Читать книгу Spiegelfluch & Eulenzauber - Kathrin Solberg - Страница 17
Lisbeth
ОглавлениеDas Gras war noch feucht vom Tau und ein silbriger Dunst hing über den Wiesen, als Lisbeth am Kopf eines Jagdtrupps auf die Wälder jenseits der Burg zuritt. Ihre Meute rannte hinter ihrem Pferd her, das ganze Rudel bis auf Fenn, der mit ihr Schritt hielt.
Lisbeth konnte sich das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen. Oh, es fühlte sich gut an, wieder im Sattel zu sitzen. Sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Sie warf einen Blick zurück über ihre Schulter und sah Jakob zwischen den anderen Jägern auf seinem Braunen reiten. Links von ihm ritt Klara, die Wangen gerötet von der Kälte. Es war wie früher. Wie zu Hause. Und Lisbeth war endlich wieder Herrin der Lage.
Sie wandte sich nach vorn, drückte ihrem Pferd die Fersen in die Seite und das Tier sprang geschmeidig über einen Bachlauf. Noch im Sprung fühlte sie sich zurückversetzt an einen Jagdtag im Winter, als sie nur mit ihren Brüdern und Jakob ausgeritten war. Eiskalt war es gewesen. Raureif hatte die Wiesen neben dem Fluss überzogen und der Atem war weiß vor ihren Lippen gehangen. Unter Lagen aus Fell, Leder und Stoff war ihre Haut warm und feucht vom Schweiß gewesen. Sie war halb in den Steigbügeln gestanden, hatte ihr Pferd im Galopp vorangetrieben. Die Hundemeute war neben ihr hergefegt wie eine Welle und sie hatte sie angespornt, war mitten unter ihnen gewesen.
Das war Freiheit, war Leben im Augenblick. Sie erinnerte sich an die Schneeflocken, die durch die Luft taumelten. An den metallischen Geruch von Blut und an die wilde, ungezügelte Lebenslust, die in jedem Wesen um sie herum pulsierte.
Später hatten sie heißen Apfelwein mit Honig getrunken, hatten zusammen gelacht und gegessen. Lisbeth hatte wieder den Geschmack des Rehbratens auf der Zunge, die samtige dunkle Soße mit einem Hauch von Wacholder und Rotwein. Sie war ganz sie selbst gewesen. Auch noch dann – vor allem dann –, als Jakob ihr einen Kranz aus Stechpalmenblättern aufgesetzt und sie Diana genannt hatte. Diana, Göttin der Jagd.
In diesem Moment kehrte der Geist dieses fünfzehnjährigen Mädchens zu ihr zurück. Das Gefühl, dass ihr die ganze Welt offenstand, durchflutete sie und es war, als hätte jemand ein Fenster aufgestoßen. Fenn schlug Alarm und Lisbeth sah den Hirsch am Waldrand, noch bevor die Jäger in ihr Horn stießen. Mit einem wilden Schrei lehnte sie sich nach vorn und trieb ihr Pferd zum Spurt an.
Lisbeth jagte über die Wiese und hinein in den Wald. Bäume flogen förmlich an ihr vorbei und ihr Herz trommelte im Einklang mit dem dumpfen Aufschlag der Hufe. Der Hirsch war längst außer Sicht, aber Lisbeth ritt weiter, überließ ihrem Pferd die Führung, bis ein Vogel aus dem Gebüsch brach und unmittelbar vor ihnen vorbeiflog. Ihr Pferd scheute und stieg auf die Hinterbeine, aber Lisbeth presste instinktiv die Füße in die Steigbügel und blieb im Sattel. Sie packte die Zügel fester, lehnte sich nach vorn und redete ihrem Pferd zu, bis es sich beruhigte. Als es wieder mit allen vieren auf dem Boden stand – bebend, aber besänftigt –, streichelte sie seinen Hals.
»Guter Junge«, lobte sie, »braver Junge.«
Ihr eigener Herzschlag beruhigte sich ebenfalls. Der Rausch, den ihr wilder Ritt ihr beschert hatte, verebbte und zurück blieb eine tiefe Zufriedenheit. Mit einem Lächeln sah sie hoch zu den eng verwobenen Baumkronen, dann blickte sie sich um. Miteinander verwachsene Buchen reihten sich um sie herum und wenige Meter vor ihr wartete eine Wand aus wild wucherndem Gebüsch. Sie musste ein gutes Stück in den Wald vorgedrungen sein. Lisbeth sah suchend über ihre Schulter, aber sie war allein, hörte nicht einmal mehr ihre Hundemeute. Das würde die Jagdgesellschaft ganz schön aus der Fassung bringen. Lisbeth lächelte breiter. Sie ritt besser zurück zu den anderen, bevor die Jäger zu murren begannen. Oder bevor Jakob den Wald abholzte, um sie zu finden.
Noch einmal tätschelte sie den Hals ihres Pferdes, doch der Hengst war abgelenkt. Seine Ohren zuckten, er schnaubte und scharrte mit dem Vorderhuf. Lisbeth wollte ihn schon zur Umkehr leiten, da hörte sie das Flüstern. Es war nicht mehr als ein Wispern. Leise, schnell gesprochene Worte, die der Wind zu ihr herübertrug. Sie runzelte die Stirn und wandte den Kopf in Richtung des Gebüschs. Es hatte so geklungen, als wäre das Geräusch von der anderen Seite gekommen. Einen Augenblick herrschte Stille, dann kehrte das Murmeln zurück und vermischte sich mit dem Rascheln der Baumkronen.
War sie doch nicht allein in diesem Wald? Lisbeth zögerte und blickte wieder zurück über ihre Schulter. Sie sollte nach ihrer Jagdgesellschaft suchen, aber etwas an diesem Flüstern zupfte an ihr wie mit unsichtbaren Händen. Sie biss sich auf die Unterlippe, dann glitt sie vom Rücken ihres Pferdes und trat auf das Gestrüpp zu. Das Flüstern kam und ging in Wellen, aber es kam eindeutig aus dieser Richtung. Fast hörte es sich so an, als würde jemand im Unterholz ein Gedicht vortragen. Jemand lachte und verstummte sofort wieder. Wer waren diese Leute?
Mit geübten Händen band Lisbeth die Zügel ihres Pferdes an einen Ast, dann bahnte sie sich einen Weg durch das Gebüsch. Äste zerrten an ihrer Kleidung, aber ihre Jacke und ihre Handschuhe schützten ihre Haut vor Kratzern. Wieder dieses Kichern, dann ein Raunen von mehreren Stimmen, die sich unterhielten. Lisbeths Haar verfing sich in einem Brombeerbusch und sie zerrte ungeduldig daran, bis sie wieder freikam. Das Barett, das sie getragen hatte, zog sie kurzerhand vom Kopf und hielt es in der Hand. Noch ein weiterer Schritt, dann ließ sie das Dickicht hinter sich und trat hinaus auf eine Lichtung.
Am linken Rand einer Wiese ragte eine Felswand empor und an allen anderen Seiten standen knorrige Eichen und Buchen. Lisbeth starrte auf das regennasse Gras. Was sie sah, war unmöglich.
Gelbes Laub bedeckte den Waldboden. Laub, das von keinem Baum gefallen sein konnte, denn über der Lichtung befand sich nichts als ein grauer Septemberhimmel. Noch viel seltsamer war jedoch, dass die Blätter eine perfekte Spirale formten.
Lisbeths Herz schlug dumpf in ihrer Brust. Sie stand direkt am Rand der Spirale. Die Spitzen ihrer Stiefel berührten den äußersten Kreis der Blätter. Ihr Atem ging in schnellen Stößen über ihre Lippen und die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, aber sie bemerkte es kaum. Je länger sie auf die Blätter starrte, umso mehr versank die Welt in einer eigenartigen Taubheit. Kein Windhauch regte sich. Keine Vögel sangen. Jemand lachte ganz in der Nähe und verstummte sofort wieder. Ohne zu wissen warum, machte Lisbeth einen Schritt nach vorn.
Elisabeth.
Ihr Name dröhnte in ihrem Ohr wie ein Glockenschlag, und als hätten sie auf dieses Signal gewartet, erhoben sich die Stimmen aus dem Boden wie ein Schwarm Insekten. Gemurmelte Wortfetzen schwirrten um sie herum, sprudelten empor und verebbten. Kurz herrschte Stille, dann hob das Flüstern erneut an. Dieses Mal war es jedoch nur eine Stimme, die direkt zu Lisbeth sprach. Endlich verstand sie die Worte. Sie hörte die Versprechungen, das sanfte Locken, so deutlich, als stünde die Sprecherin direkt neben ihrem Ohr.
Elisabeth.
Jagdgöttin Diana.
Frau unter dem Mond.
Die Namen klangen wie eine Liebkosung. Mit geschlossenen Augen lehnte sich Lisbeth in das weiche Gefühl, das die Stimme in ihr auslöste. Geborgenheit. Das war es. Sie fühlte sich sicher, abgeschirmt von all den Erwartungen, die andere an sie stellten.
Soll es immer so sein? Sehnst du dich danach? Ein Ritt durch die Nacht, Quellwasser an deinen Lippen, warme Haut unter deinen Fingern?
Es war, als weckte die Stimme alle Wünsche, die Lisbeth aufgegeben hatte. Sie spürte … alles. Alles, was sie so schmerzlich vermisste. Die Freiheit, das zu tun, was sie wollte. Zu sein, wer sie war. Losgesprochen von ihrer Zweckehe, von ihren Pflichten als Tochter.
Ein Ritt durch die Nacht … sie dachte an Tannenwipfel, die das Mondlicht versilberte, an Sterne über dunklen Gipfeln, an den Flügelschlag einer Eule. Keine Mauern. Keine argwöhnischen Blicke. Niemand, der über sie Gericht hielt.
Soll es immer so sein?
Ihr ganzes Wesen bejahte die Frage und etwas Lauerndes, Altes jubilierte im Schatten der Stimme.
Mit einem Seufzen schlug Lisbeth die Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder ganz zu sich kam. Die Stimme – alle Stimmen – war verstummt. Sie hörte wieder den Wind und das Rauschen der Bäume. Die Welt war zurückgekehrt. Oder war sie in die Welt zurückgekehrt? Sie fühlte sich ausgeruht, rundum erholt. Bis sie die Feuchtigkeit an ihrer Wange bemerkte.
Lisbeth runzelte die Stirn. Ihr Gesicht schmiegte sich an etwas Nasses, Weiches und eine Haarsträhne hing in ihre Wimpern. Sie blinzelte und begriff endlich, dass sie auf dem Boden lag. Bäuchlings, die Arme seitwärts ausgestreckt, als ob sie die Erde umarmen wollte. Ihr Puls begann zu hämmern.
Sie stemmte sich hoch und stellte fest, dass sie in der Mitte der Blätterspirale lag. Auf der Wiese. Auf der schmutzigen, regennassen Wiese! Mit einer fahrigen Bewegung rieb sie mit ihrer Hand über ihr Gesicht und pflückte ein Blatt von ihrer Wange. Was war passiert? War sie etwa ohnmächtig geworden? Ihr Mund war trocken und ihr Herz pochte jetzt so heftig, dass ihr Brustkorb schmerzte. Sie kämpfte sich auf die Füße, schüttelte den Kopf gegen einen Anflug von Schwindel und klopfte ihr Kleid ab. Der Stoff war feucht und dunkel vor Erd- und Grasflecken.
Wie lange? Wie lange hatte sie hier gelegen, auf dem Bauch, die Brust gegen die Erde gepresst? Was war nur in sie gefahren?
Lisbeth rieb sich mit dem Handrücken über die Lippen und da fielen ihr die Stimmen ein. Das Flüstern, das sie hergelockt hatte. Sie fröstelte und schlang die Arme um ihren Oberkörper. War sie wirklich einem körperlosen Gemurmel zu diesem Ort gefolgt? Das hörte sich wie ein dummer Traum an, nicht wie die Wirklichkeit. Und doch … Sie hielt still, stand starr da wie ein Reh, das einen Jäger auf der Pirsch wittert. Sie lauschte, aber da war nichts. Kein Lachen. Kein Wispern. Nur der Wind, das Rascheln der Bäume und irgendwo tiefer im Wald das Gezwitscher einer Amsel.
Einbildung, sagte sie sich. Ich habe mir das alles eingebildet.
Aber in ihrer Erinnerung regte sich etwas. Worte, Verheißungen, Versprechungen und das Gefühl, dass das Wunder der Freiheit zum Greifen nahe war. Beinahe hätte sie das Gesagte wieder heraufbeschworen, als das Bellen eines Hundes erklang. In einiger Ferne noch, aber es kam näher.
Fenn. Lisbeth erkannte ihn sofort. Ihr wurde zugleich heiß und kalt. Sie suchten nach ihr. Die Jagdgesellschaft, natürlich. So durften sie sie nicht finden, schmutzig und zerzaust, wie sie war. Wie sollte sie das erklären? Noch einmal klopfte sie ihr Kleid ab, wandte den Kopf so gut es ging, um die Rückseite ihres Kleides zu überprüfen. Das Bellen kam währenddessen immer näher. Fenn hatte ihre Spur.
Ihr Blick fiel auf die Blätterspirale. Der Abdruck ihres Körpers hatte das Muster in der Mitte zerstört aber an den Rändern war es noch immer klar erkennbar. Sie wollte nicht, dass andere die Spirale sahen. Es fühlte sich an, als dürfte sie nicht hier sein, als wäre dieser Ort verboten.
Neben ihr ragte die Felswand auf wie eine Drohung. Ein letztes Mal schüttelte Lisbeth gelbe Blätter von ihrem Kleid, dann lief sie zum Rand der Wiese. Ihr Barett lag dort auf der Erde und sie hob es auf, bevor sie sich zurück durch das Gebüsch zwängte.
Eine Dornenranke schnalzte gegen Lisbeths Wange, als sie sich durch das Geäst kämpfte, doch schließlich schaffte sie auf die andere Seite. Es gelang ihr, den Zügel ihres Pferdes in die Hand zu nehmen, dann tauchte Fenn zwischen den Bäumen auf und rannte laut kläffend auf sie zu.
»Ruhig«, drängte Lisbeth, aber der kleine Hund sprang weiter mit wild wedelndem Schwanz um sie herum. Mit zittrigen Fingern versuchte Lisbeth ihr Barett aufzusetzen, als auch schon Jakob angeritten kam. Er war allein, hatte die Jagdgesellschaft hinter sich gelassen.
Kurz bevor er sie erreichte, zügelte er sein Pferd und sprang von seinem Rücken. Ohne innezuhalten, stürmte er auf Lisbeth zu und riß sie in seine Arme. Sie versteifte sich, der Drang zur Vorsicht tief eingegraben, aber dann schlang sie ebenfalls die Arme um ihn. Er hielt sie fest, als ob er fürchtete, sie könnte sich ohne seine Berührung in Luft auflösen. Kurz darauf trat er einen Schritt zurück, aber er hielt sie immer noch an den Schultern fest. Mit seinem Blick suchte er ihr Gesicht ab, musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Geht es dir gut?«
Sie konnte nur nicken. Jakob legte die Hand an ihre Wange und strich mit dem Daumen über den Kratzer, den die Brombeerdornen auf ihrer Haut hinterlassen hatten. Die Berührung beruhigte die wild sprudelnde Panik in Lisbeths Brust, aber gleichzeitig begann ihr ganzer Körper zu zittern. Schlagartig wurde ihr bewusst, wie ungeheuerlich ihr Erlebnis auf der Lichtung gewesen war.
Sie hatte dort etwas berührt. Etwas Dunkles, Unnatürliches.
Etwas Verführerisches.
»Lisbeth.« Jakobs Stimme brachte sie zurück ins Hier und Jetzt. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, strich sanft über den Schwung ihrer Wangenknochen und küsste sie, erst auf den Mund, dann auf die Stirn. Immer noch zitternd schloss Lisbeth die Augen und lehnte sich gegen ihn. Fenn strich an ihrem Bein entlang und noch bevor Lisbeth irgendetwas sagen konnte, erklang das Bellen und Heulen der Meute. Fenn schlug Alarm und rief damit nicht nur seine Rudelgefährten zu sich, sondern auch die anderen Jäger. Lisbeth konnte ihre Rufe hören, dicht gefolgt vom Klang eines Horns.
Weit waren sie nicht mehr entfernt, aber Jakob hielt sie immer noch fest. Lisbeth erwiderte seine Umarmung, küsste die Stelle, an der sein Bart von einer kleinen Narbe durchbrochen wurde, und schob ihn dann sanft von sich.
»Jakob«, sagte sie heiser, als er sie wieder an sich ziehen wollte. »Jakob! Sie dürfen uns nicht finden. Nicht so.«
Er trat zurück, fasste sie jedoch wieder bei den Schultern. »Was ist passiert?«, wollte er wissen.
Das Trommeln von Hufen kam näher, und das Laub auf dem Waldboden raschelte unter den Pfoten der Meute. Lisbeth fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, sie strich sich die unordentlichen Strähnen zurück und setzte das Barett auf. Jakobs Gesicht blieb ein einziger Ausdruck der Sorge.
Sie wusste nicht, warum sie zu einer Lüge griff. Ihm hätte sie die Wahrheit sagen können, und doch hörte sie, wie ihre Lippen die falschen Worte formten. »Ich bin vom Pferd gefallen«, begann sie. »Ich …«
Weiter kam sie nicht, da die Meute durch das Unterholz brach und auf sie zurannte. Lisbeth sprang zurück und Jakob ließ von ihr ab, gerade rechtzeitig, bevor drei Jäger zu Pferde zwischen den Bäumen auftauchten.
Lisbeth spürte Jakobs Blick auf sich ruhen, aber sie ignorierte ihn und betete, dass er sie nicht verriet. Betete, dass sie selbst nicht preisgeben würde, wie sehr sie sich in diesem Moment fürchtete.