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Drei Monate brauchte es, um alle Formalitäten zu erledigen. Doch dann hielt Elisabeth endlich das Dokument in Händen, welches sie und ihren Mann dazu bevollmächtigte alle Behördengänge und Bankgeschäfte in Stevens Namen zu erledigen. Darüber hinaus durften sie auch über seine schulische Laufbahn und seinen Aufenthaltsort bestimmen. Doch das wollten sie gar nicht, denn sie waren der Meinung, dass er das sehr gut allein für sich entscheiden konnte. Schließlich war er nicht weniger clever und selbstbewusst, als Marius.

Die Erinnerung an das Gespräch mit ihren Kindern zauberte ein zärtliches und zugleich erleichtertes Lächeln auf Elisabeths Lippen. Sie hatte kaum ihren Wunsch geäußert, nach Kalifornien umsiedeln zu wollen, da hatte ihr mittlerweile achtzehnjähriger Sohn erklärt, er hätte ohnehin mit ihr und seinem Vater reden wollen, weil er nicht studieren, sondern eine Ausbildung zum Automechaniker beginnen wollte. Trotz seiner guten Noten wollte er nicht länger die Schulbank drücken, sondern seine Leidenschaft für Autos und Technik ausleben. Er hatte bereits vor Wochen Bewerbungen geschrieben und während ihrer Abwesenheit Vorstellungsgespräche geführt, was ihm gleich vier Zusagen eingebracht hatte. Er konnte also zwischen mehreren Ausbildungsstätten wählen, die allesamt darum bemüht waren, ihre Mitarbeiter regelmäßig zu schulen und ihnen somit Aufstiegschancen im eigenen Betrieb zu ermöglichen. Selbst eine Unterkunft wollte man für ihn organisieren. Laura indes war bereit in ein Internat zu gehen, bis sie ihren Abschluss machen konnte, weil sie zum einen ihre Freunde nicht aufgeben und zum anderen nicht in der Wildnis leben wollte. Nun ja, das mit der Wildnis war nicht ganz ernst gemeint, denn sie wusste, dass Sunville und auch das Dorf-am-See nicht im tiefsten Urwald zu finden waren. Sie wusste auch, dass es in Kalifornien fast genauso viele anerkannte Universitäten gab, wie in Deutschland. Trotzdem wollte sie bleiben und ihre Eltern nur in den Ferien besuchen.

Auch wenn es so aussah, als ließe sie ihre Kinder leichten Herzens zurück, fühlte sich Elisabeth zutiefst schuldig deswegen. Nichtsdestotrotz packte sie Kisten und Koffer, um die Sachen anschließend im Wohnraum zu stapeln, wo sie vom Umzugsunternehmen abgeholt und später per Flugzeug, Bahn und Lkw zum Zielort gebracht werden sollten.

Die Mappe mit den Dokumenten wieder schließend, bemerkte Elisabeth am Abreisetag Phillips nachdenkliche Miene. Also wandte sie sich ihm vollends zu, um ihn fragend anzusehen.

„Was ist los?“, wollte sie wissen.

„Meinst du, Steven wäre bereit, uns ein Stück Land zu verkaufen?“ Er grinste schief. „Ich weiß, das hört sich jetzt ziemlich doof an. Aber ich möchte nirgends auf Miete wohnen, sondern etwas Eigenes haben. Etwas, wo ich tun und lassen kann, was ich will.“

„Du fragst ihn am besten selbst“, empfahl sie lächelnd.

„Was ist das denn für eine dumme Frage?“, wollte Steven ein paar Tage später ziemlich unwirsch wissen, sobald sein neu ernannter Vormund sein Anliegen zur Sprache gebracht hatte. „Selbstverständlich könnt ihr ein Stück Land von mir bekommen. Aber nicht verkauft, sondern auf Honorarbasis überlassen. Da ihr die allein verantwortlichen Verwalter der Harper-Ranch sein werdet, bis ich volljährig bin, muss man euch eure Arbeit ja entsprechend bezahlen. Na ja, also, einen richtigen Lohn werdet ihr sicher nicht bekommen, weil gar kein Geld dafür da ist. Aber wenn man euch monatlich eine gewisse Summe gutschreibt, sozusagen als bezahlte Rate für das Land, dann ist das so gut wie ein Arbeitsentgelt. Was meint ihr?“

Phillip war für einen Moment so überrascht, dass er nicht gleich antworten konnte. Doch dann grinste er erfreut.

„Gute Idee“, lobte er. „Ich sehe schon. Wir werden ein richtig gutes Team abgeben.“

„In ein paar Jahren bestimmt.“ Stevens Miene erschien mit einem Mal sehr ernst. „Aber vorerst müsst ihr alles ohne mich entscheiden, weil ich mich nämlich auf die Schule konzentrieren muss und nach meinem Abschluss nach Redding aufs College will. Ich … Mein Klassenlehrer will dafür sorgen, dass ich ein Stipendium bekomme, weil er mein enormes Potenzial nicht vergeudet sehen will.“ Er lächelte verlegen. „Seine Worte. Na ja, seinen Wunsch, dass ich später ein mächtiger und stinkreicher Wirtschaftsboss werden soll, kann ich sicher nicht erfüllen. Aber mit einer vernünftigen Ausbildung kann ich bestimmt viel für uns und unsere Leute hier erreichen.“ Die Aussicht darauf, dass er die Studiengebühren nicht aus eigener Tasche zahlen musste, hatte ihn sogleich in euphorische Stimmung versetzt, denn solch eine Chance wollte ihm wie ein Geschenk der Höchsten-Macht vorkommen. Schulunterricht und nebenbei eingesammeltes Wissen, sowie handwerkliches Können, waren zwar schön und gut, aber nicht wirklich dazu geeignet, ihm die Kenntnisse zu verschaffen, die er als erfolgreicher Unternehmer haben musste. Aber genau das wollte er werden. Ein erfolgreicher Geschäftsmann wollte er später sein, dem man Respekt und Anerkennung zollen musste, weil er keineswegs ein dummer Indianer war, der sich leicht übers Ohr hauen ließ.

„Wenn wir allein verantwortliche Verwalter werden, müssen wir vielleicht Entscheidungen treffen, die du möglicherweise nicht gut findest“, gab Phillip zu bedenken. „Bist du dir sicher, dass du damit umgehen kannst?“

„Na ja.“ Steven grinste spitzbübisch. „Für die paar Jährchen wird es schon gehen. Danach kann ich dich ja wieder rausschmeißen. Aber Elly behalte ich dann hier. Die ist nämlich genau meine Kragenweite, auch wenn sie ein paar Jährchen älter ist als ich.“ Das war noch nicht einmal gelogen, dachte er für sich. Er mochte die jugendlich wirkende Frau sehr, denn sie war nicht nur hübsch, sondern auch total lieb. Genauso groß, wie er selbst, brachte sie mehr Pfunde auf die Waage, als es die selbst ernannten Gesundheitsapostel und magersüchtigen Modedesigner gerne sahen. Doch ihn störte das genauso wenig wie ihren Mann oder den Rest ihrer Bewunderer. Sie selbst schien im Übrigen auch nicht unglücklich darüber zu sein. Zudem verstand sie es ausgezeichnet, sich so zu kleiden, dass das Augenmerk des Betrachters ausschließlich auf den Wow-Effekt ihrer Erscheinung gelenkt wurde. Und das waren nicht nur ihre strahlend blauen Augen, oder ihr herrliches Haar.

„Untersteh dich, mein Junge.“ Phillip lachte. „Wer sich unerlaubterweise um meine Frau bemüht, dem drehe ich eigenhändig die Gurgel um. Ich bin nämlich ein furchtbar eifersüchtiger Mann.“

„Ich fühle mich sehr geschmeichelt.“ Auch Elisabeth lachte den Jungen offen an. „Aber du hast vergessen, dass es nicht nur ein paar Jährchen sind, mein Lieber, sondern schon mehr als zwei Jahrzehnte Altersunterschied zwischen uns.“

„Nicht das Alter des Körpers zählt, sondern die Einstellung des Geistes“, erwiderte Steven heiter. „Man ist schließlich nie zu alt für die Liebe.“

„He, junger Mann“, mischte sich nun Phillip wieder ein. „Hast du denn schon deine Reifeprüfung hinter dir, um so sprechen zu dürfen?“

Als hätte man das Lachen per Drehknopf einfach ausgeschaltet, wirkte das sonnengebräunte Jungengesicht mit einem Mal todernst und zutiefst bekümmert.

„Nein“, antwortete Steven knapp. „War kein Jäger da, der mich hätte begleiten können. Sind alle zu beschäftigt mit ihren eigenen Familien. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für einen Waisenjungen.“

Man brauchte Phillip nicht extra zu sagen, wie sehr dieses Thema Steven beschäftigte. Im Stillen bedauerte er, nicht sofort etwas gegen den Kummer des Jungen unternehmen zu können. Er schwor sich aber im Stillen, sofort für Abhilfe zu sorgen, sobald die wichtigsten Formalitäten erledigt waren und der Winter mit seinen Stürmen dem Frühling wich.

*

Phillip kümmerte sich zunächst darum, dass ein neues Blockhaus gebaut wurde, welches er mit moderner Heiz-und Kommunikationstechnik ausstatten ließ. Danach sorgte er dafür, dass die kaputten Landmaschinen repariert wurde, damit die Leute wieder Mais, Bohnen und Futterrüben in größeren Mengen anbauen konnten. Auch ein paar Weizenfelder sollten angelegt werden, obwohl noch nicht gewiss war, ob man sie auch tatsächlich einsäen würde. Nebenbei erledigte er ein paar Kundenaufträge, die er noch als aktiver Börsenmakler übernommen hatte, verabschiedete jedoch einen nach dem anderen, sobald seine Arbeit erledigt war.

Elisabeth verbrachte unterdessen viel Zeit mit Nancy, mit der sie die Gestaltung ihres Gemüsegartens und des Geflügelhofes plante. Dabei wurden auch andere Dinge erörtert, die nur wenig mit ihrem aktuellen Leben zu tun hatten.

„Wie weit geht deine Erinnerung zurück?“, wollte die Indianerin eines Tages wissen.

„Ziemlich weit, denke ich“, erwiderte Elisabeth. „Auch wenn ich im Laufe der letzten Verbindungen einiges vergessen habe, und gerade erst dabei bin, alles wieder an die Oberfläche zu holen, weiß ich noch, wie alles anfing.“ Gleich darauf begann sie über die Entstehungsgeschichte der Welt zu sprechen. Demzufolge war die Höchste-Macht das allererste intelligente Wesen im bis dahin stockdunklen und kalten Universum gewesen. Im Grunde aus zwei Energieformen bestehend, nämlich Licht und Hitze, hatte es mithilfe seiner grenzenlosen Kräfte Galaxien entstehen lassen, die das Weltall licht und bunt machten. „Um nicht länger das einzig intelligente Geschöpf zu sein, rief die Höchste-Macht neue Energiewesen ins Leben, die sie Gebun nannte“, rezitierte sie. „Doch die hatten nichts Besseres zu tun, als untereinander Streit anzufangen. Als es schließlich zu schlimm wurde, entschied die Höchsten-Macht, dass jeder Gebun einen Teil des Universums bekommen und dort für immer bleiben sollte. Und so wurden die Gebun in alle Richtungen des Universums verstreut. Gebun Rye bekam unter anderem ein Sonnensystem zugewiesen, in welchem sich mehrere Planeten mit einer schützenden Atmosphäre befanden, die organisches Leben möglich machten. Weil er sich aber trotz aller Arbeit und Fürsorge für sein Aufgabengebiet immer noch einsam fühlte, schuf er nach einiger Zeit sorgfältig modulierte Körper aus Staub und Wasser, denen er einen Teil seiner eigenen Lebensenergie einhauchte. Diese Geschöpfe nannte er Yden und versah sie mit unerschöpflicher Regenerationsfähigkeit und enormen mentalen Fähigkeiten, in der Hoffnung, dass sie in seinem Roten-Garten fortführen würden, was er selbst begonnen hatte. Danach breitete sich auf Eotan ein neues Geschlecht von mächtigen Wesen aus, die lange Zeit in einer wohlgeordneten Gesellschaft lebten. Als sie jedoch Krieg untereinander begannen, der beinahe ihre gesamte Zivilisation auslöschte, entschied das erste Yden-Paar, dass etwas geschehen müsse. Also teilten sie das Yden-Volk in zwei Gruppen auf. Vyane, die allererste und mächtigste Yden-Frau blieb auf Eotan, um die Zurückbleibenden weiter zu leiten. Xeyo hingegen, also der allererste und mächtigste Yden-Mann, begleitete die Aufbrechenden zum Blauen Garten. Und so landete er mit seiner Gefolgschaft auf Aquitan, einen Planeten, der überwiegend von Wasser bedeckt war und der später von den Menschen Erde genannt wurde. Hier schufen sich die Siedler eine neue Heimat. Dabei verzichteten sie bewusst auf die technischen Errungenschaften, die ihnen auf Eotan den Alltag erleichtert hatten, weil sie verhindern wollten, dass diese für Kriegszwecke missbraucht wurden. Es ging auch lange alles gut, bis ein großer Komet vom Himmel fiel und eine Umweltkatastrophe auslöste, die nahezu alles Leben vernichtete, das auf der Oberfläche zu finden war. Dabei starben auch die Yden. Was von ihnen übrig blieb, waren allein ihre Lebensfunken, denn diese stammten ja von Gebun Rye und waren daher unzerstörbar. Von der Yden-Frau Derya eingesammelt, die von der Höchsten-Macht zur Hüterin der Großen-Gemeinschaft bestimmt wurde, wurden sie zu einem sicheren Ort begleitet und blieben somit auf der Erde, statt zu ihrem Gebun zurückzukehren und ihm seine Lebensenergie zurückzugeben. Weil sie jedoch einerseits nicht mehr imstande waren, sich neue organische Körper zu erschaffen, andererseits aber auch nicht nur als bloße Lichtgestalten existieren wollten, suchten sie nach einer Lösung dieses Problems. Am Ende gingen sie eine Symbiose mit den Menschen ein. Sie machten den aufrecht gehenden und lernfähigen Zweibeiner stark, mutig und klug, damit er sich über alle anderen Lebewesen der Erde erheben konnte. Und sie gaben ihm das Wissen, dass er etwas Besonderes war, weil er seinen wahren Ursprung in Gebun Rye und somit auch in der Höchsten-Macht selbst hatte. Da sich der menschliche Körper jedoch nicht ewig regenerieren konnte und darum nach einer gewissen Zeit starb, mussten sich die Yden immer wieder mit neuen Symbionten vereinen. Dabei blieben sie aber immer sie selbst.“ Elisabeth hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr: „Das war zumindest so, bis der erste menschliche Geist so stark mit einem Yden-Bewusstsein verschmolz, dass eine Trennung nicht mehr möglich war. Die Folge davon sind Mischwesen, die sich ständig weiterentwickeln, je mehr Menschenseelen und gesammelte Erfahrungen sie in sich vereinen.“ Das war eine sehr verkürzte Darstellung, gestand sie sich ein. Doch eine ausführliche Wiedergabe der Yden-Chronik war gar nicht nötig, denn Nancy wusste darüber genauso Bescheid, wie die Hüterin des Wissens und Bewahrerin der Großen-Gemeinschaft, sowie die sechs Magistra. Diese hochrangigen Yden-Frauen speicherten nämlich das gesamte, bisher gewonnene Wissen aller Individuen in ihrem Verstand und gaben es an die neuen Yden-Generationen weiter. Allein Nancy war etwas Besonderes, denn in ihrem Inneren verbarg sich Naya, die Dyani, die erste und bisher einzige von Xeyo ins Leben gerufene Yden-Frau, die auf der Erde gezeugt und als fertiges Individuum geboren wurde. Sie war noch mächtiger als ihr Vater, weil sie von der Höchsten-Macht mit zusätzlichen Kräften ausgestattet wurde. Darüber hinaus war sie eine Art Schwester, aber auch fürsorgliche und liebevolle Mutter, die ihren Schützlingen jederzeit und mit allen Mitteln hilfreich zur Seite stand. „Geht es dir so, wie dem Rest von uns?“, wollte sie wissen. „Oder bist du immer noch ausschließlich du selbst?“

„Auch ich habe mittlerweile menschliche Bewusstseinsanteile“, gestand die Gefragte ernst. „Aber das hat mich nie irritiert oder geschwächt. Ganz im Gegenteil. Die meisten meiner Symbionten waren mir im Charakter und mit ihren mentalen Fähigkeiten ähnlich, sodass es wie eine Bewusstseinserweiterung war, wenn wir verschmolzen. Dabei hat sich aber immer meine eigene Persönlichkeit behauptet, sodass ich nie vergaß, wer ich wirklich bin.“

„Ich hoffe, wir kommen irgendwann alle auf dieses Level.“ Elisabeth seufzte. „Meine jetzige Verbindung ist seit Langem die erste, die mir wieder alle Erinnerungen erlaubt.“

„Es wird besser mit der Zeit“, versprach Nancy. „Die ersten allumfassenden Verschmelzungen waren wohl für beide Seelen eine Art Schock, sodass vieles einfach beiseitegedrängt wurde, um mit der ungewohnten Situation klarzukommen. Aber mittlerweile kennen fast alle Yden dieses Phänomen und gehen in der Regel sehr behutsam vor, um ihren Symbionten ausreichend Zeit zu lassen, den fremden Teil ihres Geistes als etwas vollkommen Normales zu akzeptieren.“ Sie blieb für eine Weile stumm, während sie das Huhn rupfte, welches gebraten und zum Mittagessen verspeist werden sollte. Doch dann blickte sie auf und sah ihre Besucherin aufmerksam an. „Weißt du noch, wo Mathilda die Tränen versteckt hat?“

„Die Tränen?“ Elisabeth wusste im ersten Moment nicht, was genau mit der Frage gemeint war. Doch schon im nächsten wurde ihr klar, wovon ihre Gastgeberin und Freundin sprach. „Ja, ich weiß es“, erklärte sie. „Sie hat einen Ort ausgesucht, der sehr abgelegen und unwirtlich war. Und ich habe ein tarnendes Kraftfeld drumherum errichtet, damit niemand die Schatulle findet.“

„Gut gemacht“, lobte Nancy. „Lass es vorerst so. Ich sage dir Bescheid, sobald du sie holen sollst.“

„Brauchen wir sie bald?“ Elisabeth war blass geworden.

„Noch haben wir ein bisschen Zeit“, erwiderte die Indianerin ernst. „Aber die dunklen Mächte werden immer stärker.“ Dass es positive und negative Energien gab, die man in der Regel nicht sehen konnte, war seit je her so selbstverständlich wie die Tatsache, dass Licht und Dunkelheit existierten. Warum das so war, konnte niemand erklären. Allein darum befasste man sich auch nicht mit der Frage, wer sich das ausgedacht hatte, oder welchem Zweck es dienen sollte. Solange die gegensätzlichen Kräfte im Gleichgewicht geblieben waren, hatte man sich keine Sorgen machen müssen. Es waren jedoch vor einiger Zeit Geschöpfe erwacht, die die Seelen von nicht ergänzten und meist bösartigen Menschen an sich zogen, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen und sich gleichzeitig von ihnen zu nähren. Das Besorgnis erregende daran war, dass diese Kreaturen immer mächtiger wurden, je mehr negative Energie sie aufnahmen. Und die Tatsache, dass immer mehr Menschen die Erde bevölkerten, die aufgrund der begrenzten Zahl der Yden ohne Symbionten blieben, und die sich aus egoistischen Gründen bereitwillig dem bösen Einfluss der Dämonen unterwarfen, ließ für die Zukunft der Erde schlimmes befürchten.

Elisabeth erinnerte sich unterdessen an die Entstehung und besondere Bedeutung des wohl stärksten Machtinstrumentes, das den Yden in die Hände gegeben worden war. Naya war mithilfe einer List gezeugt und durch die Höchste-Macht mit zusätzlichen Kräften beschenkt worden, weil sie eine Aufgabe erfüllen sollte, die sonst niemand übernehmen konnte. Als Xeyo dann erfuhr, dass man ihn im Schlaf seines Samens beraubt hatte, war er außer sich geraten und hatte versucht, seine Tochter zu töten. Da er ihr jedoch nicht ebenbürtig war, hatte er nach einem furchtbaren Kampf aufgegeben und war dann über seine eigene Unbeherrschtheit und Mordlust so unglücklich gewesen, dass er zu weinen begann. Aus seinen Tränen waren dann Opale geworden, die er in reinstes Silber gefasst und zu einer Halskette zusammengefügt hatte, die er mit seiner eigenen Magie anreicherte. Sie sollte seine Tochter schützen und bei ihrer Aufgabe stärken, was sie dann auch getan hatte. Allerdings hatte das Schmuckstück schon bald Begehrlichkeiten geweckt, weil es die mentalen Fähigkeiten seines jeweiligen Trägers verstärken konnte. Yngvar, ein Yden-Mann mit enormen übersinnlichen Kräften, hatte versucht die Tränen an sich zu bringen, um hernach noch bedeutender zu werden. Er war jedoch durch die Magie der Opale und seine grenzenlose Machtgier seines Körpers beraubt worden. Was übrig blieb, war ein Bewusstsein, dass immer noch egoistisch und grausam nur den eigenen Interessen folgte. Bald als Dunkler-Yde benannt, war er schließlich von Naya und den Mitgliedern des sogenannten Helferkreises gestellt worden. Allerdings hatte er sich dann durch einen Trick retten können. In unzählige Splitter aufgeteilt hatte sich sein Bewusstsein über den gesamten Planeten ausgebreitet, und musste über sehr lange Zeit hinweg eingesammelt und wieder zusammengefügt werden. Bis auf ein paar winzige Fragmente, die unauffindbar blieben, war ihm das auch gelungen, sodass er erneut sein schlimmes Werk aufnehmen konnte. Doch Naya und die Magistra hatten ihn nicht vergessen.

Bei der Erinnerung an die furchtbare Zeit schluckte Elisabeth schwer. Xeyos Tränen waren vorsichtshalber auf verschiedene, meist hochrangige Yden-Träger verteilt worden, weil man geglaubt hatte, sie auf diese Weise am besten schützen zu können. Doch Yngvar war aufgrund seiner beständig größer gewordenen Wut zu einem unberechenbaren Feuerdämon mutiert, der rücksichtslos jeden Menschen für seine eigenen Zwecke missbrauchte und die Vernichtung aller Yden anstrebte. Am Ende war Naya und den Magistra keine andere Wahl geblieben, als den Verbrecher erneut zu stellen und zu bestrafen. Und so war Yngvars Bewusstsein in einem durch Magie gesicherten Rubin festgesetzt worden, damit es keinen Schaden mehr anrichten konnte. Bei dieser Auseinandersetzung war dann auch entdeckt worden, dass mindestens ein Splitter seines Bewusstseins in Xeyos Herzblut eingeschlossen war, sodass man ihn nicht endgültig auslöschen konnte. Allein darum war der Rubin in ein schwer zugängliches Gebirge gebracht und in einem sorgsam getarnten Versteck deponiert worden. Dass dieser Ort nur für eine gewisse Zeitspanne sicher sein würde, war schon zu Beginn allen klar gewesen, denn vor dem Wandel der Zeit und der Weiterentwicklung der Menschheit war nichts und niemand sicher. So auch das Gebirge nicht, in dem der Rubin mit seinem mörderischen Kern lag. Die Menschen gruben sich buchstäblich durch alle Schichten des Planeten, auf der Suche nach Edelmetallen und wertvollem Gestein. Auch brachen sie Schneisen durch Felsenbarrieren und bohrten Tunnel in Gebirge, damit die Verbindungen von Ort zu Ort kürzer wurden. Es war daher nur noch eine Frage der Zeit, bis Yngvars Gefängnis gefunden und das momentan noch fest verschlossene Tor seines Gefängnisses geöffnet wurde.

„Es ist nicht nur der Rubin, der mir Sorgen macht“, sagte Nancy in die Gedanken ihrer Freundin hinein. „Es sieht vielmehr so aus, als wären ein paar Dämonen dabei, die ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Der rasante Fortschritt der Technik kommt nämlich nicht von ungefähr. Und die Vielfalt und Effektivität der Waffen, die weltweit entwickelt werden, lässt mich fürchten, dass die dunklen Mächte etwas planen, was die gesamte Schöpfung vernichten könnte.“

„Denkst du, dass die sie Yngvar befreien wollen, damit er ihnen im Kampf gegen uns hilft?“ Elisabeths Gänsehaut verstärkte sich. Dämonen waren Schattenwesen, die keine Regeln und schon gar kein Erbarmen kannten, erinnerte sie sich. Wem genau sie ihre Existenz verdankten, oder wo sie herkamen, war nicht ganz klar. Fest stand jedoch, dass diese bösen Geister allein ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen folgten, und dabei buchstäblich über Leichen gingen. Ihr Einfluss war vergleichbar mit purem Gift, welches den Verstand ihrer Träger so vernebelte, dass diese kaum noch fähig waren, menschliche Emotionen zu empfinden. Beging die Geisel eines Dämons dann schlimme Verbrechen, speicherte er deren Grausamkeit in seinem eigenen Bewusstsein und gewannen allein dadurch die Energie, die nötig war, um immer stärker zu werden. „Aber … Sie müssen doch wissen, dass er weder Dankbarkeit noch Loyalität kennt.“

„Ich denke nicht, dass sie ihn befreien wollen“, winkte Nancy ab. „Ich glaube vielmehr, dass sie den Rubin an sich wie eine Waffe einsetzen möchten. Du weißt doch, dass das verfluchte Ding allem die Energie entzieht, was in seine Nähe gerät. Es ist praktisch eine nicht sofort erkennbare aber absolut tödliche Waffe, die garantiert nicht versagt.“

Ja, sie hatte es mit eigenen Augen gesehen, dachte Elisabeth mit Grauen. Vergleichbar mit einer geruchsneutralen Giftwolke, die jegliches Leben ringsherum vernichtete, wirkte auch der auf den ersten Blick vollkommen harmlos wirkende Edelstein. Und gerade weil er so klein und scheinbar ungefährlich war, konnte er gezielt dort platziert werden, wo er den gewünschten Schaden anrichten sollte. Wenn er den Gegner dann so geschwächt hatte, dass sich dieser nicht mehr wehren konnte, hatte man leichtes Spiel mit ihm.

„Weißt du denn, wo er liegt?“, wollte sie wissen.

„Nein, nicht genau“, erwiderte Nancy ernst. „Aber ich habe eine Ahnung, wo man ihn finden könnte, denn Arvyd hat vor seiner Verschmelzung mit Eric eine Bewusstseins-Reise gemacht, und dabei ziemlich detaillierte Informationen gesammelt. Ich hoffe, er erinnert sich wieder daran, sobald Phillips Kopf vollkommen in Ordnung ist.“

„Was ist mit der neuen Dyani?“ Elisabeth fühlte sich schuldig, auch wenn sie selbst nichts dafür konnte, dass ihre Symbiontin Safyra ihre Aufgabe beim ersten Versuch nicht hatte ausführen können. Mathilda, die frühere Trägerin der Sechsten Magistra hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Mann und dessen Impulsgeber gesträubt, die einem neuen, durch die Höchste-Macht zusätzlich gestärkten Wesen das Leben und einen Teil ihrer mentalen Fähigkeiten schenken sollten. Doch gleich darauf schalt sie sich eine Närrin, denn für Bedauern gab es gar keine Veranlassung. Allein die bis dahin herrschende Annahmen, dass nur Xeyo ein so starkes mentales Abwehrschild um sich errichten konnte, dass seine wahre Identität nicht zu erkennen war, hatte die Magistra dazu verleitet, Safyras damalige Trägerin Mathilda zu dem alten Pferdezüchter zu schicken. Dass sie für die Sturheit des Mädchens dankbar sein mussten, war ihnen erst viel später aufgefallen. Es war nämlich im Nachhinein gar nicht mehr sicher gewesen, ob sich Xeyo tatsächlich mit Mr. Savron verbunden hatte. Vielmehr vermutete man jetzt, dass sich ein ziemlich mächtiger, aber den dunklen Mächten zugeneigter Yde der zweiten oder dritten Generation mit dem Geschäftsmann verbunden haben musste. Als sein Träger starb, war seine Freisetzung dank seiner allumfassenden mentalen Abschottung unentdeckt geblieben, sodass er spurlos verschwinden konnte. Wo er sich momentan aufhielt, oder mit welchem Menschen er sich verbunden hatte, wusste niemand. Man fürchtete aber, dass auch er an Xeyos Tränen herankommen wollte, um seine Kräfte und somit auch seine Macht zu erweitern.

„Wir brauchen keine neue Dyani.“ Nancy sagte das in einem so gleichmütigen Tonfall, als würde sie über etwas völlig Belangloses reden.

„Aber …“ Elisabeth war sichtlich verwirrt. „Wieso das?“

„Weil schon ein Geschöpf existiert, das sowohl dem Dunklen-Yden als auch Xeyo ebenbürtig ist“, antwortete Nancy. „Es kann selbst sehr starke negative Energie neutralisieren. Es vermag auch seine Gegner so zu manipulieren, dass diese genau das tun, was sie sollen. Weißt du nicht mehr? Denk an die Nacht, als wir in Beruns und Merianes Schlafzimmer gestanden und die Schwarzmagierin mitsamt ihrem Besetzer gestellt haben.“

„Meriane war selbst eine Weiße Hexe mit enormen magischen Fähigkeiten. Und Berenyke, die jüngste Tochter der Zweiten Magistra war ihre Symbiontin.“ Elisabeth stand die Szene so deutlich vor Augen, als hätte sie es erst am Tag zuvor erlebt. „Sie haben gemeinsam eine Wolke aus positiver Energie und purer Liebe erschaffen, die dann den schwarzen Nebel einfach verschwinden ließ, der die Gestalt des Dämons darstellte.“ Sie lächelte leicht, weil das Bild sie selbst nach so langer Zeit mit Erleichterung und Freude erfüllte. „Wo ist Berenyke jetzt?“, wollte sie wissen.

„Gar nicht so weit weg“, antwortete Nancy. „Sie ist bei ihren letzten Verschmelzungen nicht nur durch ein paar außergewöhnlich clevere und mental begabte menschliche Seelen ergänzt worden. Es hat sich auch herausgestellt, dass sie sich zusätzlich mit dem Bewusstsein von Oya, der ältesten Tochter von Amany, also der ersten Magistra, und somit einer ziemlich mächtigen Yden-Frau der dritten Generation verbunden hat. Dadurch wurden ihre Kräfte so verstärkt, dass sie sogar mächtiger ist als ich es bin. Wie das passieren konnte, wissen wir bis heute nicht, denn es hieß ja immer, dass ein sterbliches Individuum niemals zwei Yden gleichzeitig tragen kann, ohne Schaden zu erleiden. Aber es ist nun mal geschehen und wird hoffentlich auch weiterhin keine negativen Auswirkungen haben. Das Mädchen, von dem die Rede ist, weiß nichts von der Macht, die in ihm steckt. Es sollte eigentlich von klein auf darauf vorbereitet werden, dass es gegen einen gefährlichen Gegner kämpfen wird. Leider ist das nicht geschehen. Aber es wird hierherkommen, wenn die Zeit dafür reif ist, um sich von uns unterweisen zu lassen. Bis dahin müssen wir uns einfach gedulden und unsere eigenen Vorbereitungen treffen.“

„Bist du sicher?“, Elisabeth runzelte die Stirn. „Ich meine, dass die Kleine hierherkommen wird?“

„Wie du sicher noch weißt, ist dein Gefährte nicht der Einzige, der die Zukunft vorhersehen kann“, erwiderte die Indianerin mit einem leichten Schulterzucken. „Auch meine Mutter vermag das. Ihre Visionen sind recht zuverlässig, auch wenn man manchmal erst herausfinden muss, was genau sie uns sagen wollen.“

„Deine Mutter?“ Elisabeth runzelte verwundert die Stirn. „Sag bloß, Jystarun ist auch in der Nähe.“

„Na ja, nicht mehr als reale Person“, gestand Nancy sichtlich geknickt. „Ihre Symbiontin hat sich im letzten Winter eine böse Lungenentzündung zugezogen und ist gestorben. Also ist sie zur Großen-Gemeinschaft zurückgekehrt und wartet momentan noch darauf, dass man ihr einen neuen Menschen zuweist.“

„Schade.“ Elisabeth bedauerte nicht den Tod von Jystaruns Symbiontin, denn das war bloß ein Übergang der menschlichen Seele in eine andere Dimension und neuerdings auch eine Garantie dafür, dass sie unsterblich war und daher jederzeit wiedergeboren werden konnte. Vielmehr hätte sie gerne mehr über die Frau erfahren, die statt einer neuen Dyani gegen die dunklen Mächte antreten sollte. Da sie jedoch kaum weitere Informationen einfordern konnte, ohne Nancys Geduld über Gebühr zu strapazieren, vertröstete sie sich selbst auf später, wohl wissend, dass man sie und Phillip zu gegebener Zeit umfassend informieren würde.

Cassandras Bestimmung

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