Читать книгу Cassandras Bestimmung - Katica Fischer - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDie Geschichten, die sie in den vergangenen Tagen von ihrem Vater gehört hatte, kreisten immer noch durch Yzas Kopf. Von fantastischen Wesen, Unsterblichen, Magiern und Hexen wurde ihr erzählt, die im Kampf zwischen Gut und Böse viele Abenteuer erlebten. Auch von Indianern und ihrer Kultur wurde geredet. Dabei hatte es sich fast immer um Menschen gehandelt, die außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, und die allesamt ein aufregendes und abwechslungsreiches Schicksal erleben durften. Vor allem die Charaktere von Eric Harper, der den indianischen Namen Adlerherz erhalten hatte, und die seiner Familie waren ihr förmlich ans Herz gewachsen, denn ihre Geschichte war tatsächlich so fesselnd gewesen, dass sie es kaum erwarten konnte, mehr zu hören.
„Was ist aus Erics Schwester Corinne geworden? Durfte sie ein glückliches Leben mit Lachender-Bieber verbringen?“, fragte Yza. „Und sein Sohn Arthur? Wie ist es ihm ergangen?“
Bryan war müde, denn er hatte bereits einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Dennoch dachte er nicht daran, seiner todkranken Tochter zu sagen, dass er eine Pause benötigte. Sarah, seine Frau, war nicht weniger erschöpft als er. Sie schlief bestimmt schon, um für den kommenden Tag fit zu sein. Er hingegen wollte noch eine Weile bei seiner Jüngsten sitzen, denn viel gemeinsame Zeit blieb ihnen vermutlich nicht mehr. Die Geschichten, die er ihr seit nunmehr vier Wochen erzählte, sollten sie ablenken. Ja, er wünschte sich von Herzen, dass sie für eine Weile vergessen sollte, dass sie mittlerweile ans Bett gefesselt war und nur auf seinen oder auf den Armen ihres großen Bruders Leonard in den Wohnraum hinunterkommen konnte.
Woher die Worte kamen, die aus ihm herausströmten, sobald er sich bequem zurückgelehnt hatte, wusste Bryan nicht. Genauso wenig konnte er verstehen, wieso er das Gefühl hatte, dass nicht alles erfunden war, was er hervorbrachte. Allerdings dachte er nicht weiter darüber nach, denn es spielte keine Rolle. Wichtig war allein, dass Yza die Schmerzen und das unerbittlich nahende Ende für eine Weile ausblenden konnte.
„Corinne ging es gut, denn sie verstand es, ihre Liebe für einen Indianer geheim zu halten und den Mann ihres Herzens dadurch zu schützen“, begann er zu erzählen. „Sie hat den Gemischtwarenladen ein paar Jahre nach Erics Tod verkauft, den sie in seinem Auftrag geführt hat. Danach hat sie sich auf ihre kleine Farm zurückgezogen. Na ja, nicht für lange. Ihre Hühner und ihr Gemüsegarten waren keine wirkliche Herausforderung für eine Frau, die es gewohnt war, wie ein Mann zu schuften. Darum hat sie mit Lachender-Bieber und ein paar anderen Indianern eine Tischlerei aufgebaut, die sich relativ schnell zu einer kleinen Möbelmanufaktur entwickelte. Und Erics Tochter Carolyn sorgte mit ihrem Ehemann Schwarzer-Stein dafür, dass die Sachen gut zahlende Abnehmer fanden, was ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft für eine Weile zu einem relativ komfortablen Leben verhalf. Arthur hingegen brauchte lange, um sein Glück zu finden.“
„Ist er wieder nach Hause gekommen?“, wollte Yza wissen.
„Nein“, gab Bryan zur Antwort. „Dass seine Eltern kurz hintereinander verstorben waren, erfuhr er erst ein Jahr nach dem Unglück, denn er ist praktisch von einem Schiff aufs nächste gegangen, um unter wechselnden Kapitänen die Erde zu umsegeln. Aus diesem Grund hat ihn der Brief seiner Schwester nicht rechtzeitig erreicht. Aber selbst wenn er ihn beizeiten bekommen hätte, wäre er nicht zur Beisetzung erschienen. Es zog ihn nämlich nichts an den Ort zurück, an dem er aufgewachsen war. Er hat sich auch in der Folgezeit nicht dazu überwinden können, wieder dorthin zu gehen, wo einst seine erste große Liebe begraben wurde. Selbst seinen Sohn Joseph hat er nicht sehen wollen, weil er keinerlei Bindung zu seinem Erstgeborenen verspürte. Aber er hat seinen späteren Nachkommen von den Indianern und dem Land erzählt, das er voller Kummer und Schmerz verlassen hatte.“
„Er hat also noch mal geheiratet?“ Yza war sichtlich gespannt.
„Ja, er hat noch einmal geheiratet“, bestätigte Bryan lächelnd. „Aber erst im reifen Alter und nur, weil er seiner Haushälterin und einzig echten Freundin eine sichere Zukunft bieten wollte. Er hatte nämlich im Laufe seines Lebens ein ansehnliches Vermögen durch verschiedene Geschäfte erworben, und dachte, dass das Zusammenleben auch nach der formellen Eheschließung so verlaufen würde, wie gewohnt. Doch Deborah liebte ihn schon lange und ließ sich darum auch nicht davon abhalten, ihn zu ihrem richtigen Ehemann zu machen. Nun, das Ergebnis ihrer Beharrlichkeit war ein Sohn, der trotz der vierunddreißig Lebensjahre seiner Mutter vollkommen problemlos und gesund zur Welt kam. James blieb ein Einzelkind. Er heiratete mit zweiundzwanzig und zeugte dann selbst acht gesunde Söhne.“
„Wow! Stolze Leistung.“ Yza hatte Mühe, eine bequeme und vor allem schmerzfreie Liegeposition zu finden. Das ließ sie jedoch nicht erkennen, denn sie wollte nicht riskieren, dass ihr Vater seine Erzählung abbrach. „Was ist aus ihnen geworden?“
„Du willst es aber ganz genau wissen, was?“ Bryan lachte. „Nun, sie wurden auf teure Privatschulen und später dann auf renommierte Universitäten geschickt, damit sie die bestmögliche Ausbildung bekamen. Danach haben sie das Vermächtnis ihres Großvaters so clever verwaltet, dass alle davon leben konnten.“
„Wie langweilig“, schnaubte Yza. „Da ist die Geschichte von Arthurs Erstgeborenem bestimmt interessanter. Oder?“
„Kann man so sehen, ja.“ Bryan brauchte einen Moment, um das bereits zurechtgelegte Grundgerüst seiner Geschichte neu zu ordnen. „Joseph galt bei den Weißen aufgrund seiner seherischen Gabe als geisteskrank und wurde daher von den vermeintlich zivilisierten Menschen gemieden, so als hätte er eine ansteckende Krankheit. Allein Grace, ein von Geburt an gehbehindertes Mädchen, ließ sich nicht abschrecken und begann eine Freundschaft mit ihm, die über die Schulzeit hinaus Bestand hatte. Später haben sie dann geheiratet und vier Söhne bekommen. Leider fielen die drei älteren in verschiedenen Kriegen Anfang des vorigen Jahrhunderts. Tyron, der jüngste, war der Einzige, der nicht zum Militär musste, weil ja schon drei seiner Brüder für Ehre und Vaterland ihr Leben gelassen hatten. Allerdings wurde ihm die Verantwortung für die Harper-Ranch und die darauf lebenden Menschen aufgeladen, was seine eigene Lebensplanung völlig auf den Kopf stellte. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Damian seine Aufgaben, konnte jedoch auch nicht besser wirtschaften, weil man ihm nicht nur in Oaktown dauernd Steine in den Weg legte. Er galt als reiner Indianer, obwohl er nur noch ein Achtel Indianerblut in ich trug. Entsprechend respektlos und unfair wurde er behandelt. Als er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem Orden und einer zusätzlichen Belobigung durch seinen General zurückkam, wurde es vorübergehend besser. Doch das hielt nicht lange an, denn er schnappte sich die hübscheste Frau, die in Oaktown herumlief, und nahm sie mit auf die Ranch. Sein Sohn Robert tat es ihm später nach. Kein Wunder also, dass die Harper-Männer in der Stadt nicht gern gesehen waren.“
„Blöde Rassisten!“ Yzas Wangen leuchteten knallrot, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie sich ärgerte. „Als ob Hautfarbe oder Herkunft wirklich so wichtig wären!“
„Die Menschen sind nicht so geboren, das weißt du“, versuchte Bryan zu beschwichtigen. „Sie werden vielmehr so gemacht. Kinder lernen von ihren Eltern. Und schwache Charaktere lassen sich nur zu gern von wortgewandten Anführern beeinflussen, weil sie sich in der Gesellschaft vermeintlich starker Persönlichkeiten sicherer fühlen.“
„Trotzdem blöde Rassisten“, schimpfte Yza. „Wenn ich könnte, würde ich ihnen allen mal ordentlich was über die Rübe ziehen, damit sie sehen, dass Blut bei allen Menschen die gleiche Farbe hat!“
„Du kannst ja richtig garstig sein.“ Bryan grinste breit. „Nun, ich denke, dass jeder am Ende genau die Retourkutsche oder Strafe bekommt, die er verdient.“
Yza schwieg ein Weilchen, wobei sie sich auch wieder beruhigte. Doch dann sah sie ihren Vater erwartungsvoll an.
„Wie geht es mit den Harpers weiter?“, wollte sie wissen. „Und vergiss nicht die Yden. Deren Geschichte ist doch noch nicht zu Ende. Oder?“
„Nein, das ist sie nicht“, bestätigte er. „Aber die muss ich dir nicht separat erzählen, denn ihr Schicksal ist seit der unumkehrbaren Verschmelzung von Arvyd und Eric Harper im Grunde das Gleiche, wie das der Menschen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass auch alle anderen Verbindungen zwischen den Menschen und den Unsterblichen dauerhaft waren. Selbst nach dem Tod ihrer menschlichen Träger blieben die Lebensfunken der Yden mit den Seelen ihrer Symbionten untrennbar verbunden und wurden durch jede neue Verschmelzung mehr oder weniger verändert. Allein die Erinnerung an die vergangenen Existenzen ging bei einigen ganz verloren, während andere ihren angesammelten Erfahrungsschatz nutzen konnten, um ihren neuen Symbionten das Leben zu erleichtern.“
„Hm.“ Die Kranke überlegte kurz und grinste dann breit. „Jetzt weiß ich endlich, warum es Genies und Idioten auf dieser Welt gibt.“
„Was?“ Bryan war ein wenig irritiert, weil er den Gedankengängen seiner Tochter nicht gleich folgen konnte.
„Na, die Superhirne auf diesem Planeten.“ Yza lachte. „Endlich habe ich eine Erklärung dafür, wieso die fähig sind, Dinge zu erfinden oder zu entwickeln, die jedem Normalsterblichen wie Wunder vorkommen.“ Sie hatte mittlerweile eine akzeptable Liegeposition gefunden und entspannte sich. „Ihr Talent, oder besser gesagt, ihr Wissen, stammt ganz sicher von ihren außerirdischen Bewusstseinsanteilen. Auf jeden Fall klingt das für mich glaubwürdiger als die These, dass sich ein primitives Affenhirn im Laufe der Evolution zu einem Hochleistungscomputer gemausert hat, dass Raketen für den Flug in den Weltraum entwickeln und Roboter bauen kann, die kaum noch von einem Menschen zu unterscheiden sind. Ganz zu schweigen von den Leuten, die Gedanken lesen oder kommende Ereignisse voraussagen können.“
Bryan überdachte die Aussage seiner Tochter, während er einen großen Schluck aus seiner Teetasse nahm. Ganz falsch lag sie damit vermutlich nicht, musste er sich eingestehen. Allerdings konnte ihre Theorie weder erforscht noch bewiesen werden, denn dafür hätte es Personen geben müssen, die an ihre eigene Reinkarnation glaubten und die sich für Tests zur Verfügung stellten. Doch das würde niemand freiwillig auf sich nehmen, selbst wenn er tatsächlich zu den Wiederkehrern gehörte. Eine Laborratte zu sein, der man diverse, möglicherweise schmerzhafte Experimente zumutete, war selbst unter bestmöglichen Bedingungen garantiert keine angenehme Sache.
„Dad?“ Yza stupste ihren Vater sanft an. „Schläfst du?“
„Nein, Liebes“, erwiderte er, indem er seine Tasse beiseitestellte. „Ich war nur mit den Gedanken abgeschweift. Aber jetzt geht es weiter.“