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Phillip

Juni 1990

Wo er sich gerade befand, konnte der verwirrte Mann nicht einordnen. Selbst sein Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Zudem konnte er nicht verstehen, warum er sich so merkwürdig fühlte. Als ob er fliegen würde. Nicht in einem Flugzeug oder mit einem Drachen. Nein. Es fühlte sich an, als ob er direkt von den unterschiedlich temperierten Luftschichten auf und ab geschaukelt würde. Als hätte er Flügel, die von einer aufwärts wirbelnden Thermik nach oben gedrückt wurden, spürte er gleichzeitig den Luftzug an seinem Körper entlangstreichen.

Die Augen öffnend, blickte er um sich. Dass er tatsächlich frei in der Luft schwebte, erschreckte ihn im ersten Moment so sehr, dass er zunächst nicht in der Lage war, vernünftig zu denken. Im nächsten jedoch erwachte seine Neugierde, sodass er seinen Blick in einem weiten Rund schweifen ließ.

Eine sonnenüberflutete, in verschiedenen Farben leuchtende Landschaft lag wie ein bunter Teppich unter ihm. Große und kleine Tiere grasten friedlich im Schutze ihrer Herden. Andere rannten über eine ausgedehnte, überwiegend baumlose Ebene vorwärts, und änderten die Richtung ihres Laufs, sobald ein Hindernis auftauchte. Auch Bach-und Flussläufe konnte er ausmachen, die immer breiter wurden, bis sie in einen scheinbar grenzenlosen Ozean mündeten. Als er dann endlich registrierte, dass er keinen menschlichen Körper mehr besaß, sondern wie ein Vogel aussah, verlor er für einen Moment seine Fassung.

„Ruhig! Du bist bloß verwirrt, weil du lange nicht mehr auf dieser Bewusstseinsebene gewesen bist.“

Woher die Stimme kam, oder zu wem sie gehörte, konnte er nicht einordnen. Allein der Klang kam ihm seltsam vertraut vor und sorgte dafür, dass sein Schock allmählich nachließ. Als er jedoch realisierte, dass der Vogel mittlerweile weitergeflogen war, er hingegen immer noch an gleicher Stelle schwebte, stieg neue Furcht in ihm auf, weil er nicht verstand, was mit ihm passierte. Vor allem die Tatsache, dass er keine sicht-oder greifbare Gestalt besaß, ließ seine Panik sprunghaft anwachsen.

„Du musst keine Angst haben“, versuchte man ihn zu beruhigen. „Es ist alles in Ordnung. Du bist bloß durcheinander, weil du diesmal ohne Vorwarnung zu deiner Reise aufgebrochen bist.“

Reise?

Was denn für eine Reise?

„Du machst gerade eine Bewusstseinsreise“, erklärte ihm die körperlose Stimme. „Dein Geist befindet sich momentan auf einer anderen Bewusstseinsebene und ist zudem nicht an die Zeit gebunden, der alle Luft atmenden und Schmerz empfindenden Geschöpfe unterworfen sind.“

Was sollte denn dieser Blödsinn?

Wieso andere Bewusstseinsebene?

War er etwa vollkommen durchgeknallt?

Oder erlebte er bloß einen fürchterlichen Rausch?

Nein, entschied er nach kurzer Überlegung. Bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen hatte er bestimmt nicht, denn ihm wurde schon nach drei Gläsern so schlecht, dass er nichts mehr herunterbekam. Es blieb daher nur die andere Sache. Er konnte sich zwar nicht erinnern, wann und wo das passiert sein sollte, aber er ging nun davon aus, dass man ihn unter Drogen gesetzt hatte, sodass er jetzt halluzinierte. Es gab nämlich keine andere Erklärung für diese vollkommen verrückte Situation. Bestimmt hatte ihm jemand etwas in sein Essen oder in seinen letzten Kaffee getan, um sich jetzt einen gemeinen Spaß mit ihm zu erlauben. … Aber neugierig war er doch. Besser gesagt wollte er jetzt herausfinden, wieso die unsichtbare Sprecherin so auf seine Gedanken reagierte, als hätte sie diese gehört. Außerdem wäre es interessant, herauszufinden, inwieweit er seinen Drogen-Trip beeinflussen oder kontrollieren konnte.

„Wer bist du? Zeig dich“, verlangte er.

„Wer oder was ich bin, ist jetzt nicht von Bedeutung“, antwortete man ihm. „Wichtig ist allein, dass du dich auf deinen menschlichen Körper konzentrierst und zu ihm zurückgehst.“

Es war eindeutig eine Frauenstimme, da war er sich jetzt absolut sicher. Aber zu wem gehörte sie? Und was meinte sie mit ihrer seltsamen Aufforderung?

„Du bist auf dem falschen Weg“, ließ man ihn wissen. „Wenn du dich nicht konzentrierst, wirst du nicht mehr zurückfinden.“

Zurück?

Was hieß denn, zurückgehen?

Wohin?

Und vor allem, warum?

„Weil sonst ein Mensch stirbt, der wichtig ist.“

Es war nach wie vor eine weibliche Stimme, die in seinem Bewusstsein widerhallte. Sie hatte sich jedoch grundlegend verändert. Konnte man vorher Sorge aus dem Tonfall erkennen, war nun Ungeduld herauszuhören. Außerdem war der Klang anders und wollte ihn an etwas erinnern, was er im Augenblick jedoch nicht erfassen konnte.

„Derya! Hilf mir!“

Mit einem Mal hatte er nicht nur das Gefühl, als würde er gepackt und mitgezerrt. Er konnte plötzlich auch zwei Lichtgestalten erkennen, die links und rechts von ihm ebenfalls in der Luft schwebten. Allerdings glichen sie nicht Vögeln, sondern silbern und golden schimmernden Gespenstern, mit langen, wehenden Haaren und hellen Augen. Das Sonderbarste jedoch war, dass auch er jetzt so aussah wie sie. Zum einen war es beruhigend, eine sichtbare Gestalt zu haben. Zum anderen aber auch wieder beängstigend, denn er konnte beinahe durch seine Hand hindurchsehen, so als wäre sie aus golden mattiertem Glas gemacht.

„Zu seinem Menschen“, verlangte das golden glänzende Lichtgeschöpf an seiner linken Seite. „Wir müssen uns beeilen.“

Nahezu sofort veränderte sich seine Umgebung. Und so fand er sich mit einem Mal in einem hellen Raum wieder, in welchem es auf den ersten Blick nur ein großes Bett zu geben schien, das von verschiedenen Gerätschaften umgeben war. Die ständig blinkenden Lichter irritierten ihn zunächst so sehr, dass er die beiden Menschen erst nach genauerem Hinsehen bemerkte.

Da lag ein schlafender, ziemlich blass wirkender Mann in einem Krankenhausbett, stellte er für sich fest. Aber was hatte das mit ihm zu tun? Und die andere Person, die zusammengesunken neben dem Bett auf einem Stuhl saß. Wer war das? Warum fühlte er beim Anblick der Frau so große Wiedersehensfreude? Und wieso meinte er, dass er allein durch ihre Anwesenheit gewärmt und getröstet wurde?

Seiner Sehnsucht folgend wollte er an die zusammengesunkene Gestalt herantreten und das kupferfarbene Haar berühren, damit die Frau den Kopf heben und ihn ansehen sollte. Doch dann wurde ihm bewusst, dass dies ganz unmöglich war. Außer einer nicht greifbaren Illusion von einer eigenen, wenn auch gespensterhaften Gestalt und seinen Gedanken war ihm nichts geblieben. Weder ein realer Körper, den er willentlich steuern konnte, noch das andere Wesen, welches ihn seit ewigen Zeiten begleitete. Und das war eine Katastrophe, denn es war ein unverzichtbarer, ja, es war lebensnotwendiger Teil seiner selbst gewesen!

Als würde die Frau seine Anwesenheit spüren, hob sie den Kopf und sah ihn an. Zumindest wollte es ihm scheinen, als ob ihre strahlend blauen Augen ihn direkt fixierten. Doch das war noch nicht alles. Bei näherer Betrachtung wurde nämlich erkennbar, dass vor dem erschöpft wirkenden Frauengesicht ein anderes schwebte, welches ihm wie das Antlitz eines goldschimmernden Engels vorkommen wollte. Und das kannte er sehr gut, denn es gehörte jemandem, der ihm wichtiger war als sein eigenes Leben.

„Weißt du jetzt, warum du zurücksollst?“

Die Frage riss ihn jäh aus seiner Betrachtung.

„Nein? Ich werd’s dir sagen. Der Körper da, der da so jämmerlich aussieht, ist deine menschliche Hülle in diesem Leben. Und die Frau ist eine von mehreren Menschen, die dich jetzt mehr brauchen, als du ahnst. Man hat euch in diesem Leben für eine Aufgabe vorgesehen, die ihr nur gemeinsam bewältigen könnt. Also wird es Zeit, dass du wieder zu deinem Symbionten zurückkehrst. Wenn du es nämlich nicht tust, wird deine menschliche Hülle ein geistloses Wrack bleiben, weil sein Bewusstsein unwiderruflich mit dem deinen verschmolzen ist und darum nicht eigenständig zurückgehen oder sonst wie handeln kann. Es gibt aber noch einen wichtigeren Grund für dich, zu deinem Träger zurückzukehren. Wacht der Menschenmann nicht auf, wird die Frau nicht das tun, was sie soll. Und das wäre fatal für uns alle.“

Er wandte sich nach links, um zu ergründen, wer die Frau war, die ihm so vehement zusetzte. Allerdings war sie jetzt genauso wenig zu sehen, wie das Wesen zu seiner Rechten. Auch er war jetzt nicht mehr als Form besitzende Erscheinung erkennbar.

„Was suchst du?“, wurde er im ungnädigen Tonfall gefragt.

„Dich“, gab er zur Antwort. „Warum kann ich dich nicht mehr sehen?“

„Weil Derya wieder gegangen ist“, gab man ihm zur Antwort. „Sie hat Besseres zu tun, als darauf zu warten, dass du dich wieder mit deinem Träger vereinst.“

„Wer ist Derya?“ Er wusste, er strapazierte die Geduld seiner Gesprächspartnerin jetzt schon zu lange. Dennoch wollte er nicht auf die Antwort verzichten.

„Sie ist die Bewahrerin des Wissens und die Hüterin der Großen-Gemeinschaft. Zudem hat sie die Gabe, uns auch auf dieser Bewusstseinsebene sichtbar zu machen, was uns schon viele Male von Nutzen gewesen ist. Du hingegen bist ein Reisender, der in die Zukunft wandern kann, um kommendes in Erfahrung zu bringen, damit wir gewarnt sind und entsprechend reagieren können.“ Die Stimme der unsichtbaren Frau verriet, dass sie nicht länger diskutieren wollte. „Und jetzt los!“

Was bildete sie sich eigentlich ein?

Wie kam sie denn dazu, so mit ihm zu reden?

Er war doch kein unmündiges Kind, dachte er in einem Anflug von Trotz.

„So, wie du dich momentan benimmst, könnte man tatsächlich meinen, dass du eines bist“, wurde ihm auf seine Feststellung hin im herablassenden Tonfall beschieden.

„Du redest, als wärst du meine Mutter“, empörte er sich.

„Es reicht jetzt, Arvyd. Die Zeit drängt.“

Allein der Klang des Namens bewirkte, dass seine Erinnerungen von jetzt auf sofort und in ihrer vollständigen und ziemlich verwirrenden Gesamtheit wieder präsent waren, so als wären sie einem Speicher entwichen, den man bisher fest versiegelt hatte. Sie durfte tatsächlich so mit ihm reden, gestand er sich ein. Immerhin war sie nicht nur ein sehr mächtiges Geschöpf, sondern auch die Frau, der er seine Existenz zu verdanken hatte.

„Also gut.“ Er mochte nicht mit ihr streiten, auch wenn die Versuchung immens groß war, ihr die eigenen Schwächen vor Augen zu führen. „Ich hab’s verstanden. Sag mir nur noch eines. Warum hat man mich von meiner Gefährtin getrennt?“

„Eure Verbindung kann nicht aufgelöst werden, denn sie wurde vor der Höchsten-Macht durch Xeyos Tränen besiegelt“, bekam er im ungeduldigen Tonfall zur Antwort. „Allein deine Überzeugung, du wärst auf einmal von allen verlassen, hat dazu geführt, dass du völlig durcheinandergeraten und deshalb ausschließlich deinem Irrglauben gefolgt bist, statt vernünftig nachzudenken. Und so hast du auch nicht begriffen, dass es deine Gefährtin gewesen ist, die anfangs versucht hat, dich auf den richtigen Weg zu bringen. Und deshalb bin ich jetzt hier.“

„Danke.“ Er war ihr wirklich zutiefst dankbar dafür, dass sie ihn zur Raison gebracht hatte, weil er sich sonst tatsächlich vollends verirrt und am Ende wahrscheinlich aufgegeben hätte.

„Na dann.“ Es hörte sich an, als würde sie einen erleichterten Seufzer von sich geben. „Bring es endlich hinter dich.“

Eine weitere Aufforderung brauchte er nicht, denn er war schon auf dem Weg, um seine menschliche Hülle wieder in Besitz zu nehmen. Allerdings war er kaum eingetaucht, da griff auch schon der reale Schmerz des Menschenmannes nach ihm, um ihn sogleich vollständig einzunehmen. Und so fühlte er anschließend nur noch das Bohren und Hämmern innerhalb seines Schädels, während das zuletzt Erlebte genauso verblasste wie sein Wissen um die Besonderheit seiner Persönlichkeit. Er meinte schon, die Folter würde auf ewig so weitergehen, da ließ die Pein so plötzlich nach, als hätte jemand sie anhand eines Schalters einfach ausgeknipst.

Cassandras Bestimmung

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