mit ihrem Mann, wenn er sein Essen pfefferte, noch bevor er überhaupt probiert hatte. Er zuckte darauf nur die Schultern und zwinkerte seiner Tochter zu, dann würzte er demonstrativ nach.
Emily schlenderte ins Wohnzimmer, ließ sich auf den Sessel vor dem Kamin sinken und betrachtete den ganzen Nippes, den ihre Großmutter im Lauf der Jahre angesammelt hatte. Emily wurde jetzt bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, woher die Sachen stammten, welche Bedeutung sie hatten.
Hat sie den Pelikan absichtlich versteckt?, fragte sie sich, während sie den wiedergefundenen Füllfederhalter aus der Tasche nahm und in den Fingern drehte. Aber warum?
Bei Catriona Robinson geschah alles aus einem bestimmten Grund, besonders wenn es um ihre Schatzsuchen ging. Jeder Hinweis, jedes Sprungbrett zum nächsten Teil des Abenteuers war sorgfältig und bis ins kleinste Detail geplant, so wie die Bücher, die sie schrieb. Nichts wurde dem Zufall überlassen, und Emily begann zu begreifen, dass es bei dieser Stimme aus dem Grab, diesem Test nicht anders war.
»Bisschen warm für ein Feuer, oder?« Tyler stand in der Tür und trocknete sich die Hände am Geschirrhandtuch ab, während er die Briefstapel neben dem Feuer beäugte.
»Ich wollte …« Sie wollte sie verbrennen. Die ganzen persönlichen lieben Worte, die nicht an sie gerichtet waren.
Tyler ging zum Kamin, nahm eine Handvoll Briefe und ließ sich aufs Sofa vor dem Fenster fallen. Eigentlich hätte sie ihm die Briefe am liebsten aus der Hand gerissen, ihm gesagt, er solle die Finger von Dingen lassen, die ihm nicht gehörten, doch stattdessen beugte sie sich vor und sah zu, wie er las. Er zupfte an seinem Hemdkragen und entblößte dabei eine dünne silberne Narbe auf seinem linken Handrücken. Eine Narbe, an der sie nicht ganz unschuldig war.
Sie hatte ihn immer zu Dingen angestiftet, die er eigentlich gar nicht tun wollte. Wie über einen Zaun zu klettern, um den Garten der unheimlichen alten Frau nebenan zu erkunden, um herauszufinden, ob sie tatsächlich, wie Emily vermutete, eine Hexe war. Tyler war über eine Baumwurzel gestolpert und hatte sich die Hand an einem zerbrochenen Blumentopf geschnitten, doch er hatte sich geweigert, seinen Eltern zu sagen, wo sie gewesen waren oder wer sich das Ganze ursprünglich hatte einfallen lassen.
Hast du ihn deshalb geschickt?, dachte Emily, als er aufschaute und sie einen Schatten des Jungen sah, der er einmal gewesen war.
»Ich kann verstehen, dass du die los sein willst.« Er warf die Briefe beiseite und streckte sich auf dem Sofa aus, die Hände hinter dem Kopf, eine demonstrativ entspannte Pose. »Wie ist das so?« Er wandte ihr das Gesicht zu. »Dass jeder was von dir will, dass sich diese Leute so für dich und Tante Cat interessieren?«
Emily seufzte nur und zuckte die Schultern.
»Sie würde dich nicht ohne guten Grund dazu zwingen«, sagte er.
»Vielleicht.«
»Ehrlich, Em. Du warst nie jemand, der sich vor einer Herausforderung drückt.«
Nur dass sie damals ein anderer Mensch gewesen war, an den sich kaum noch jemand erinnerte.
»Was willst du sonst machen? Wo willst du hin, wenn das Haus verkauft wird?« Tyler zog seine Stiefel aus, und Emily lächelte, als sie sah, dass er sogar als erwachsener Mann noch zwei verschiedene Socken trug.
»Der einzige gute Rat, den mir mein Vater je gegeben hat, war: Hör nicht auf, bevor du fertig bist.«
»Ich verst…« Emilys Zunge verfing sich im »t«, und sie hievte sich aus dem Sessel hoch, ging in die Küche zurück und weiter in den Garten, wo sie in den Himmel starrte. Den Kopf im Nacken betrachtete sie die verschiedenen Blautöne, machte ein paar Schwalben aus, die ihr Abendessen jagten, und folgte ihnen mit dem Blick, bis sie sie aus den Augen verlor. Sie hörte Tyler hinter sich, spürte, wie er Luft holte und konnte sich vorstellen, dass er überlegte, ob er ihr eine Hand auf die Schulter legen sollte.
»Lass nicht diese … Suche oder wie auch immer du es nennen willst, entscheiden. Entscheide selbst, wann du fertig bist.«
Er hatte recht, doch das machte es nicht einfacher, zu verdauen, was er – was alle – von ihr verlangten.
»Ich kann nicht«, sagte sie und riskierte es, ihn anzuschauen. So lange sie denken konnte, wollte sie in Ruhe gelassen werden, damit niemand sie nach ihrer Narbe, nach ihrem Schweigen fragte. Und da kam er und kotzte ihr lauter Erinnerungen vor die Füße, daran, wie ihr Leben früher gewesen war, und obwohl sie das nervte, war sie auch dankbar, dass sie nicht allein damit fertigwerden musste.
Er musterte sie eine Weile, dann kratzte er sich am Hinterkopf, eine so vertraute Geste, dass Emily sich in das Jahr 2003 zurückversetzt fühlte.
»Ich hab Hunger«, sagte Tyler mit einem Gähnen. »Und ich bin außerdem ziemlich kaputt. Also, hier ist mein Vorschlag. Wir essen.« Er holte sein Handy hervor und scrollte über das Display. »Bestimmt können wir selbst hier draußen irgendwas bestellen. Isst du immer noch gern scharf?«
Emily nickte, während sie sich bückte, um ein vereinzeltes Unkraut unter dem Rosenbusch auszuzupfen. Es erinnerte sie an die zerdrückte Rose, die ihre Großmutter aufbewahrt hatte, und sie fragte sich, ob sie von jemand Besonderem war, und wenn ja, warum Catriona nie darüber gesprochen hatte.
»Erledigt. Sollte in einer halben Stunde hier sein.« Tyler schob die Hände in die Taschen, wippte auf den Hacken, während er zuerst Emily musterte und dann den Garten. »Wenn es für dich okay ist, bleib ich heute Nacht bei dir. Es ist zu spät, um jetzt noch in die Stadt zurückzufahren.«
Emily seufzte erleichtert, dass die Reise wenigstens fürs Erste aufgeschoben war. Das gab ihr Zeit nachzudenken, abzuwägen, was sie tun sollte.
»Ich nehme das Gästezimmer oder das Sofa, egal«, sagte Tyler. »Du weißt, ich kann praktisch überall schlafen.«
Emily nickte und dachte daran, wie Tyler nachts zusammengerollt auf dem Boden der Fähre von Frankreich geschlafen hatte. Er war der Einzige, der den Donner nicht hörte, der den Himmel zerriss, den das abscheuliche Schwanken des Schiffes nicht störte.
»Und ich verspreche, ich werde nicht versuchen, dich zu irgendeiner Entscheidung zu drängen. Ich meine, es ist dein Leben, wer bin ich, dir zu sagen, was du damit anfangen sollst?«
Emily schlenderte durch den Garten, streckte sich gelegentlich nach dem einen oder anderen Busch, um eine welke Blüte abzupflücken, und lauschte den Worten, die sich aus Tylers Mund ergossen, während er ihr folgte. Er redete immer noch auf sie ein, als sie ins Gewächshaus ging, um die Klappen zu öffnen, über das eine Mal, als sie einem Rabauken auf dem Spielplatz die Stirn geboten und ihm eins auf die Nase gegeben hatte, weil er es wagte, Tyler einen »Angsthasen« zu nennen. Sie waren unzertrennlich gewesen, die ganze Kindheit über und bis in die Pubertät hinein, Emily die Anführerin, die Draufgängerin, die Erfinderische.
Ich kenne dich doch gar nicht mehr, dachte sie, als sie einen Papierfetzen mit schwarzer Handschrift im Ast eines Apfelbaums hängen sah. Sie kannte nur den Jungen von davor.
Im Haus, in einem der Kartons, die sie so ordentlich weggepackt hatte, war auch ein altes Fotoalbum. Sie hatte es aufgeschlagen und schnell wieder zugeklappt, denn sie wusste, es endete nach ihrem dreizehnten Geburtstag, war zur Hälfte leer. Doch obwohl sein Gesicht so viele Seiten des Albums füllte, und sein Lachen, sein Bestreben zu gefallen untrennbar mit so vielen Momenten in Emilys Leben verbunden waren, gab es so viel mehr Momente ohne ihn, und das konnte sie am wenigsten verzeihen.
Später am Abend, als das Geschirr abgeräumt war und das Schlafsofa ausgeklappt, auf dem Tyler hockte und leise eine Melodie auf der Gitarre zupfte, saß Emily wieder am Küchentisch.
Ich werde mich morgen entscheiden, sagte sie sich, als sie Skizzenbuch und Stift wegräumte und versuchte, nicht an den halb fertigen Kakadu zu denken.
Sie stand auf und pfiff in die Dunkelheit, weil sie Milton sein Futter geben wollte. Als er nicht auftauchte, stellte sie einen Teller mit zerbröseltem Naan-Brot auf den Rasen und schob den Riegel vor die Tür, bevor sie die Treppe hochging und ins Bett schlüpfte. Das Fenster war offen, und Emily sah zu, wie die Wolken an einem Mond vorbeizogen, der fast ganz voll war.
Neue Anfänge. Emily erinnerte sich, was ihre Großmutter immer gesagt hatte, wenn der Mond voll und rund war. Die Chance, wieder von vorn zu beginnen, neue Vorsätze zu fassen, neu anzufangen.
Aber was, wenn sie gar keinen Neuanfang wollte?
Emily wandte sich vom Mond mit all seinen falschen Versprechungen ab und schloss die Hand um das Medaillon, das sie heute Nacht nicht ablegen mochte.
Emily hatte die halbe Nacht wach gelegen, weil sie sich nicht entscheiden konnte, was sie tun sollte, hatte alle Optionen erwogen, bis sie zu einem riesigen Knoten aus Fragen und Frust verschmolzen.
Ich kann nicht hierbleiben, dachte sie, als sie sich im Bett aufsetzte und den Blick über den Garten hinweg in die Ferne schweifen ließ, am Kirchturm vorbei bis dorthin, wo, wie sie wusste, die Wellen über den Strand schwappten. Bis zu dem Meer, das sich um den Erdball schlang und alle Landflecken miteinander verband, die ihre Großmutter einst bereist hatte.
Ich will hier nicht weg. Seufzend ging Emily ins Bad und stellte sich unter die Dusche, ließ den steten Wasserstrahl den Lärm ihrer Zweifel übertönen. Massierte langsam das Shampoo in die Kopfhaut, als wollte sie Verspannungen lösen. Machte sich nicht die Mühe, das Kondenswasser vom Spiegel zu wischen, als sie vor dem Waschbecken stand. Rubbelte sich die Haare trocken, schlurfte dann zurück in ihr Zimmer.
Ich könnte mit ihm gehen, einfach in einen Zug nach London steigen. Sie überflog ihren Schrankinhalt, griff wahllos nach irgendwelchen Kleidungsstücken und stapelte sie auf dem Bett. Ganz einfach so tun, als würde sie mitspielen, zumindest bis sie eine andere Möglichkeit fand zu verhindern, dass man sie aus ihrem Haus warf.
Sie konnte in den Zug steigen, den Brief nehmen, dann an der nächsten Station aussteigen und wieder nach Hause fahren.
Emily verdrängte den Gedanken, dass es, wenn sie die Aufgabe nicht binnen zwei Wochen löste, kein Zuhause mehr geben würde, in das sie zurückkehren könnte.
Nur, dass es sich nicht mehr anfühlte wie ihr Zuhause. Sie hatte es gleich gespürt, als sie vor vier Wochen von der Beerdigung zurückkam, und dann jeden Morgen, jeden Abend und alle Stunden dazwischen. Es fehlte das Klirren des Silberlöffels, mit dem sie Zucker in ihren Frühstückstee rührte, der Duft von gebratenem Speck und Lavendelshampoo und die gedämpfte Stimme, wenn ihre Großmutter mit ihrem Arzt telefonierte, während Emily nebenan saß und so tat, als würde sie nichts hören.
Es war ihre Abwesenheit, die am lautesten schrie.
Emily fuhr mit den Fingern über den Rahmen eines Fotos, das entstanden war, bevor alles begonnen hatte. Oder geendet, je nach Perspektive. Drei Frauen aus drei Generationen in einer Reihe. Ihre Großmutter, mitten im Satz, mit offenem Mund, mit einer Hand in den Himmel zeigend. Daneben Emilys Mutter, den Kopf lachend zurückgeworfen, einen Arm um ein kleines Mädchen im Badeanzug gelegt, bis auf ein breites Grinsen hinter einer Schwimmbrille verborgen.
Damals waren sie zu dritt, jetzt gab es nur noch sie. Was sollte sie sonst tun, als sich auf ein verrücktes Abenteuer mit einem Jungen einzulassen, den sie von früher kannte?
Klopf, klopf an der Fensterscheibe, und als Emily sich umdrehte, sah sie Milton auf dem Sims, der sie von draußen beobachtete. Sie ließ ihn herein, sah zu, wie er in den Koffer hüpfte und verscheuchte ihn.
»Du kannst nicht mitkommen.« Sie öffnete die oberste Schublade ihrer Frisierkommode, nahm den Pass, den ihre Großmutter brav verlängert hatte, als Emily achtzehn wurde, der aber nie benutzt worden war. Hatte es überhaupt einen Sinn, ihn mitzunehmen? Als sie aufblickte, sah sie, dass der Vogel sich mit dem Fuß in einer goldenen Kette verfangen hatte. Sie hob ihn vorsichtig hoch und legte sich die Kette um den Hals. Dann griff sie nach einer silbernen Bürste, zog sie eilig durchs Haar und warf sie in den Koffer. Eigentlich gehörte noch ein silberner Spiegel dazu, der irgendwo in der Schublade vergraben war.
Wie viele Jahre? Sie dachte an all die Morgen, als jemand anders ihr Haar gebürstet hatte, und dann noch einmal, bevor sie zu Bett ging. Wie schnell die Zeit einen einholt, wenn man nicht aufpasst.
Ein rotes Kleid auf einem Bügel, das mitwollte. Emilys Finger zögerten, dann griffen sie stattdessen nach einer schlichten blauen Bluse. Sie zog den Reißverschluss des Koffers zu, und als sie sich im Zimmer umsah, fiel ihr Blick auf die goldene Puderdose und den passenden Lippenstift ihrer Großmutter auf dem Nachttisch. Einen Klacks Rot auf die Lippen, einen Hauch Puder auf die Nase: Catriona Robinson war immer gepflegt, zeigte sich stets von ihrer besten Seite. Emily führte den Lippenstift zu ihrem Mund, doch ihre Hand zögerte kurz, bevor sie ihn zurücklegte.
»Nur einen Hinweis«, flüsterte sie Milton zu. »Dann bin ich wieder da.«
Der Vogel schlug mit dem Schwanz, hüpfte auf die Fensterbank und flog davon.
»Ach, was weißt du schon«, sagte Emily und knallte das Fenster zu.
Unten durchsuchte sie das Haus nach Sachen, die man auf eine Reise wer weiß wohin mitnahm. Ihr Skizzenbuch, ihren Füller. Achtundzwanzig Jahre alt, und ihr ganzes Leben passte in ein Haus. Sie hatte nie irgendwohin gemusst, hatte nie das Bedürfnis gehabt wegzugehen.
Emily stand noch in der Tür zum Arbeitszimmer ihrer Großmutter, während Tyler an der Haustür wartete und sie zur Eile antrieb. Sie fuhr mit den Fingern über das Regal mit den roten Notizbüchern, jedes mit den Anfängen einer Idee, aus der schließlich ein Buch geworden war. Doch sie sah keine Lücke, hatte keine Zeit mehr, sie alle zu zählen, um zu sehen, ob eines fehlte.
Ist das hier nur eine weitere Geschichte?, fragte Emily sich, als sie die Tür hinter sich zufallen ließ. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob sie je zurückkehren würde.