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Anthea

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Die Geschichte des Spiegels klang wie ein Märchen: Es war einmal ein Mädchen, das von einer bösen Gräfin in einen Zauber­spiegel gesperrt wurde. Fünfzehn Jahre verbrachte sie hinter dem Glas, gefangen mit den Leidensgenossinnen, die vor ihr dort eingeschlossen wurden. Der Spiegel verlangte die Lebenskraft von Mädchen und Frauen. Zum Tausch bot er ewige Jugend und ungebrochene Macht. Das war der Handel, den die Gräfin abgeschlossen hatte, und lange schien es so, als könnte ihr niemand Einhalt gebieten. Doch dann betrat eine Heldin die Bühne – die Stief­tochter der Gräfin. Sie entdeckte das gefangene Mädchen im Spiegel und gemeinsam schmiedeten sie einen Plan. Die Stieftochter überlistete den Spiegel, befreite das Mädchen und sperrte stattdessen ihre böse Stiefmutter in das Gefängnis hinter dem Zauberglas.

Hier endeten Märchen für gewöhnlich und man konnte sich ausmalen, dass die Heldinnen nun glücklich lebten bis zum Ende ihrer Tage. Leider traf das in diesem Fall nicht zu. Die Gräfin wurde zwar unschädlich gemacht, aber die Macht des Spiegels blieb ungebrochen, so wie sein Hunger. Er begann, mit der Stieftochter zu sprechen. Margarethe, so hieß sie, wehrte sich. Sieben Nächte und sieben Tage lang, vermute ich, denn so ist es meistens in Märchen. Dann hörte sie ihm zu. Von da an dauerte es nicht lange, bis der Spiegel Margarethe ganz in seiner Gewalt hatte. Er versprach ihr wunderbare Dinge, alles, was ihr Herz begehrte. Wenn sie ihm nur das eine Mädchen zurückbrächte, das ihm entkommen war.

Dieses Mädchen war Myrsina und Myrsina floh. Bei Nacht und Nebel verschwand sie aus Margarethes Burg. Sie überquerte die Alpen, traf dort auf einen verwunschenen Wolf und landete schließlich in Mailand. Von da an verließen sie die Regionen um den Apennin nicht mehr. Sie reisten durch die nördlichen Territorien von Modena, Genua und Florenz, bewegten sich weiter nach Süden und wieder zurück. Immer auf der Flucht vor den Jägern, die Margarethe ihnen auf die Fersen gehetzt hatte.

Wie passte ich in diese Geschichte? Das ist schwierig zu sagen. Myrsina trat als mutige Heldin auf, Matej war der unglückliche Held. Ihre Gegenspieler waren Margarethe, eine Horde verzauberter Jäger und ein magischer Spiegel. Wer war ich in dieser Konstellation? Eine Nebenfigur? Eine Zeugin? Oder ein Opfer der Umstände?

Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Myrsinas Geschichte mein Leben änderte. Damals lebte ich bei den Viaggiatori, einer Gauklertruppe, die die nördlichen Territorien des Apennins bereiste. Sie waren meine Familie, auch wenn keiner von ihnen mit mir verwandt war. Marietta, eine in die Jahre gekommene Schaustellerin, hatte mich nach dem Tod meiner Mutter bei sich aufgenommen. Sie lehrte mich nähen und sticken und was sonst noch an Arbeiten in einem Gauklertross anfiel. Sobald ich alt genug war, sammelte ich nach den Aufführungen Münzen vom Publikum. Ich fütterte Pepino, das Pferd, das unseren Wagen zog, und half Marietta dabei, die Kostüme der anderen Gaukler auszubessern.

Ich war sieben Jahre alt, als wir Myrsina und Matej begegneten. Die beiden schlossen sich der Truppe an, nur für ein paar Tage, bis wir die Stadt Genua erreichen würden. Das war zumindest der Plan.

Die beiden faszinierten mich. Myrsina trug bunte Kleider, Armbänder aus bemalten Holzperlen und band sich das walnussbraune Haar mit einem Tuch zurück. Sie färbte ihre Haare. Unter dem Braun war ihre Mähne so rot wie die Glut eines Feuers, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Matej war ihr treuer Begleiter und sein Anblick versetzte mir jedes Mal einen Schauder. Mit seinen goldenen Wolfsaugen sah er mich so an, als würde er genau wissen, was ich dachte. Manchmal glaubte ich sogar, eine tiefe Stimme zu hören, dumpf wie ein entferntes Echo. Erst viel später habe ich begriffen, dass ich Matej gehört habe, wenn er seine Gedanken mit Myrsina austauschte. Sie waren verbunden, diese beiden. Zusammengeknüpft wie die Fäden in einem Teppich.

Acht Tage lang teilten die beiden die Straße mit uns, dann verschwanden sie spurlos über Nacht. Kein Abschied, keine Erklärung. Ich weiß noch, wie sehr mich das verwirrte. Den ganzen Tag über trug ich die Eulenmaske, die Myrsina mir geschenkt hatte, an einem Band um den Hals. Während Marietta unseren Wagen lenkte, hielt ich von meinem Platz auf dem Kutschbock Ausschau nach Myrsina und ihrem Wolf. Stattdessen kam uns zur Mittagszeit eine Gruppe Männer in grünen Jagduniformen entgegen.

Ich hatte eine Scheu vor Soldaten, wie wohl jedes andere Vagabundenkind auch. Umso mehr überraschte es mich, dass Gian, unser Anführer, den Tross anhalten ließ. Marietta zügelte Pepino und Gian ging geradewegs auf die grün gekleideten Männer zu. Er sprach mit ihnen, fing an zu gestikulieren und wurde immer aufgeregter.

»Anthea, Kind«, sagte Marietta leise. Ich sah überrascht zu ihr hoch. Sie hatte die Stirn gerunzelt und ihre klugen dunklen Augen waren starr auf die Gruppe Männer gerichtet. »Wenn ich es dir sage, dann läufst du in den Wald und versteckst dich.« Eis sickerte mir direkt ins Herz. Jetzt fiel mir auch die Anspannung der anderen Gaukler auf. Clarice stand neben dem großen Ugolino und hielt ihren Wanderstab mit beiden Händen gepackt. Paolo wollte zu Gian gehen, aber Iacopo hielt ihn am Arm fest.

Mittlerweile war zwischen Gian und den Männern ein hand­fester Streit ausgebrochen. Einzelne Wortfetzen drangen zu uns herüber. »Es ist egal, ob sie noch hier sind! Eure Herrin hat eine Belohnung für jeden Hinweis versprochen«, rief Gian. Er war schon immer gut darin gewesen, seine Stimme wie eine Peitsche knallen zu lassen.

Marietta legte ihre Hand auf mein Knie und meine Brust zog sich zusammen. Von da an ging alles rasend schnell. Der vorderste Mann in Grün machte einen Schritt auf Gian zu und der zuckte zusammen. Clarice schrie auf und Ugolino rannte los, genauso wie Paolo. Iacopo rief seinen Namen, aber da zogen die Männer in Grün schon ihre Waffen. Gian tat etwas, was ich nie vergessen werde: Er taumelte rückwärts, blieb jedoch aufrecht stehen und breitete seine Arme aus. So, als wollte er sich schützend vor uns alle stellen. Der Pfeil, abgeschossen von einem der hinteren Jäger, traf ihn mitten in die Brust.

Ich sah noch, wie Paolo niedergeschlagen wurde, dann zerrte mich Marietta vom Kutschbock. Sie hatte Rheuma in den Füßen und der Sprung auf den Boden ließ sie beinahe zusammenbrechen. Trotzdem zerrte sie mich weiter in den Schutz des Wagens.

Schreie gellten über die Straße, während Marietta mich in Richtung des Waldes stieß. »Lauf, Mädchen, lauf«, drängte sie mich, aber ich klammerte mich an ihren Ärmel.

Einer der Jäger kam um die Ecke des Wagens, ein breiter Kerl mit hellen Augen. Marietta schob mich hinter sich und zog ihr Messer. Ich sah nicht, was passierte, spürte nur, wie Marietta zusammenzuckte und hörte sie keuchen. Dann schleuderte der Jäger sie gegen das Wagenrad und packte mich. Ich wehrte mich, als seine Finger sich in meine Arme bohrten. Ich zappelte und wand mich, wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. In meinem Kopf streckte ich mich verzweifelt nach jemandem, der mich würde hören können. Stumm und wild flehte ich um Hilfe, bis mein Blick auf Marietta fiel. Zusammengesunken saß sie auf dem Boden, mit dem Rücken an das Rad gelehnt. Sie presste beide Hände gegen ihren Bauch, aber das Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor und tränkte ihre Kleider. Der Jäger hob mich hoch und warf mich über seine Schulter, doch alles, was ich wahrnahm, war Mariettas kreideweißes Gesicht. Ich dachte, dass sie den Blick heben und mich ansehen würde, aber das tat sie nicht. Ich öffnete den Mund, aber da stülpte mir jemand einen Sack über den Kopf und alles wurde dunkel.

Ich weiß nicht mehr, wie die Jäger mich ins Castello di Prasco gebracht haben, oder wie lange ich dort war. Heute weiß ich zumindest, warum die Jäger mich entführt haben. Margarethe wartete in der Burg darauf, dass man ihr Myrsina brachte. Sie hatte eine stattliche Belohnung auf ihren Kopf ausgesetzt. Eine Belohnung, die Gian sich unter den Nagel reißen wollte. Als die Jäger seinem Ruf folgten und Myrsina nicht mehr vorfanden, war Gians Leben verspielt. Diejenigen von uns, die die Jäger nicht direkt auf der Straße abschlachteten, waren die Trostpreise, die sie der Dienerin des Spiegels mitbrachten.

Vielleicht wollte Margarethe uns befragen, uns jedes Detail über Myrsinas Reise mit uns abpressen. Und danach? Ich glaube, sie hätte die anderen getötet und mich dem Spiegel geopfert. Doch so weit kam es nie. Matej sagte mir später, dass mein stummer Hilferuf Myrsina erreicht hatte. Sie war zurückgekehrt und hatte beim Anblick der toten Viaggiatori beschlossen, Margarethe zu konfrontieren.

Vier von uns hatten den Überfall der Jäger überlebt. Iacopo, Paolo, Clarice und ich. Sie hatten uns in eine fensterlose Zelle im Keller des Castello gesperrt und dort saßen wir. schweigend. Die Schreie unserer Weggefährten hallten immer noch in unseren Ohren wider. In Wirklichkeit waren wir nicht lange dort, doch in meiner Erinnerung dehnten sich die Stunden in Gefangenschaft aus wie eine endlose Nacht. Ich saß neben Iacopo, der seinen linken Arm um mich gelegt hatte und mit seiner rechten Hand die von Paolo festhielt. Clarice kauerte etwas abseits, die Arme um beide Knie geschlungen.

Als die Jäger die Tür zu unserem Gefängnis öffneten, rückten wir instinktiv näher zusammen. Sie zerrten uns auf die Füße und stießen uns nach draußen, ohne ein einziges Wort der Erklärung. Ich weiß noch, wie ich mich an Iacopo klammerte, wie er mich festhielt, so fest, dass wir beide mehr stolperten als aufrecht gingen.

Man führte uns hinaus in den Burghof wie eine Herde Schafe auf dem Weg zum Schlachter. Sonnenlicht blendete mich und dann sah ich sie. Myrsina stand in der Mitte des Hofs, umringt von einem Kreis aus Jägern mit erhobenen Armbrüsten. Sie war allein. Eine kleine, blasse Frau, die kerzengerade in der Reichweite ihrer Häscher stand. Erst im zweiten Moment begriff ich, dass sie sich selbst ein Messer an die Kehle hielt.

Jetzt endlich sprach einer der Jäger, die uns in den Hof gescheucht hatten. »Geht«, raunzte er uns an.

Clarice stieß einen erstickten Laut aus, aber ich hatte nur Augen für Myrsina. Ihr Blick glitt zu uns herüber und für einen kurzen Augenblick wich die Spannung aus ihrem Körper. Vor Erleichterung oder vor Verzweiflung? Das habe ich mich im Nachhinein oft gefragt.

Etwas in mir loderte hoch wie ein Funke. Ich wand mich aus Iacopos Griff und wollte zu Myrsina laufen. Ich kam keine zwei Schritte weit, bevor Clarice mich am Kragen packte und weiterschleifte.

»Es ist zu spät für sie«, zischte sie. »Aber nicht für uns.«

Sie zog mich an dem Ring aus Jägern vorbei auf das offene Burgtor zu und die ganze Zeit über starrte ich zu Myrsina. Sie erwiderte meinen Blick.

Du hörst mich, oder? Ihre Frage klang hell wie ein Glöckchen in meinem Kopf.

Ich nickte stumm.

Matej. Mein Wolf. Myrsina drehte sich, um mich weiter im Blick zu behalten. Ich habe ihn in eurem Wagen eingesperrt. Lass ihn heraus. Kümmere dich um ihn. Er wird jemanden brauchen.

Ich hörte ihre Worte und gleichzeitig spürte ich all das, was hinter ihnen steckte, spürte ihre Gefühle wie einen Sturm, der durch mich hindurchtoste; Myrsinas Trauer und ihren verzweifelten Wunsch, dass wenigstens Matej gerettet werden würde. Ihre Angst und ebenso ihre bodenlose Erschöpfung. Beinahe war sie erleichtert, dass nun alles ein Ende finden würde.

Ich wollte meine Hand nach ihr ausstrecken. Stattdessen sandte ich ihr meine Zustimmung.

Ich verspreche es.

Was hätte ich anderes antworten können? Was hätte ich anderes tun können, als ihre Bitte wie ein Leuchtfeuer in meinem Herz einzuschließen? Clarice zerrte mich durch das Burgtor und ich verlor Myrsina aus den Augen.

Bis heute weiß ich nicht, ob Myrsina mein Versprechen gehört hat oder nicht.


Was danach passierte, haben wir uns mühsam zusammengereimt. Die Burgleute redeten, wie sie es immer tun. Sobald alles vorüber war, machten die Gerüchte die Runde: Eine böhmische Gräfin war eines Tages im Castello aufgetaucht und hatte den Burgherrn dazu gebracht, ihr die Burg zu überlassen. Die Gräfin war bildschön gewesen, darüber waren sich alle einig. Aber im gleichen Atemzug erzählten sie, dass man eine Gänsehaut bekommen hatte, wenn sie sich näherte. Ein gespenstisches Geflüster hatte sie wie ein Schatten begleitet. Und dann war sie so gewaltvoll ums Leben gekommen. Man musste damit rechnen, sagten die Leute, dass ihr Geist das Castello nie mehr verlassen würde.

Hier ist die Geschichte, wie ich sie mir vorstelle: Myrsina, die ihr Leben gegen unseres eingetauscht hatte, ging in die Burg, um sich Margarethe zu stellen. Niemand durfte sie begleiten, Margarethe wollte mit ihr allein sein. Die Burgleute warteten voller Anspannung, was nun geschehen würde. Viele beteten, dass die seltsame Gräfin das Castello wieder verlassen würde. Als die Nacht hereinbrach und immer noch niemand Margarethes Gemächer verlassen hatte, betrat einer der Jäger schließlich die Stube seiner Herrin. Dort fand er Margarethes Leiche mit durchgeschnittener Kehle. Über ihr ragte der Spiegel auf, unversehrt und stumm. Von Myrsina fehlte jede Spur. Die Jäger luden den Spiegel auf einen Karren und zogen mit ihm nach Norden, zurück zu Margarethes Burg. Zumindest glaubten wir, dass das ihr Ziel war.

Matej war überzeugt davon, dass Myrsina wieder in den Spiegel gesperrt worden war. Einen Beweis hatte er nicht, aber für ihn war es der einzige mögliche Grund, warum sie nicht zu ihm zurückgekehrt war. Sein unerschütterlicher Glaube daran, dass sie lebte und er sie befreien konnte, trieb ihn an, bestimmte jede seiner Handlungen von dem Moment an, als ich ihn aus dem Wagen befreite.

Seit zehn Jahren waren wir nun auf der Suche nach dem Spiegel. Manchmal fragte ich mich: Was, wenn Myrsina nicht eingesperrt war? Oder wenn sie an dem Ort hinter dem Spiegel gestorben war? Aber dann erinnerte ich mich daran, wie sie in jenem Burghof stand, wie sie sich die Messerspitze an die Kehle drückte und sich damit selbst als Geisel hielt. Ich wollte ihr helfen. Wenn es auch nur die kleinste Chance gab, sie zu retten, dann wollte ich es versuchen.

Welche Rolle ich dadurch in unserer Geschichte spielte, wusste ich allerdings immer noch nicht.

Spiegelfluch & Eulenzauber

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