Читать книгу Spiegelfluch & Eulenzauber - Kathrin Solberg - Страница 13

Anthea

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Die Schatulle war mit blauer Seide ausgeschlagen. Der Splitter lag auf dem Stoff wie die abgerissene Klaue eines Raubtiers. Er war so lang wie meine Hand und lief an einem Ende nadelspitz zu. Er war eindeutig aus Glas, aber seine Oberfläche gab keine Spiegelung wider. Stattdessen leuchtete der Splitter von innen heraus. Es war ein Geisterschimmer, ein blassweißes Glimmen, das nicht in diese Welt gehörte. Ich schauderte.

Neben mir grub Matej die Krallen in den Lehmboden der Hütte.

Vorsicht, warnte er. Sein Ekel vor dem Splitter wand sich wie ein Wurm in meinen Eingeweiden.

Barbagianna hielt die Schatulle mit ihren knorrigen Händen fest. »Vor vielen Jahren ging ich mit meiner Meisterin nach Venedig. Man hatte uns gerufen.« Sie blickte hinunter auf den Splitter, atmete schwer aus und erzählte weiter. »Ein Schatten hatte sich über die Stadt gelegt. Das merkte man, sobald man sich den ersten Häusern näherte. Aber das Herz des Übels fanden wir in der Cannaregio. Ich weiß es noch wie heute. Niemand sprach offen darüber, was die Stadt heimsuchte. Die Stadtoberen taten so, als wäre alles in Ordnung. Als hätten sie Angst, sie würden in den Schatten verschwinden, wenn sie zu tief in die Dunkelheit schauten. Aber die gemeinen Leute trauten sich nicht allein auf die Straßen. Sie hängten schwere Stoffe vor alle spiegelnden Oberflächen, nagelten Bretter von innen vor ihre Fenster.«

Barbagianna sah auf und ich zog ertappt die Hände zurück. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich meine Finger näher an die Schatulle bewegt hatte. So beiläufig wie möglich legte ich meine Hände in meinen Schoß und verschränkte die Finger.

»Die Familie, die uns gerufen hatte, erzählte uns die ganze Geschichte«, fuhr Barbagianna fort. »Oder zumindest den Teil, den sie kannten. Sie erzählten von einer Kaufmannsfrau, die im vorherigen Jahr zum Stadtgespräch geworden war. Innerhalb eines Frühlings wandelte sie sich von einer unbekannten jungen Witwe zur begehrtesten Frau der Stadt. Sie war Stammgast im Dogenpalast, zog in einen der Palazzi am Canal Grande und wurde mit Geschenken und Heirats­anträgen überschüttet. Sie feierte rauschende Feste und die Leute hungerten danach, sie zu sehen. Märchenhaft schön soll sie gewesen sein. So schön, dass sie alle bezauberte, die ihr begegneten.«

Meine Hände verkrampften sich ineinander. Ich ahnte, was jetzt kam.

»Ich nehme an, das erste Mädchen verschwand, kurz bevor besagte Dame sich einen Namen machte«, sagte Barbagianna. »Damals bemerkte es noch niemand. Wahrscheinlich war es eins der Kinder, die auf der Straße lebten. Eine kleine, vergessene Seele, die niemand vermissen würde.« Die Bitterkeit in Barbagiannas Stimme war unüberhörbar. »Aber als die ersten Töchter aus den reicheren Familien verschwanden, wurden die Leute unruhig.«

Ich räusperte mich. »Wie lange hat es gedauert, bis sie der Spur zurück zu der Witwe gefolgt sind?«

»Zu lange.« Barbagianna runzelte die Stirn. »Drei weitere Mädchen verschwanden, obwohl die Gerüchte bereits die Runde machten. Als man sich endlich sicher war, dass die Witwe dahintersteckte, dauerte es einen weiteren Tag und eine Nacht, bis der Doge seine Wache gegen sie ausschickte. Ein Großteil der Bewohner schloss sich ihnen auf dem Weg zu ihrem Palazzo an. Ich nehme an, zu einem Gerichtsverfahren wäre es nicht mehr gekommen. Aber als sie den Palazzo stürmten, war die Witwe verschwunden. Das Einzige, was man fand, war ein Spiegel.«

Mir wurde kalt. »Den Spiegel?«

Barbagianna nickte. »Ich vermute es. Als wir ankamen, war er allerdings schon nicht mehr in Venedig. Anscheinend hatten Verwandte der Witwe ihn fortgeschafft. Wenn das stimmt, dann wussten sie sicher nicht, was sie sich da eingehandelt hatten.«

Oder sie wussten es, und der Spiegel hatte sich bereits eine neue Dienerin ausgesucht. Matej knurrte leise.

Ich schluckte und gab seine Vermutung weiter. Ich sah zu Lelia, aber die hatte sich die ganze Zeit über nicht vom Platz gerührt. Mit verschränkten Armen stand sie hinter ihrer Großmutter und starrte argwöhnisch auf den Splitter.

»Gut möglich«, sagte Barbagianna. »Meine Meisterin hatte denselben Verdacht.«

»Die Leute haben euch zu Hilfe gerufen«, sagte ich. »Aber erst, nachdem die Witwe und ihr Spiegel fort waren?«

Wieder nickte Barbagianna. »Der Spiegel war fort«, sagte sie, »aber etwas von seiner Macht blieb zurück. Die Leute flüsterten von Geistern. Von Heimsuchungen. Familien, die Töchter verloren hatten, sahen blasse Schemen, aber nicht überall, sondern …«

»… in spiegelnden Oberflächen«, vollendete ich ihren Satz.

Barbagianna und Lelia sahen mich beide mit dem gleichen aufmerksamen Blick an. Ich sah zu Matej.

Erzähl es ihnen, sagte er. Er versuchte, weiter still zu stehen, hielt es aber nicht mehr aus. Ein paar Schritte ging er auf den Splitter zu, dann machte er kehrt.

»Myrsina sah die Geister der anderen geopferten Frauen in spiegelnden Oberflächen«, erklärte ich, während Matej durch die Hütte streifte. »In Wasserpfützen, polierten Kupferkesseln und so weiter. Immer dann, wenn Margarethes Jäger oder der Spiegel selbst in der Nähe waren.«

»Er breitet seinen Einfluss aus wie ein Netz«, sagte Barbagianna langsam. »Meine Meisterin hatte recht.«

Lelia trat vor und legte die Hand auf Barbagiannas Schulter. Die tätschelte sanft die Finger ihrer Enkelin.

»Myrsina las die Spiegelschemen als Warnung«, fügte ich hinzu und ließ den Satz als offene Frage im Raum stehen.

»Die Menschen in der Cannaregio nicht«, sagte Barbagianna. »Sie dachten, ein Fluch hätte sich über ihre Häuser gelegt. Und damit lagen sie ja auch nicht falsch.« Sie presste die Lippen aufeinander, bevor sie fortfuhr: »Ein siebzehnjähriges Mädchen sah jede Nacht ihre vermisste Schwester in der Glasscheibe ihres Schlafzimmers. In ihrer Verzweiflung versuchte sie, die Kleine zu befreien, indem sie das Glas zerschlug, und schnitt sich dabei die Hände blutig. Ihr Vater versenkte daraufhin alle übrigen Fenster seines Hauses im Kanal vor der Tür.«

Sie brach ab und griff nach Lelias Hand.

»Sie sprang hinterher«, fuhr Lelia an der Stelle ihrer Großmutter fort. »Sie wartete, bis alle schliefen, dann ging sie zum Kanal und sprang ins Wasser, um ihre Schwester aus den versunkenen Glas­scheiben zu retten. Sie ertrank.«

Eine Woge der Trauer drückte gegen mein Herz. Ich konnte mir den letzten Weg der Schwester nur zu gut vorstellen. Was noch schlimmer war: Ich spürte Matej, der dachte, er hätte an ihrer Stelle ganz genauso gehandelt. Das weckte eine Angst, die so alt war wie unsere Freundschaft. Ihm würde es nichts ausmachen, sein Leben zu verlieren. Solange er nur alles versucht hatte, um Myrsina zu retten.

»Niemand wusste, wie man die Schemen bannen konnte«, sagte Barbagianna. »Wir wussten es zunächst auch nicht, aber nach einem Monat erfolgloser Experimente und Nachforschungen gelang es uns schließlich, den Bann, der auf der Cannaregio lag, zu brechen. Dabei zersprang alles Glas, das von der Macht des Spiegels berührt worden war.« Sie tappte an die Seite der Schatulle. »Diese Scherbe stammt aus einem Fenster im Stadtpalast der Witwe. Die Runen auf der Schatulle haben ihn davor bewahrt, wie der Rest des Glases zu zerfallen.«

»Warum habt Ihr den Splitter aufbewahrt?«, fragte ich.

Die alte Frau sah mir direkt in die Augen. »Das war die Entscheidung meiner Meisterin. Sie hatte vor, die eigentliche Ursache des Fluches zu finden und ihm den Garaus zu machen.«

Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da erklang ein hohes Pfeifen aus Richtung des Kaminfeuers. Ich hätte beinahe vor Schreck aufgeschrien, aber es war nur das Wasser, das in dem gusseisernen Kessel kochte.

Barbagianna nickte Lelia zu und die ging, um den Kessel vom Feuer zu heben. Irgendwo hinter meinem Rücken lief Matej unruhig auf und ab. Ich wünschte, er hätte sich wieder neben mich gesetzt.

»Sie wollte den Spiegel zerstören«, wiederholte ich.

»In der Tat«, bestätigte Barbagianna. »Das, was wir in Venedig gesehen hatten … ich glaube, sie hätte es sich nie verziehen, wenn sie der Sache nicht weiter nachgegangen wäre. Also haben wir angefangen, Fragen zu stellen. Haben alte Bekannte meiner Meisterin aufgesucht. Aber die verstanden entweder nicht, was für eine Gefahr der Spiegel darstellte, oder sie verstanden es sehr wohl und wollten sich nicht auf ein so riskantes Unterfangen einlassen.«

»Weil sie keine Wellen schlagen wollten«, warf Lelia von der Seite ein. Sie hatte den Wasserkessel auf den Tisch am Fenster gestellt und war dabei, getrocknete Kräuter in drei irdene Becher zu füllen.

»Was man nachvollziehen kann«, erwiderte Barbagianna. »Leider. Der Spiegel scheint sich mit seinen Dienerinnen gern Frauen herauszusuchen, die bereits eine gewisse Machtposition innehaben. Wenn die es richtig anstellen, dann wird jeder, der sie bedroht, schnell zur Zielscheibe. Was für Frauen ohne Einfluss fatal sein kann. Besonders, wenn sie mit ihrer Arbeit ohnehin den Argwohn des Adels oder der Kirche riskieren.«

»Kräuterfrauen, Hebammen, Zaubervolk«, sagte ich.

Barbagianna neigte den Kopf. »Die wenigsten waren erpicht darauf, zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.«

Das überraschte mich nicht. Auf unserer eigenen Suche nach Informationen über den Spiegel begegneten man uns immer wieder mit Misstrauen. Jene Vertreter der arkanen Künste, die wir aufsuchten, hatten gelernt, unauffällig ihrem Handwerk nachzugehen. Der Schatten der Inquisition war jedoch nie weit entfernt.

»Aber Ihr und Eure Meisterin seid dem Spiegel trotzdem auf den Fersen geblieben?«, fragte ich.

Frag sie, wie. Matej strich hinter Barbagianna vorbei, seine Bernsteinaugen hell wie zwei Kerzenflammen in den Schatten der Hütte.

Schhh, mahnte ich ihn.

»O ja«, antwortete Barbagianna. »Wenn sich meine Meisterin einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte niemand sie von ihrem Vorhaben abbringen. Dickköpfig war sie. Wie ein Maultier. Sie hat herausgefunden, dass man diese Scherbe hier wie einen Kompass nutzen kann. Wenn man sie richtig anwendet, weist sie ihrer Trägerin den Weg zu dem Spiegel, von dessen Macht er berührt wurde.«

Irgendwo neben mir murmelte Lelia etwas Unverständliches, dann brachte sie zwei dampfende Becher an unseren Tisch. Der Duft von Minze und Melisse stieg mir in die Nase, als sie einen davon vor mir abstellte.

»Habt Ihr den Spiegel gefunden?«, fragte ich.

»So weit kam es nie.« Barbagianna zog ihren Becher zu sich heran. »Uns wurden zu viele Steine in den Weg gelegt und gleichzeitig wurde unsere Hilfe an so vielen anderen Stellen gebraucht, dass wir uns oft eher dafür entschieden, Menschen direkt zu helfen, anstatt einem Phantom nachzujagen.«

Lelia nahm im Schneidersitz zwischen uns Platz, hob ihren Becher und blies auf den Dampf, der daraus hervorquoll.

»Wenn ich ehrlich bin, hielt ich die Suche nach dem Spiegel immer für sinnlos«, gestand Barbagianna. »Und spätestens nachdem meine Meisterin starb …« Sie seufzte und sah wieder hinunter auf den Splitter. »Aber so ganz vergessen konnte ich ihn nie. Ich hätte die Scherbe hier vernichten können. Wenn meine Meisterin nicht so überzeugt davon gewesen wäre, dass man den Spiegel unschädlich machen muss, dann hätte ich es getan.«

Lelia setzte ihren Becher ab und warf ihrer Großmutter einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Barbagianna sah kurz zu ihr, dann wandte sie sich an mich. Matej tauchte an meiner Seite auf, blieb aber ein Stück entfernt von mir stehen. Sein ganzer Körper war angespannt wie vor einem Sprung.

»Ich gebe euch den Splitter«, sagte Barbagianna, »wenn ihr schwört, dass ihr versuchen werdet, den Spiegel zu zerstören.«

»Nonna!« Lelia starrte sie entgeistert an, aber Barbagianna berührte nur kurz ihre Hand, ohne sie dabei anzusehen.

»Wenn ihr damit Erfolg habt, gibt es einen verfluchten Gegenstand weniger in der Welt«, fuhr sie fort. »Und wenn nicht … nun, das Risiko, das ihr bei eurer Suche sterbt, nehmt ihr ohnehin in Kauf, oder?«

»Das ist doch nicht dein Ernst«, protestierte Lelia. »Du willst doch nicht wirklich …« Jetzt sah Barbagianna doch zu ihr hinüber und sie verstummte unter ihrem Blick.

Matej zögerte tatsächlich. Er wollte diese Chance, hätte sie sofort ergriffen, aber er rang mit sich. Nicht seinetwegen, meinetwegen. Er war schon wieder dabei, seine eigene Sehnsucht hinter meine Sicherheit zu stellen.

»Wie zerstört man einen Zauberspiegel?«, fragte ich.

»Ich vermute, man wird das Herz seiner Macht zerstören müssen«, sagte Barbagianna. »Wie genau man das anstellt, haben wir allerdings nie herausgefunden.«

Wir könnten es versuchen, sagte ich. Ich wünschte, ich könnte die Hand auf Matejs Schulter legen, aber er verharrte außerhalb meiner Reichweite.

Das wäre wirklich sehr riskant, antwortete er. Er war immer noch hin- und hergerissen, aber tief in ihm glühte wieder dieser hart­näckige Funken Hoffnung. Ich spürte dasselbe Feuer in mir, nur dass ich bereits wusste, was ich tun wollte. Ich wusste es, seit Barbagianna von dem Mädchen erzählt hatte, das in den Kanal gesprungen war. Ich wusste es, seit Myrsina ihr Leben für meines gegeben hatte.

Sie hat recht, sagte ich. Solange der Spiegel existiert, werden ihm immer wieder Frauen und Mädchen zum Opfer fallen. Wenn wir eine Chance bekommen, diesen Teufelskreislauf zu beenden, dann bin ich dafür, dass wir das Risiko eingehen.

Bist du dir sicher?, fragte Matej.

Ja.

Das genügte ihm. Matej sah Barbagianna direkt in die Augen. Wir sind einverstanden.

»Wir …«, begann ich, aber die alte Frau winkte ab.

»Ich habe ihn verstanden.«

Lelia sprang auf die Füße. »Das ist doch absurd!«, rief sie aus.

Irritiert drehte Matej den Kopf in ihre Richtung. Weshalb regt sie sich denn so auf?

Gute Frage, antwortete ich.

Lelia funkelte derweil ihre Großmutter mit einem wütenden Blick an. »Sag es ihnen«, forderte sie. »Sag ihnen, wie sie die Scherbe benutzen müssen!«

Da war es wieder. Dieses mulmige Gefühl in meiner Magengrube. Eben noch war ich so sicher gewesen, dass wir bei unserer Suche einen Durchbruch erzielt hatten. Aber Lelias heftige Reaktion schien eine Schockwelle auszusenden, die mir direkt unter die Haut drang.

Barbagianna jedoch blieb ruhig, als sie uns die Magie des Splitters erklärte. »Wie gesagt, die Scherbe funktioniert wie ein Kompass. Um genauer zu sein: Sie erlaubt der Trägerin, die Spuren des Spiegels zu sehen. Sie sehen wohl aus wie gläserne Adern. Der Spiegel hinterlässt sie überall dort, wo er seine Macht ausgebreitet hat. Und wenn sie sich besonders stark eingegraben haben, dann weisen sie den Weg bis zu dem Ort, an dem sich der Spiegel derzeit befindet.«

Wir können ihn wiederfinden! Matejs Kopf ruckte hoch und seine Ohren zuckten. Wir können ihn öffnen und Myrsina befreien!

Barbagianna nickte. »Ja, wenn sie noch lebt, werdet ihr eure Myrsina hinter dem Glas finden. Genauso wie das Herz des Spiegels.«

Matej schüttelte sich. Ich spürte, dass er wieder hin und her laufen wollte. Er machte schon einen Schritt zur Seite, als Lelia mit dem Fuß aufstampfte.

»Sag. Es. Ihnen.«

Wir starrten gebannt auf die alte Zauberin. Barbagianna schnalzte mit der Zunge, dann sah sie mich abschätzend an. »Um die Scherbe zu benutzen«, sagte sie, »muss man sie zu einem Teil von sich selbst machen. Dem Teil, der sieht.«


Als weder Matej noch ich reagierten, zeigte Barbagianna auf ihr Auge. Schlagartig wurde mir klar, was sie meinte.

»Die Trägerin muss sich die Scherbe ins Auge stechen«, sagte Lelia, damit wirklich keine Missverständnisse zurückblieben.

Eine kalte Faust schloss sich um mein Herz. Barbagianna hatte uns gewarnt, dass der Preis hoch sein würde. Aber damit hatte ich nicht gerechnet.

»Was … was passiert mit der Trägerin?« Die Frage kam mir schwer über die Lippen.

Lelia antwortete prompt: »Sie verliert ihr Augenlicht, was sonst.«

»Das stimmt«, sagte Barbagianna. »Allerdings nur in dem Auge, in dem der Splitter steckt.«

Lelia schnaubte. »Ja, ein gutes Auge hat sie dann noch. Ist doch ganz vernünftig.«

Ich wollte nicht hinsehen, aber mein Blick glitt wie von selbst zu dem Splitter. Seine Kanten wirkten noch schärfer, das Ende noch spitzer als vorhin. Ich schluckte, streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück. Noch vor wenigen Augenblicken war ich mir so sicher gewesen, dass wir auf Barbagiannas Handel eingehen mussten.

Matej trat vor. Ich werde die Scherbe tragen.

Lelia warf ihm einen giftigen Blick zu. »Er sagt, er will die Scherbe nehmen, oder?«

Ich schluckte noch einmal. »Ja.«

»Nobel«, erwiderte Lelia knapp, »aber unmöglich. Die Trägerin muss weiblich sein.«

Barbagianna nickte. »Lelia hat recht.«

Warum? Ärger schwang in Matejs Gedanken mit.

»Versuch, ihn zu berühren«, forderte Barbagianna ihn auf.

Matej stieß ein Schnauben aus und trat näher an den Tisch heran. Kaum senkte er seine Schnauze in Richtung des Splitters, da leuchtete die Scherbe schwächer. Irritiert zog er sich zurück und sofort glomm das Geisterlicht wieder auf.

»Wenn Männer ihn berühren wollen, schwindet seine Magie«, erklärte Barbagianna. »Ich weiß nicht warum. Aber das sind die Regeln.«

»Regeln«, wiederholte Lelia spöttisch. »Ich kann nicht fassen, dass wir diese Sache überhaupt diskutieren. Niemand rammt sich hier eine Scherbe ins Auge. Das Ganze ist doch verrückt!« Sie richtete ihren ganzen Zorn auf Matej. »Oder ist der Wolf so besessen von seiner Frau im Spiegel, dass er bereit ist, ein weiteres Mädchen zu opfern?«

Matej knurrte. Ich habe nie gesagt, dass Anthea den Splitter nehmen soll. Vor lauter Entrüstung vergaß er, dass sie ihn nicht verstehen konnte.

Ich wollte auch widersprechen, denn Lelias Vorwürfe waren wirklich nicht fair. Wenn überhaupt, dann hatte Matej in der Vergangenheit seine eigenen Wünsche zu meinen Gunsten vernachlässigt. Er hätte mich zurücklassen können, nachdem ich mich von den Gauklern losgesagt hatte, oder viele Male danach. Aber er blieb bei mir. Er kümmerte sich um mich, selbst nachdem ich unsere beste Gelegenheit, Myrsina zu befreien, vermasselt hatte. Lelia hatte keine Ahnung, wie sehr ihn Myrsinas Schicksal umtrieb, wie schlimm seine Träume waren und wie schuldig er sich fühlte – für Myrsinas Gefangennahme und auch für das Nomadenleben, das ich an seiner Seite führte. Wie oft war er sich unsicher, ob er richtig handelte? Wie oft wollte ich ihm sagen, dass ich an ihn glaubte, und fand die richtigen Worte nicht. Nicht einmal in meinen Gedanken.

Eine Erinnerung trieb an die Oberfläche meines Bewusstseins. Ich hatte wieder den Geruch des Sommerwaldes in der Nase: feuchte Erde, Holunderblüten und der metallisch süße Gestank von warmem Blut. Die Jäger hatten mich beinahe erwischt und ich hielt mir immer noch die Hände vors Gesicht, als ob ich mich so unsichtbar machen konnte. Ich zitterte am ganzen Leib, bis Matej zu mir kam und sacht mit seiner Schnauze gegen meine Finger stieß. Als ich ihn umarmte, wusste ich, dass die Jäger mir nichts mehr antun konnten.

Als ich dieses Mal die Hände ausstreckte, nahm ich die Schatulle und zog sie zu mir heran. Lelia stieß einen wütenden Laut aus und wies mit der Hand auf mich. »Und da hätten wir schon das nächste Opfer des Zauberglases. Fantastisch!«

»Ruhig, Mädchen«, sagte Barbagianna. »Hier wird niemand zu etwas gezwungen. Ich lege nur die Möglichkeiten auf den Tisch.«

Das ist keine Möglichkeit, dachte Matej grimmig. Es war alles nur ein Trick, um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wieder fletschte er die Zähne in Richtung Lelia. Wir hätten gleich umdrehen müssen, als die Alte uns überrascht hat.

Seine Drohgebärde beeindruckte Lelia nicht im Mindesten. »Du bist ein richtiger Held, was?«, ätzte sie. »Alles, was zählt, ist deine Bestimmung. Wen kümmern da ein paar Verluste auf dem Weg?«

Wenn sie so weitermacht, verliert sie bald eine Hand, sagte Matej. Sein Zorn schwoll zu einer bedrohlichen Wolke an, aber ich spürte auch, was dahintersteckte: seine bodenlose Enttäuschung. Er hatte recht gehabt. Seit jener Nacht auf der Lichtung waren wir unserem Ziel nicht mehr so nahe gekommen wie mit dieser Scherbe. Diesem Wegweiser, mit dem wir unsere Suche vielleicht endlich beenden konnten. Und jetzt sah es so aus, als würde uns diese Tür vor der Nase zugeschlagen.

Der Preis war zu hoch. Matej war überzeugt davon und es zerriss ihm das Herz. Für ihn fühlte es sich so an, als hätte er die Hand nach Myrsina ausgestreckt, nur um sich die Haut an den scharfen Kanten einer falschen Hoffnung blutig zu schneiden. Vor ihm war mir noch nie jemand begegnet, der so sehr mit dem Unglück anderer litt, der so gern helfen wollte und sich die meiste Zeit so schmerzhaft hilflos vorkam.

»Lelia, beruhig dich.« Barbagianna stand auf und hob beschwichtigend die Hände. »Wenn sie sich die Scherbe ins Auge sticht, wäre es nicht so schmerzhaft wie ein normales Blenden. Und es würde das Auge nicht zerstören. Aber ja, es würde sie erblinden lassen. Das wäre unwiderruflich.« Sie sah zu Matej. »Ich könnte euch stattdessen einen Suchzauber verkaufen. So zuverlässig wie die Scherbe wäre der allerdings nicht.«

»Oder du gibst diese ganze Wahnsinnssuche auf«, zischte Lelia in Richtung Matej. »Ganz verrückter Gedanke!«

Vorsichtig strich ich mit dem Finger über die Kante des Splitters. Das Glas war glatt und kalt. Es wäre nicht so schmerzhaft wie normales Blenden. Aber was hieß das genau?

»Aber so ein richtiger Held wie du kann natürlich nicht aufgeben«, stichelte Lelia, und Matejs Geduldsfaden riss. Mit einem lauten Knurren sprang er vor und schnappte nach ihr. Er verfehlte sie absichtlich, aber Lelia sprang trotzdem einen Schritt zurück und griff sich ein Messer von einem nahen Tisch.

»Halt!«, rief Barbagianna und stand auf, beide Arme zwischen Matej und ihrer Enkelin ausgestreckt.

Niemand achtete mehr auf mich. Gedanken wirbelten in meinem Kopf. Soll ich, soll ich nicht, soll ich …

Meine Hand zitterte, als ich den Splitter aus der Schatulle hob. Jenseits des Tisches stritten die anderen, aber ich hörte sie kaum. Ich hob das Zauberglas in die Höhe und der Feuerschein des Kaminfeuers verfing sich darin, ließ das Geisterlicht zucken und tanzen wie etwas Lebendiges.

»Genug jetzt«, schimpfte Barbagianna. »Hier werden sich jetzt alle verdammt noch mal beruhigen.« An Lelia gewandt sagte sie: »Das Mädchen hat recht, er will nicht, dass sie die Scherbe nimmt.«

»Wer’s glaubt«, erwiderte Lelia. »Diese ganze Geschichte ist doch ein einziges …«

Ich hörte das Ende ihres Satzes nicht mehr. Irgendwo in weiter Ferne sagte Matej meinen Namen.

Anthea?

Ich schloss meine Finger um die Scherbe. Mein Herz hämmerte so schnell, dass es sich fast wie ein Summen in meiner Brust anfühlte. Noch einmal roch ich den Wald, spürte Matejs Fell an meiner Wange. Sah Myrsina, wie sie im Kreis der Jäger stand, blass vor Angst, aber aufrecht und ungebrochen.

ANTHEA!

Ich holte bebend Atem, zwang die Luft durch meine zugeschnürte Kehle und stach mir den Splitter mit der Spitze voraus ins Auge.

Spiegelfluch & Eulenzauber

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