Читать книгу Spiegelfluch & Eulenzauber - Kathrin Solberg - Страница 19
Anthea
ОглавлениеLicht glitzerte vor meinen Wimpern. Erst weiße Flecken, dann das Aufblitzen eines Regenbogens. Ich runzelte die Stirn, fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und öffnete die Augen. Meine Lider waren schwer und meine Gedanken träge, noch halb versunken im Schlaf. Wo war ich? Eine Decke war bis zu meiner Hüfte heruntergerutscht und jemand hatte mir Jacke und Halstuch ausgezogen. Mühsam drehte ich den Kopf. Ich lag auf einem schmalen Bett, direkt an einer Wand. Ein kleines Fenster befand sich auf Höhe meiner Knie und dort hing die Quelle des Glitzerns: ein Amulett aus geschliffenem Kristall, das sich sacht an seinem Faden drehte. Das Licht von draußen verfing sich darin und blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen, nur um kurz darauf erschrocken in die Höhe zu fahren.
Der Splitter! Meine Hand fuhr hoch zu meinem rechten Auge. Ich hätte Schmerzen haben müssen! Halb erwartete ich, dass sie jetzt noch einsetzten, ein plötzliches Brennen, eine unerträgliche Qual, aber da war nichts. Vorsichtig tastete ich mit den Fingerspitzen über meine geschlossenen Lider. Beide Augen fühlten sich gleich an. Ich blinzelte. Meine Sicht war ungetrübt, und zwar mit beiden Augen.
Ratlos ließ ich meine Hände sinken. Ich hatte mir eine Glasscherbe ins Auge getrieben. Das hatte ich mir nicht eingebildet, oder? Bei dem Gedanken daran, wie sich die Glasspitze meinem Auge genähert hatte, zog sich mein Magen zusammen. Noch einmal tastete ich die Haut um mein rechtes Auge herum ab. Sie war weich und glatt wie immer. Da war kein getrocknetes Blut, keine Spur von dem, was ich mir angetan hatte.
Gerade wollte ich mich aufsetzen, als ich ein Rascheln neben mir hörte. Ich drehte mich um und erwartete, Matej zu sehen. Stattdessen hockte Lelia auf dem Boden und kramte in meinem Reisegepäck.
Ich runzelte die Stirn und öffnete den Mund, bekam aber keinen Ton heraus. Ich stemmte mich mit einem Arm hoch und räusperte mich.
»Heh.« Meine Stimme krächzte noch viel schlimmer als sonst.
Lelia hob kurz den Blick, dann kramte sie weiter in meinem Rucksack. »Es war Zauberglas«, sagte sie.
»Was?«
Sie machte eine Geste in Richtung meines Gesichtes. »Es verletzt dich nicht wie eine normale Scherbe. Die Konsequenzen merkst du erst später.« Bei den letzten Worten verzog sie den Mund, spähte in den Rucksack und zog die Eulenmaske daraus hervor.
Sofort war ich hellwach. Wut flammte in mir auf, als Lelia die Maske in ihren Händen wendete. Was fiel ihr ein? Die Dinge in meinem Gepäck waren privat, verdammt noch mal. »Würdest du wohl aufhören, meine Sachen zu durchwühlen?«, knirschte ich.
Lelia schien unbeeindruckt. Sie strich mit den Fingern über die sorgfältig angenähten Federn, legte die Maske dann jedoch zurück in den Rucksack.
Mir fehlten die Worte. Ihre ganze Art war so merkwürdig und irritierend, dass ich schlichtweg nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Alles, was sie tat, hinterließ bei mir einziges großes Fragezeichen, zusammen mit einer guten Portion Ärger.
Inzwischen kam Lelia zu mir herüber, ging wortlos vor meinem Bett in die Hocke und starrte mich an. Ich setzte mich auf und zog die Decke näher an mich heran. Der rechte Ärmel meines Hemdes war über meinen Ellenbogen hochgerutscht und mein Haar musste nach allen Seiten abstehen wie jeden Morgen. Wenn es denn Morgen war. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte, aber ich fühlte mich wie gerädert.
Ich wich Lelias Blick aus und sah mich stattdessen um. Wir waren in einer Kammer, wahrscheinlich irgendwo im hinteren Teil von Barbagiannas Hütte. Außer uns schien niemand in der Nähe zu sein. Ich schluckte trocken. Wo war Matej?
Bevor ich mit meinen Gedanken nach ihm tasten konnte, zeigte Lelia mit dem Finger auf mein Gesicht. »Darf ich sehen?«
Kurz dachte ich darüber nach, Nein zu sagen. Aber ich wollte selbst wissen, wie es um mein Auge bestellt war und ich hatte keinen Spiegel, den ich dafür benutzen könnte. Die Ironie daran war mir durchaus bewusst. Ich nickte.
Lelia berührte meine Wange und ich zuckte zurück. Sie presste ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, aber ihre Stimme war sanft, als sie sprach. »Ich tu dir nicht weh.«
Ich atmete aus und nickte ein zweites Mal. Als sie erneut ihre Hand an meine Wange legte, zwang ich mich, still zu halten. Sie beugte sich näher an mich heran und drehte mein Gesicht, sodass sie direkt in mein rechtes Auge sehen konnte.
Ich konnte mich nicht erinnern, wann mich zuletzt jemand berührt hatte. Auf unseren Reisen wahrte ich immer Abstand zu den Leuten, die uns begegneten. Ich wollte niemanden provozieren. Oft genügte den Menschen in den Dörfern und Städten ein Blick auf meine Kleidung und mein Auftreten, um mich als Vagabundin zu verurteilen. Manche sahen das als Aufforderung, mich wie Freiwild zu behandeln. Von denen hielt ich mich ganz besonders fern. Aber selbst diejenigen, die gutherzig genug waren, um sich mit mir zu unterhalten, mir etwas abzukaufen oder mir Arbeit zu geben, schüttelten mir nicht die Hand. Ich hatte mich daran gewöhnt, so sehr, dass Lelias Nähe mich nervös machte.
So nah, wie sie mir war, fiel mir das erste Mal die Farbe ihrer Augen auf. Sie waren braun, durchmischt mit einem goldenen Schimmer. Ein winziger Sichelmond war zwischen ihre dunklen Brauen tätowiert und eine kleine weiße Narbe durchbrach ihre Haut neben ihrem linken Augenwinkel.
Am liebsten wäre ich aufgestanden und weggegangen. Ihre Berührung war federleicht und doch ging von ihren Fingerspitzen eine Wärme aus, die sich erschreckend schnell über meine ganze Haut ausbreitete. Es war unangenehm. Ungewohnt. Und gleichzeitig streckte sich etwas Hungriges in mir nach dieser Berührung aus.
»Hm.« Das war das Einzige, was Lelia sagte. Ohne mich loszulassen, drehte sie sich um und hob mit ihrer freien Hand eine Kerze auf, die auf einem Hocker neben dem Bett stand. Als sie dagegenpustete, glomm eine Flamme am Ende des Dochtes auf. Sie hielt die brennende Kerze vor mein Gesicht. Erst vor das eine, dann das andere Auge. Erst weiter weg, dann näher heran. Als die Flamme vor meinem rechten Auge flackerte, zuckten Lelias Gesichtsmuskeln, als hätte sie etwas Unerwartetes gesehen. Trotzdem schwieg sie weiter.
Schließlich ließ sie mich los und stellte die Kerze ab. Ich wartete mit angehaltenem Atem auf ihren Befund.
»Die Scherbe ist verschwunden«, sagte sie.
Erleichterung ließ mein Kaninchenherz leicht werden, doch fast im selben Atemzug spürte ich die Enttäuschung wie einen Tritt vor die Brust. Hatte ich es nicht richtig gemacht? »Dann habe ich die Scherbe nicht …«
»Doch, hast du«, schnitt sie mir das Wort ab. »Du hast dir eine magische Glasscherbe ins Auge gestochen.« Sie neigte den Kopf zur Seite und ihre Brauen zogen sich wieder zu diesem kritischen Stirnrunzeln zusammen, das ich von gestern kannte. »Warum hast du das gemacht?«
Die Frage traf mich unvorbereitet. In Wahrheit war ich bei meiner Entscheidung einem Gefühl gefolgt, aber das wollte ich vor ihr nicht eingestehen.
Außerdem war ich ihr keine Rechenschaft schuldig. Also brach ich meine Antwort auf die einfachste Tatsache herunter. »Weil es das Richtige war.«
Lelias Gesichtsausdruck sagte deutlich, was sie von dieser Antwort hielt, und obwohl ich nicht wusste wieso, fühlte ich mich ertappt. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Was konnte man mit dem eigenen Leben Wertvolleres tun, als jemand anderem zu helfen?
Ich wandte den Blick ab und sah hinunter auf meine Hände. Die hatte ich während Lelias Untersuchung fest in meinem Schoß verschränkt. Jetzt löste ich die Finger voneinander.
»Hast du vielleicht einen Schluck Wasser für mich?«, fragte ich. Meine Kehle fühlte sich so rau an, als hätte ich versucht, Sand zu essen.
Lelia schnalzte mit der Zunge gegen die Zähne, stand auf und kam kurz darauf mit einem Becher lauwarmem Kräutertee zurück.
»Hier«, sagte sie. »Das wird dir besser helfen als Wasser.«
Sie hatte recht. Der Honig, den sie in den Tee aus Pfefferminze, Thymian und Melisse gerührt hatte, war wie Balsam für meine geschundene Kehle. Verspätet erinnerte ich mich daran, einen Gedankenfaden auf die Suche nach Matej zu schicken. Ich fand ihn nicht und er suchte offensichtlich auch nicht nach mir. Es widerstrebte mir, Lelia nach ihm zu fragen, aber seine Abwesenheit nagte an mir.
»Wo ist Matej?«, fragte ich und ärgerte mich, dass meine Stimme dabei brach.
Dieses Mal setzte sich Lelia ans Fußende meines Bettes. »Streift irgendwo draußen herum«, sagte sie knapp.
Das versetzte mir einen Stich. Warum war er nicht hier? Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Es wäre ihm sicher lieber gewesen, wenn wir uns wegen der Scherbe vorher abgesprochen hätten. Eigentlich entschieden wir nie Dinge, die uns beide betrafen, über den Kopf des anderen hinweg. Aber wenn ich gewartet hätte – wenn wir darüber diskutiert hätten –, dann hätte ich vermutlich einen Rückzieher gemacht.
Ich nahm noch einen Schluck des Gebräus, dann stellte ich die Frage, vor der ich mich fürchtete. »Du hast gesagt, die Konsequenzen kommen später. Wie werden die aussehen?«
Lelia zögerte nicht. »Du wirst Schmerzen haben«, sagte sie. »Es wird ein paar Tage dauern, bis die Magie greift und du anfängst, die Spiegelpfade zu sehen. Aber ja, ab dann wird es schmerzhaft.«
Mein Herz sank. Ich würde es aushalten können, sagte ich mir. Was immer auf mich zukam, ich würde es ertragen. Wenn es nur bedeutete, dass wir uns mit der Scherbe den entscheidenden Vorteil verschafft hatten.
Mutige Worte. Wenn ich mich nur auch dementsprechend fühlen würde. Mit beiden Händen hielt ich den warmen Becher fest. Er war wie ein Anker, der mich erdete, während sich um mich herum Angst und Ungewissheit ausbreiteten.
Ich spürte, wie Lelia mich beobachtete. Ich wartete auf eine abschätzige Bemerkung. Auf ihren Spott, auch wenn mir nicht ganz klar war, warum sie mich auslachen sollte. Stattdessen stand sie auf und sagte: »Ich werde dir ein Proviantpacket mit Medizin zusammenstellen.«
Überrascht sah ich hoch. »Was willst du dafür?«, platzte ich heraus und dachte sofort an meine geliebte Eulenmaske.
Lelia jedoch schnaubte nur, stellte mir den Krug mit dem restlichen Kräutertee neben das Bett und ging davon. Ratlos starrte ich ihr nach. Was in ihrem Kopf vorging, war mir wirklich ein Rätsel.
Lelia war fort und ich kniete über meinem Rucksack. Ich hatte sicherstellen wollen, dass alles so verstaut war, wie ich es wollte. Stattdessen hielt ich die Eulenmaske in den Händen. In den letzten Jahren hatte sich die eine oder andere Feder von ihrem ledernen Untergrund gelöst, aber ich hatte sie jedes Mal sorgfältig wieder festgenäht. Wie sehr hatte ich diese Maske als Kind geliebt. Sie war mein größter Schatz, von dem Moment an, als Myrsina sie mir auf jenem überfüllten Marktplatz entgegenhielt. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mich in einen Vogel verwandelte, sobald ich sie aufsetzte. Hatte mich nachts auf den Kutschbock unseres Wagens gesetzt und mir eingebildet, dass ich in der Dunkelheit die Mäuse zwischen dem Gras hin und her huschen sah.
Die Maske war wunderbar gearbeitet, doch das allein machte sie nicht so kostbar für mich. Ihr Zauber lag in der Selbstverständlichkeit, mit der Myrsina mir dieses Geschenk gemacht hatte.
Das Leben unter Gauklern war schön, aber schwierig. Die Viaggiatori blieben nie lange an einem Ort, mussten immer nach neuen Spielorten suchen und proben, proben, proben. Für ein Kind blieb in dieser Betriebsamkeit wenig Zeit und noch weniger Aufmerksamkeit. Insbesondere für ein stummes Kind, in dessen Nähe sich viele unbehaglich fühlten. Marietta kümmerte sich um mich, aber bei der ganzen Arbeit, die sich bei ihr stapelte, blieb nicht viel Zeit für Spiele oder Albernheiten. Und Spielzeug? Ich hatte ein kleines hölzernes Pferd und eine Lumpenpuppe, und damit musste ich auskommen. Unser Geld brauchten wir für Essen, Kleidung, für die Instandhaltung unseres Wagens und der Requisiten. Die meiste Zeit war ich zufrieden, aber manchmal, wenn ich über einen Markt schlenderte, sah ich Eischneekringel an bunten Bändern baumeln oder einen Marionettenkasper mit einem Filzhütchen und wünschte mir, ich wäre eins der Kinder, die mit solch wunderbaren Dingen beschenkt wurden.
Deshalb überraschte mit Myrsinas Großzügigkeit. Sie hatte ihre Masken auf eben einem solchen Markt verkauft, hatte meinen sehnsüchtigen Blick bemerkt und wollte mir eine Freude machen. Sie hielt mir die Eulenmaske entgegen und mein Herz wurde ganz leicht vor Freude. Ich erinnerte mich an Myrsinas Lächeln, an ihre warmen braunen Augen und die kleinen Fältchen in ihren Augenwinkeln. Sie hatte eine Ausstrahlung, die mich endlos faszinierte. Und irgendwie schaffte sie es, dass Menschen sich wohlfühlten, allein aufgrund ihrer Gegenwart.
Einige Tage nach dem Markt, als Myrsina sich den Viaggiatori angeschlossen hatte, wuschen sie und Paolo Kleider in einem Fluss. Matej sah vom Ufer aus zu und ich beobachtete sie alle aus einiger Entfernung. Ich traute mich nicht, zu ihnen zu gehen. Clarice und die anderen schickten mich oft weg, wenn sie arbeiteten, weil sie keine Ablenkung gebrauchen konnten. Myrsina jedoch bemerkte mich und winkte mich heran. Sie ließ mich helfen und zeigte mir, wie man die eingeweichten Kleider zu zweit auswringen konnte. Matej stand neben uns und ich hörte ganz schwach, wie er Myrsina Ratschläge gab, bis sie ihm irgendwann ein paar Wassertropfen auf die Schnauze spritzte. Von da an artete das Ganze in eine wilde Wasserschlacht aus, in der wir alle vier im Fluss plantschten und uns gegenseitig nass spritzten. Paolo nahm mich auf die Schultern und ich leerte einen ganzen Wassereimer über Myrsinas Kopf aus und sie rächte sich, indem sie ein nasses Hemd wie eine Schleuder über dem Kopf wirbelte. Ich klammerte mich mit den Beinen an Paolos Schultern fest und strahlte über das ganze Gesicht.
Später saßen wir in trockenen Unterkleidern und mit nassen Haaren vor dem Wagen auf der Wiese. Paolo lag auf dem Gras, während Iacopo neben ihm Laute spielte. Marietta nähte eine Borte an einem Kleidsaum fest und der große Ugolino verteilte Brot und Käse. Irgendwann kam Clarice dazu und sang mit Paolo in Begleitung zu Iacopos Melodie. Ich hatte die Gaukler schon lange nicht mehr so entspannt gesehen.
Matej lag neben Myrsina und sie kraulte seinen Bauch. Dieses Mal nahm ich meinen Mut von selbst zusammen und setzte mich ohne Aufforderung zu ihnen. Sie lächelte mich an und erlaubte mir, Matejs Fells zu streicheln.
In jenem Moment fühlte ich mich vollkommen glücklich. Ich spürte, dass wir zusammengehörten – dass ich dazugehörte. Wir waren zu Hause und ich glaube, wir fühlten es alle. Unser Teppich war das süße Sommergras, unser Dach der dämmernde Himmel, an dem Dutzende Schwalben kreisten.
Ich hatte schon lange nicht mehr an diesen Tag gedacht. Mittlerweile hatte sich so viel verändert, dass ich fast daran zweifelte, ob ich ihn wirklich erlebt hatte. Der Moment – und das Zugehörigkeitsgefühl, das ich dabei empfunden hatte – war mir aus den Händen geglitten. War davongetrieben wie ein Spielzeugboot, das ein Fluss mit sich riss. In dunklen Stunden fragte ich mich, ob ich diese ganze lange Suche nach Myrsina nur auf mich nahm, weil ich mich wieder so fühlen wollte wie damals. Ich hoffte inständig, dass ich nicht so egoistisch war.
Ich strich mit den Fingern über die Federn der Maske, dann verstaute ich sie sorgfältig in meinem Rucksack.
Barbagianna verabschiedete sich von mir vor ihrer Hütte. Auf ihren Stab gestützt sah sie zu, wie ich mein Reisebündel festschnürte. Lelia hatte ich seit dem Morgen nicht mehr gesehen und auch von Matej fehlte jede Spur. Wenn ich nach ihm hinausspürte, empfing ich nur ein vages Bild von einem Bachlauf.
Ich kniete auf dem Boden und befestigte das Bündel aus meinem zusammengefalteten Mantel und einer Wolldecke an meinem Rucksack. Die Riemen, die ich dafür benutzte, verschnürte ich mit den Knoten, die Marietta mir einst beigebracht hatte. Die Art, wie ich die Schlaufen doppelt legte und von links nach rechts durchzog, sollte nicht nur lange halten, sondern auch den Träger des Bündels auf der Straße vor Schaden bewahren.
»Dein Wolf lässt sich Zeit«, bemerkte Barbagianna.
»Er wird sicher bald hier sein«, sagte ich, obwohl ich mir da selbst keineswegs sicher war. Ich stand auf und lud mir den Rucksack auf den Rücken.
Barbagianna sah zu mir hoch. »Zeig mir noch mal dein Auge.«
Im Stehen reichte sie mir gerade bis ans Kinn und von diesem Winkel aus konnte ich die Federn noch besser sehen, die sie sich in das weißgraue Haar geflochten hatte. Ich beugte mich zu ihr hinunter und sie betastete die Haut um mein rechtes Auge herum. Ich hatte immer noch keine Schmerzen und auch meine Sicht blieb ungetrübt. Es schien, als hätte der Splitter keinen Schaden angerichtet. Tatsächlich fühlte ich mich kein Stück anders als sonst. Kein neuer Instinkt, keine magische Sehkraft. Ich versuchte, mir deshalb keine Sorgen zu machen. Es brauchte Zeit, das hatte Lelia gesagt. Und Barbagianna hatte es bestätigt.
»Tief«, murmelte die alte Frau, dann fügte sie deutlicher hinzu: »Der Splitter ist sehr tief eingedrungen. Schwer zu sagen, ob er schon aufgewacht ist.«
Nicht zum ersten Mal sprach sie von dem Glassplitter, als wäre er lebendig. Darüber wollte ich lieber nicht so genau nachdenken, aber natürlich wäre es vernünftiger, Fragen zu stellen, solange ich die Gelegenheit dazu hatte. Ich nahm meinen Mut zusammen und brachte es dann doch nicht über mich, nachzuhaken. Der Splitter war in mir. Daran konnte ich nun ohnehin nichts mehr ändern.
Barbagianna war immer noch dabei, mein Auge zu untersuchen, als Matej um die Ecke des Hauses trabte. Instinktiv drehte ich mich in seine Richtung. Ich sandte ihm eine Begrüßung, aber weder antwortete er mir noch suchte er Augenkontakt. Seine Stille zog sich wie eine Hand um meinen Magen zusammen.
Barbagianna trat indessen einen Schritt zurück und legte eine Hand auf der Wölbung ihres Bauches ab. »Wo werdet ihr mit der Suche anfangen?«, wollte sie wissen.
Die Antwort kam von Matej. Wir gehen zu dem Ort, an dem wir den Spiegel das letzte Mal gesehen haben.
Mir wurde kalt. Die Lichtung am Fuß des Bergpasses. Sofort hatte ich wieder den Geruch der Holunderblüten in der Nase.
Matej, sandte ich aus, aber er reagierte nicht.
»Vernünftig«, sagte Barbagianna. »Hier.« Sie gab mir eine Ledertasche mit einem breiten Riemen. »Kräuter für einen tiefen Schlaf. Schmerzmittel. Und noch ein paar andere Helferchen.«
Verdutzt nahm ich die Tasche entgegen. »Woher weiß ich, wie ich die Kräuter verwenden soll?«
Die Barbagianna stieß ein brummiges Lachen aus. »Wirst du schon herausfinden.«
Ich runzelte die Stirn und wog die Tasche in meiner Hand. Sie war schwer. Lelia hatte gesagt, dass sie ein paar Heilkräuter für uns zusammenstellen würde, aber das hier war weit mehr, als ich erwartet hatte. Weit mehr, als wir ausgehandelt hatten. Ich warf einen verstohlenen Blick auf den Eingang der Hütte, aber von Lelia fehlte jede Spur.
Als mich von der Hütte abwandte, bemerkte ich, dass Barbagianna mich nachdenklich musterte. Als würde sie in meinem Gesicht nach etwas suchen oder darauf warten, dass ich ihr irgendetwas Wichtiges sagte. Bereute sie, uns mit der Zerstörung des Spiegels beauftragt zu haben? Dachte sie vielleicht, dass sie den Splitter an mich verschwendet hatte? Immerhin hatte ich ihn ohne ihre direkte Zustimmung genommen. Sie hatte mich dafür zwar nicht getadelt, aber sie hatte mir auch nicht gesagt, dass es eine gute Entscheidung gewesen war. Nervös schob ich mir eine Haarlocke hinters Ohr. Mein Zopf fing schon wieder an, sich aufzulösen.
»Nun gut«, sagte die Barbagianna schließlich. »Wir haben die Karten verteilt, jetzt spielen wir mit dem Blatt, das wir haben.« Ihr Mund verzog sich zu einem schrägen Lächeln. »Kopf hoch, Mädchen«, sagte sie. »Glaubst du an das Sprichwort: ›Das Glück ist mit den Tapferen‹?«
Ich schlang mir den Beutel, den sie mir gegeben hatte, über den Kopf und quer über die Brust. »Sollte ich?«
Sie lachte und tätschelte mir den Arm. »Es kann nicht schaden!« Dann, zu Matej gewandt: »Dein Weg, deine Entscheidung.«
Matej senkte zu ihrer kryptischen Bemerkung kurz den Kopf, dann machte er auf dem Absatz kehrt. Gehen wir, sagte er, und damit ließen wir die alte Zauberin und ihre Hütte im Wald hinter uns.