Читать книгу Spiegelfluch & Eulenzauber - Kathrin Solberg - Страница 5

Prolog Anthea

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Wenn ich die Augen schließe, kehre ich zurück zu der Nacht, in der der Spiegel verschwand. Vor mir liegt eine Lichtung, flach und schwarz. Der Sommer steckt noch in den Kinderschuhen, ich erinnere mich an den süßlich-bitteren Geruch der Holunderblüten. Ich erinnere mich auch an meine Angst. Fühle sie wieder wie eine Faust, die mein Herz zusammendrückt.

Ein Gebüsch verbirgt mich vor den Blicken der Jäger. Meine Knie sinken in den Waldboden und Nässe kriecht aus der Erde in meine Kleidung. Jenseits meines Versteckes leuchten zwei Fackeln.

Die Angst lähmt mich. Ich bin sieben Jahre alt, kauere im Schutz des Gestrüpps wie ein Hasenjunges und fühle mich genauso hilflos.

Ganz ruhig, sagt Matejs Stimme in meinem Kopf. Du bist sicher. Sie wissen nicht, dass wir hier sind.

Obwohl ich meinen Gefährten nicht sehen kann, weiß ich, dass er auf der anderen Seite der Lichtung im Unterholz lauert. Mit einem siebten Sinn, den ich in jenen Tagen noch nicht hinterfrage, nehme ich wahr, wie Matej mit den Schatten zwischen den Bäumen verschmilzt und sich so leise wie ein Lufthauch bewegt. Er beobachtet die Männer auf der Lichtung, genau wie ich.

Es sind sechs und sie alle tragen die gleiche Uniform: langärmelige Hemden mit engen Manschetten und darüber ein ledernes Wams. Das Licht der Fackeln färbt die Ärmel der Hemden rot, aber ich weiß, dass sie eigentlich eine grüne Farbe haben. Wir haben die Jäger lange genug verfolgt. Die Jäger und den Albtraum, den sie mit sich tragen.

Mein Blick klebt an den Männern, weil ich nicht auf die Mitte der Lichtung sehen will. Dort haben sie ihn aufgestellt, übermannshoch und mit einem Tuch verhängt: den Spiegel. Allein wenn ich an ihn denke, kriecht eine Gänsehaut meine Arme hinauf.

Am Rand der Lichtung steht ein Pferdekarren. Die Tiere sind unruhig. Vielleicht wegen des Spiegels, oder vielleicht, weil sie als Einzige Matejs Nähe spüren. Der Wolf hat diese Wirkung auf Beutetiere. Noch während ich hinsehe, springt ein weiterer Jäger von der Ladefläche des Wagens und geht auf die Mitte der Lichtung zu. Er ist jünger als die anderen, vermutlich um die sechzehn Sommer alt. In seinen Armen trägt er ein Kind. Es ist in einen Umhang gewickelt, aber seine Beine und nackten Füße baumeln über dem Arm des jungen Mannes.

Ich weiß bereits, was jetzt passieren wird. Als wir die Jäger quer durch die nördlichen Provinzen verfolgt haben, stießen wir drei Mal auf Orte, in denen kleine Mädchen verschwunden waren. Matej hatte mir erklärt, was das bedeutete.

Die Fackelträger rücken näher an den Spiegel heran, während ihr Anführer, ein Graubart mit Schatten unter den Augen, die Hand nach dem Tuch ausstreckt. Die Angst brennt jetzt wie Brennnesselgift unter meiner Haut. Ich ziehe mich tiefer ins Gebüsch zurück, mache mich noch kleiner.

Ruhig, wiederholt Matej, aber mein Herz schlägt so schnell und so hoch in meiner Brust, dass es sich anfühlt, als ob ein Schmetterling aus meiner Kehle entkommen will.

Der Anführer zieht das Tuch herunter und offenbart den kreisrunden Spiegel. Das Glas gleißt im Mondlicht; oder zumindest glaube ich das. Erst später werde ich mich daran erinnern, dass der Himmel in jener Nacht bewölkt war. Der Spiegel leuchtete von innen heraus.

Die Jäger warten, die Gesichter dem Spiegel zugewandt, die Fackeln erhoben. Einen Moment lang erstarrt die Szene auf der Lichtung, dann fährt ein Windhauch über die Fackeln und lässt die Flammen flackern. Keiner der Bäume rings um die Lichtung regt sich, tatsächlich weht nicht einmal ein leises Lüftchen. Aber wenn es keinen Windstoß gab, was habe ich dann gesehen? Den Atem des Spiegels?

Der Jäger mit dem Kind geht auf die Mitte der Lichtung zu, mit schleppenden Schritten, so als würde er schlafwandeln. Wenige Handbreit vor dem Spiegel legt er das Kind auf dem Boden ab und öffnet den Mantel. Es ist tatsächlich ein Mädchen. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber die kleine Hand, die jetzt auf dem Gras liegt, zuckt schwach. Der Anführer der Jäger zieht ein Messer mit einer glänzend schwarzen Klinge aus seinem Gürtel.

Ein Wimmern dringt über meine Lippen, aber diesmal beruhigt Matej mich nicht. Er ist selbst so gespannt wie eine Bogensehne. Gleich. Gleich wird er seine Gelegenheit bekommen.

Als der Jäger das Messer hebt, glänzt das Licht des Spiegels auf der Klinge. Mit einer raschen Bewegung zieht er die Schneide über seine Handfläche und drückt die blutende Hand gegen das Glas. Er raunt etwas, was ich nicht verstehe.

Mittlerweile kann ich den Blick nicht mehr abwenden. Ich höre ein leises Klirren und Knirschen, dann erzittert das Glas und die Hand des Jägers sinkt durch den Spiegel wie durch die Oberfläche eines Sees.

JETZT. Matejs Gedanke dröhnt in meinem Kopf wie eine Glocke. Der Weg an den Ort hinter dem Spiegel steht offen. Wenn Matej jetzt losrennt, wird es ihm dann gelingen, wovon er so lange geträumt hat? Wird er durch den Spiegel springen und auf der anderen Seite die eine Frau finden, deren Verlust er niemals verkraftet hat?

Auf den Wink ihres Anführers hin heben zwei Männer das Mädchen hoch und tragen es mit den Füßen voran auf den Spiegel zu. Das Glas schlägt Wellen, als der älteste Jäger seine Hand zurückzieht. Es wird nur wenige Augenblicke dauern, bis sich die Barriere wieder schließt.

Myrsina. Matej gräbt die Krallen in den Boden und rennt los. Ich bin jetzt aus seinen Gedanken verschwunden. Sein ganzes Wesen sehnt sich nach Myrsina, der Maskenschneiderin mit den glutroten Haaren. Seine Gefährtin. Die Frau, die der Spiegel vor einem Jahr verschlungen hat.

Mein eigener Kopf ist viel zu voll. Matejs Sehnsucht überlagert sich mit meiner Angst und der Szene, die sich immer noch auf der Lichtung abspielt. Ich spüre den weichen Waldboden unter Matejs Pfoten, während die Männer das Mädchen in den Spiegel schieben. Sein Fuß berührt das flüssige Glas. Das Geisterlicht des Spiegels gleitet über ihre Haut, dann streckt sich eine weiße, durchscheinende Hand nach ihr aus und umfasst ihren Knöchel.

Jetzt kommt der Moment. Der Moment, der mich verfolgen wird. Der Moment, in dem ich Matej verrate. Die Angst und das Entsetzen fluten meinen ganzen Körper, fegen alles andere fort, jede Vorsicht, jeden Vorsatz, leise zu sein.

Ich schreie. Und mache damit all unsere Pläne zunichte.

Spiegelfluch & Eulenzauber

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