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ОглавлениеNach einer halbstündigen Fahrt erreichte das Wohnmobil ein Anwesen, an welches sich Elisabeth noch gut erinnern konnte. Eric Harpers Schwester Corinne hatte sich hier mit ihrem Gefährten Lachender-Bieber niedergelassen, weil der Ort idealerweise genau in der Mitte zwischen der Stadt und dem Dorf-am-See lag. Doch das war nicht der einzige Grund für ihre Entscheidung gewesen. Vielmehr hatte sie vermeiden wollen, dass die selbstgerechten Rassenhüter aus Oaktown von ihrer Liebe erfuhren und wegen der ‚Beschmutzung‘ einer Weißen-Frau den Mann ihres Herzens lynchten. Also war ein kleines Wohnhaus errichtet worden, von welchem aus man schon relativ früh sehen konnte, wer zu Besuch kam. Daneben hatte es früher verschiedene Arbeitshallen und Lager gegeben, in welchen sich ursprünglich mal eine für die damalige Zeit modern ausgestattete Tischlerwerkstatt und fertige Einrichtungsteile befunden hatten. Doch jetzt waren da nur noch eine baufällig wirkende Scheune und das Blockhaus, vor dem Hühner frei herumliefen. Allein ein struppiger Hund kam angelaufen, um das fremde Fahrzeug anzukläffen.
„Sie können da hinten parken“, erklärte der Indianerjunge, indem er auf den staubigen Platz deutete, der sich seitlich neben dem Haus befand. „Und dann kommen Sie ins Haus. Nancy hat bestimmt eine kalte Limonade da.“ Er musste dringend herausfinden, wer sie wirklich waren, dachte er für sich. Und wenn das erst einmal geklärt war, würde sich bestimmt auch herauskitzeln lassen, was sie im Schilde führten.
Sobald das Wohnmobil stand, sprang der Teenager hinaus und beruhigte erst einmal den aufgebrachten Hund. Danach ging er ins Haus, um dort laut nach jemand zu rufen. Zunächst war nun sein Geschrei zu hören. Doch kurz darauf wurde ihm von einer Frau geantwortet, die ziemlich ungehalten schien.
Phillip und Elisabeth sahen sich irritiert an, gingen aber trotzdem weiter auf das Haus zu.
„Da scheint jemand keinen Besuch zu mögen“, stellte Phillip fest.
„Sieht so aus.“ Elisabeth schluckte hart. „Aber das sollte uns nicht davon abhalten, guten Tag zu sagen.“ Sie wollte sich keineswegs aufdrängen. Aber einige Fragen würde sich die Hausherrin doch anhören müssen, bevor man sich wieder auf den Weg machte.
Das Paar war fast schon an der Eingangstür zum Haus, da öffnet sich diese. Als sie dann die Frau zu sehen bekamen, die noch kurz zuvor geschimpft hatte, blieben sie verblüfft auf der Stelle stehen. Das Gesicht war ihnen wohlbekannt, denn es hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, wie kein anderes. Auch wenn es in einem vergangenen Leben von unzähligen Falten durchzogen und von einem silbergrauen Haarschopf umrahmt wurde, war es doch das Antlitz einer Person, die sie beide sehr verehrten. Das mochte Zufall sein. Möglich auch, dass sich bei Nancy ebenfalls das genetische Erbe ihrer Vorfahren durchgesetzt hatte, sodass ihre Erscheinung nun wie die blutjunge Ausgabe der alten Geisterfrau wirkte, die vor einhundertdreißig Jahren gestorben war. Ob sie auch mit der gleichen Impulsgeberin verbunden war, wie damals die spirituelle Anführerin ihrer Sippe, konnte derzeit nicht bestimmt werden.
„Kann das sein?“, murmelte Phillip leise, derweil die Hausherrin näherkam, um direkt vor ihnen stehenzubleiben.
„Das werden wir hoffentlich bald herausfinden“, raunte Elisabeth nur für ihn hörbar.
Die Indianerin, die jetzt vor den Besuchern stand, war augenscheinlich nicht älter als zwanzig Jahre. Ihre schlanke Gestalt war in ein altes, schon ziemlich ausgebleichtes Kleid gehüllt, welches sie durch eine Schürze vor Flecken schützte. Allein ihr dunkles Gesicht wirkte abweisend. Und in den dunklen Augen war offenes Misstrauen zu erkennen.
„Wer sind Sie?“, fragte Nancy im angriffslustigen Tonfall. „Und was wollen Sie hier? Ist Ihnen nicht klar, dass Sie sich auf Privatbesitz befinden?“
Phillip schluckte erschrocken, denn er hatte nicht damit gerechnet, so aggressiv angegangen zu werden. Auch wenn sie sich nicht angemeldet hatten, galt doch nicht nur in zivilisierten Gegenden das Gebot der Höflichkeit, wenn sich Menschen begegneten.
„An wessen Feuer bist du groß geworden, Geisterfrau?“ Unbewusst die alte Indianersprache verwendend, sah er sein Gegenüber missbilligend an. Woher er plötzlich die Gewissheit nahm, dass sie genau die war, für die er sie jetzt hielt, wusste er nicht. Dennoch gab es für ihn nicht den geringsten Zweifel mehr. „Selbst wenn jemand unwillkommen ist, sollte man ihm wenigstens mit Höflichkeit begegnen. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat man hier einem müden Reisenden noch nie einen Becher Wasser oder einen Platz zum Ausruhen verweigert.“
Die Indianerin sah den merklich verärgerten Redner prüfend an, gab ihre kämpferisch anmutende Haltung aber nicht auf. Im Gegenteil wirkte sie jetzt so angespannt, als sei sie jederzeit zum Sprung bereit, um ihrem möglicherweise gefährlichen Gegner zuvorzukommen.
„Woher wissen Sie, wer ich bin?“, gab sie unwirsch zurück. „Hat Steven es Ihnen gesagt? Oder haben Sie das schon vorher gewusst?“ Die Erscheinung der fremden Frau ähnelte sehr stark einer Person, die längst verstorben war. Doch der Anblick des Mannes ließ sie völlig kalt. Allerdings hatte das nichts zu bedeuten, denn das Äußere eines Menschen sagte selten etwas darüber aus, wer er in seinem Inneren war. Nun, er hatte durchaus recht mit seiner Rüge. Sie wusste selbst, dass sie sich unmöglich benahm. Aber die Ereignisse der letzten Zeit hatten ein allumfassendes Misstrauen gegenüber Fremden ins Leben gerufen, welches auch jetzt angebracht schien. Sollte sie sich geirrt haben, würde sie sich entschuldigen. Wenn nicht …
„Willst du uns nicht erst einmal hineinbitten, damit wir reden können?“, fragte Phillip ernst. „Soweit ich mich erinnere, hast du noch nie einen deiner Gäste vor der Tür stehen lassen, oder gar einen hungrigen Besucher ohne Proviant wieder weggeschickt.“
„Also gut.“ Nancy ließ ihrem Gegenüber einen langen nicht deutbaren Blick zukommen. „Ich habe allerdings nur ein Schlangenragout auf dem Herd, das eigentlich für den Hund gedacht ist. Aber wenn Sie unbedingt auf ein Gastmahl bestehen, können Sie etwas davon abhaben.“
Phillip war zunächst so perplex, dass er nicht auf Anhieb eine passende Erwiderung fand. Als ihm jedoch klar wurde, was sie beabsichtigte, entspannte er sich.
„Also gut“, stellte er fest. „Das Gastmahl wird akzeptiert, denn ich gehe davon aus, dass du keine Klapperschlange gehäutet hast, um unliebsame Besucher damit zu füttern. Ich kann mich aber noch gut erinnern, dass du allein durch ein solches Angebot jemanden verscheuchst hast, der Schleichende-Katze nicht finden sollte.“
Die Indianerin schaute zunächst von einem zum anderen und begann dann zu grinsen. Die besondere Gabe ihres Schützlings Silberwolke musste gar nicht mehr bemüht werden, denn die wahre Identität ihrer Besucher war nun kein Geheimnis mehr. Wäre der Mann nicht der gewesen, für den sie ihn jetzt hielt, er hätte niemals diese Antwort gegeben! Und schon gar nicht in der alten Sprache der Patwin, die sich neben einigen anderen Indianerstämmen zum sogenannten Großen-Volk zählten.
„Seid willkommen“, grüßte sie nun so zuvorkommend, als hätte sie lieb gewordene Freunde vor sich. Dabei musterte sie den mittelgroßen Mann kurz von Kopf bis Fuß, der die Frau an seiner Seite schützend umarmte. „Kommt herein und lasst euch eine kalte Limonade schmecken.“
Steven stand unterdessen in der offenen Haustür und beobachtete die Szene mit wachsender Verwirrung. Dass Nancy zwei völlig fremde Menschen mit solcher Herzlichkeit begrüßte, hatte er noch niemals zuvor erlebt. Seit er sich zurückerinnern konnte, hatte er sie immer nur als eine arrogante und sehr zurückhaltende Person erlebt, die so gut wie nie ihre Gefühle zeigte. Allein ihm gegenüber verhielt sie sich manchmal wie eine besorgte, aber unnachgiebige ältere Schwester. Deshalb hatte er sie stets für einen Kopfmenschen gehalten, der sich allein von seinem Verstand leiten ließ. Sobald sie einen Feind in ihrem Gegenüber zu erkennen glaubte, verwandelte sie sich normalerweise sofort in einen Eisblock, der keinerlei Entgegenkommen zeigte und auch keine Kompromisse einging. Doch nun sah es fast so aus, als hätte er sie bisher vollkommen falsch eingeschätzt.
„Komm.“ Die Indianerin legte dem Jungen im Vorbeigehen den Arm um die Schultern und zog ihn dann mit sich ins Hausinnere. „Das sind die Menschen, auf die wir gewartet haben“, erklärte sie gut gelaunt, während sie ihn wieder losließ, um die Tür schließen zu können. „Du wolltest mir nicht glauben. Aber nun siehst du, ich hatte recht.“
Der Angesprochene schluckte schwer. Sie hatte tatsächlich immer wieder von Leuten gesprochen, die einmal kommen würden, um ihm und den Menschen zu helfen, die es trotz aller Widrigkeiten im Zwei-Seen-Tal aushielten, erinnerte er sich. Aber er hatte ihre Worte immer als Hirngespinste abgetan. Wer sollte schon einen Gedanken an Indianer verschwenden, die sich kaum selbst ernähren konnten? Vor allem, warum ausgerechnet diese Fremden?
Trotz aller Zweifel an den lauteren Absichten der Besucher erinnerte sich Steven schließlich an seine gute Erziehung. Also hieß er sie endlich so willkommen, wie man es von ihm erwartete.
Während das Paar nach der ersten Erfrischung und einem kleinen Imbiss eine ernste Unterhaltung mit Nancy begann, hielt sich Steven im Hintergrund. Zum einen konnte er sich nicht überwinden, freundlich zu tun, wo er doch den seltsamen Besuchern immer noch nicht über den Weg traute, denn er verabscheute Falschheit. Zum anderen machte ihn das Verhalten seiner indianischen Freundin vollkommen konfus, weil sie so tat, als wären die beiden tatsächlich so etwas wie lang vermisste Familienmitglieder, die endlich heimgekehrt waren. Damit nicht genug, bewegten sich die Gäste so sicher und wissend durchs Haus, als wären sie nicht zum ersten Mal darin.
Steven hockte also stumm in seinem Sessel, der dem Sofa gegenüberstand, auf welchem das Paar mittlerweile Platz genommen hatte, und beobachtete sie. Weil sich aber die Unterhaltung der Erwachsenen um Dinge drehte, die er nicht wirklich verstand, ließ seine Aufmerksamkeit immer mehr nach, sodass er sich alsbald langweilte. Und so begann sein Blick durch den Raum zu wandern. Dabei streifte er nur flüchtig über die Einrichtung und blieb schließlich an einem Bild hängen, welches er schon oft gesehen, aber bis jetzt nie sonderlich interessant gefunden hatte.
Im ersten Moment unfähig, seine Entdeckung sofort richtig zu verarbeiten, starrte Steven die alte Fotografie eine geraume Weile offenen Mundes an. Dann musterte er das fremde Paar und schluckte dabei hart. Das konnte doch nicht wahr sein, dachte er schockiert. Er musste träumen. Oder zumindest Gespenster sehen. Nein, berichtigte er sich gleich darauf selbst. Er träumte ganz bestimmt nicht. Und sie waren keine Geister. Die Frau war wirklich da. Saß dort Hand in Hand mit ihrem Mann und war aus Fleisch und Blut. Und nun meinte er auch zu wissen, warum sie gekommen waren.
„Das … Ihr …“ Er holte einmal tief Luft, bevor er neu ansetzte. „Das ist ja wohl das Allerletzte!“ Kurz davor, auf die Besucher loszugehen, nahm er sich in letzter Sekunde zusammen, weil ihm schlagartig klar wurde, dass das überhaupt keinen Sinn ergeben hätte. Man würde ihn für vollkommen übergeschnappt erklären, wenn er so aus heiterem Himmel ausrastete, redete er sich selbst gut zu. Höchstwahrscheinlich würde man ihn sofort in eine Zwangsjacke stecken und wie ein wildes Tier wegsperren, weil er vermeintlich harmlose Menschen attackierte. Ruhig bleiben, ermahnte er sich. Es ging auch anders. „Man hat sich schon viele Schweinereien ausgedacht, um an das Land heranzukommen, das uns gehört“, stieß er bitter hervor. „Aber Ihr Auftauchen ist der Gipfel.“ Er stand mittlerweile auf seinen Füßen und nahm eine drohende Körperhaltung ein. „Hat man Sie geschickt, damit Sie mich manipulieren? Will man vielleicht durch Sie erreichen, dass ich mich doch noch anders entscheide?“ Er hatte kaum ausgesprochen, da registrierte er die bodenlose Bestürzung in den Gesichtern der beiden Gäste. Das wiederum rief neben seinem unbändigen Zorn plötzlich auch tiefste Verachtung in seinem Herzen wach. Wie verlogen, grollte er innerlich. Sie wussten ganz genau, wovon er sprach. Trotzdem brachten sie es fertig, so unschuldig dreinzuschauen, als hätten sie keine Ahnung, wovon er redete. Aber sie irrten sich gewaltig, wenn sie glaubten, er sei ein naives Kind, welches sich allein durch äußerliche Ähnlichkeiten beeindrucken ließ!
Mit der Absicht, den beiden Besuchern umgehend klarzumachen, dass sie durchschaut waren, stürzte Steven sogleich zu der Wand hin, an welcher die gerahmte Fotografie befestigt war. Dort riss er die Aufnahme vom Haken und ging dann mit langen Schritten zum Sofa hinüber, um es dem Paar unter die Nase zu halten.
„Wie viel hat man Ihnen geboten?“, fragte er gepresst. „Den Scheißkerlen ist wohl nichts heilig. Jetzt versuchen sie sogar die Ähnlichkeit fremder Menschen mit meinen Familienangehörigen auszunutzen, nur um mich umzustimmen, damit ich ihnen das Land verkaufe. Aber das werde ich nicht tun, verstehen Sie! Und jetzt scheren Sie sich zum Teufel!“
„Steven!“ Nancy war nicht weniger erschrocken als ihre Besucher. Dass der Kleine durcheinander war, konnte sie verstehen. Dass er sich aber so gehen ließ, war unentschuldbar.
„Schon gut“, warf Elisabeth ein, bevor ihre Gastgeberin weitersprechen konnte. „Wenn du uns aufklärst, dann können wir die Sache vielleicht aus der Welt schaffen“, wandte sie sich an den Jungen. „Wir heißen übrigens Harper, weil Phillip den Namen Bommel nicht weiterführen wollte. Und so steht es auch in unseren Pässen. Andere Beweise haben wir jetzt leider nicht parat.“ Während sie sprach, langte sie bereits nach ihrer Handtasche. Darin kramte sie ein paar Sekunden herum und zog am Ende eine Mappe heraus, in der sich alle wichtigen Reisedokumente befanden. Die Ausweise an den Jungen weiterreichend, musterte sie gleichzeitig sein verkniffenes Gesicht. Was in aller Welt war hier bloß los, fragte sie sich. Was hatte man ihm bloß angetan, dass er so reagierte?
Steven prüfte unterdessen die Dokumente sehr sorgfältig. Doch trotz größter Aufmerksamkeit konnte er nicht entscheiden, ob sie nun echt waren oder nicht, denn dazu fehlte ihm jegliche Erfahrung im Umgang mit solchen Dingen. Allein Nancys herzlich anmutende Haltung gegenüber den Fremden ließ ihn zu einem Entschluss kommen. Er würde so tun, als glaube er ihnen, nahm er sich vor. Aber er würde sie genau beobachten und schließlich herausfinden, was sie wirklich hier wollten.
„Was soll das alles heißen?“, kam Phillip auf den eigentlichen Vorwurf des Jungen zurück. „Wer will das Land haben?“ Stevens Ausbruch fand durchaus sein Verständnis. Ein gesundes Misstrauen war gar nicht so verkehrt, dachte er für sich. Wenn man gegen Vorurteile, Missachtung und Gemeinheiten kämpfen musste, war man immer gut beraten, wenn man ständig und überall auf der Hut war. Diese Erfahrung hatte er selbst auch schon gemacht. Und zwar nicht nur im Laufe eines Lebens.
„Die Typen von der Hotelkette“, erwiderte der Gefragte nach einer Weile im mühsam beherrschten Tonfall. „Sie haben wohl jemanden von der Umweltbehörde auf ihrer Seite und wollen das Zwei-Seen-Tal für eine lächerlich niedrige Summe kaufen, damit sie dort ein Clubhotel bauen können. Da soll sich dann die sogenannte Weiße Elite erholen und dabei möglichst viel Geld lassen. Sie haben uns ihre Pläne lang und breit erklärt, und dabei immer wieder betont, dass das dann auch für uns Arbeitsplätze und Wohlstand bringen würde. Aber wenn wir uns darauf einließen, hätten wir kein Zuhause mehr, weil im Dorf-am-See alles plattgemacht würde und wir uns irgendwo anders Wohnungen suchen müssten. Unterkünfte für das Personal sind bei dem Projekt nämlich nie berücksichtigt worden und auf den Plänen auch nirgends eingezeichnet.“
Phillip war unvermittelt blass geworden. So war das also. Jetzt war ihm die Reaktion des Jungen noch mal verständlicher. Man hatte ihn sicher nicht nur einmalig bedrängt. Nur wenn man massiv unter Druck gesetzt wurde, fuhr man so aus der Haut, sobald man eine erneute Täuschung witterte.
„Also eines wollen wir doch sofort klären“, sagte er entschieden. „Elisabeth und ich sind nicht hier, um dir oder dem Volk zu schaden. Bis vor Kurzem wussten wir noch nicht einmal von euch.“
„Du siehst übrigens aus wie ein Zwilling von Arthur Harper.“ Elisabeth lächelte, was eine Reihe gesunder, gleichmäßig ausgerichteter Zähne sichtbar machte. „Ich kenne ihn von Bildern, die im Haus meiner Großeltern hingen“, erklärte sie, während sie die gerahmte Fotografie aus Stevens Händen nahm, um sie zu betrachten. „Es ist eine Schande, dass sich mein eigener Vater nie darum bemüht hat, die Geschichte seiner Vorfahren zu erforschen. Dabei wäre es doch ein Leichtes gewesen, ein Stammbuch zu erstellen oder Kontakt zu euch aufzubauen.“ Das Bild auf den Tisch vor sich legend, blickte sie zu dem Jungen auf. „Wir hätten wahrscheinlich nie von unseren Wurzeln hier erfahren, wenn es unsere Tochter Laura nicht gäbe. Sie will Anwältin werden, weißt du. Darum hat sie letztes Jahr ein Schulpraktikum in einer Kanzlei gemacht, die sich auch mit Familienrecht und Erbschaftsangelegenheiten befasst. Dabei kam sie irgendwann auf die Frage, wie weit man unsere eigene Abstammung zurückverfolgen kann. Also hat sie beschlossen, unsere Vorfahren anhand eines Stammbaumes aufzuzeichnen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie überrascht wir alle gewesen sind, als sie mit den Ergebnissen kam, die sie im Internet gefunden oder auf Anfragen an diverse Behörden erhalten hatte. Dass es tatsächlich noch lebende Familienmitglieder in Kalifornien gibt, hat uns alle sprachlos gemacht. Also haben Phillip und ich spontan beschlossen, hierherzukommen. Und jetzt …“
„Und jetzt sieht es so aus, als hätte uns die Höchste-Macht hierher gelotst, damit wir euch helfen sollen“, unterbrach Phillip sie. „Ich weiß zwar noch nicht, wie oder was wir tun sollen. Aber ich denke mir, dass wir das schnell herausfinden werden.“ Auch er lächelte, was bei Weitem nicht so umwerfend aussah, wie bei seiner Frau. „Es sei denn, du bestehst darauf, dass wir wieder gehen.“
„Ich … Ihr …Nein.“ Steven war so durcheinander, dass er kaum noch einen klaren Gedanken zustande brachte. „Ihr seid durchaus willkommen. Ich war nur ein wenig … Na ja, ich hab’ im ersten Moment wirklich gedacht, ihr wärt mit dem Auftrag hier, mich weichzuklopfen.“ Das war immerhin eine glaubwürdige Erklärung für sein Verhalten. Zumindest hoffte er das. Trotzdem … Sein fieser Verdacht ließ sich einfach nicht verscheuchen. Es hatte in der Vergangenheit nämlich schon etliche Versuche gegeben, das Land der Harpers auf legale und illegale Weise dem eigentlichen Eigentümer wegzunehmen. Wer genau dahintersteckte war nicht bekannt, weil es immer sogenannte Strohmänner gewesen waren, die man mit mehr oder weniger guten Angeboten geschickt hatte. Fest stand jedoch, dass es ein finanzstarker Investor sein musste, der das Zwei-Seen-Tal erwerben und zu einem Urlaubsparadies für betuchte Leute machen wollte. Es wollte aber niemand aus dem Dorf-am-See zulassen, dass die urgemütlichen Blockhütten abgerissen wurden, damit weitläufige Luxus-Gästehäuser mit eigenen Pools gebaut werden konnten. Auch wollte niemand einsehen, warum man fruchtbare Felder zu Golfplätzen machen sollte, auf welchen nur reiche Menschen willkommen waren. Schon gar nicht wollte man akzeptieren, dass Snobs mit dicken Brieftaschen aber mangelndem Respekt vor Flora und Fauna in den Wäldern auf Jagd gingen und allein wegen der Trophäen das Wild abballerten.
„Guck mal.“ Elisabeth faltete ein sorgfältig zusammengelegtes Papier auseinander. „Das ist der Stammbaum unserer Familie, soweit sich die Verbindungen nachweisen ließen.“ Glücklicherweise gab es eine reale und damit auch eine für Normalsterbliche nachvollziehbare familiäre Beziehung zwischen ihr und dem Jungen, dachte sie froh. Ob auch er ein sogenannter Wiederkehrer war, der einen Impulsgeber trug, war momentan nicht wichtig. Was zählte, war allein die Tatsache, dass sie beide der Harper-Blutlinie angehörten.
Steven betrachtete die Übersicht und blieb schließlich bei Arthur Harpers Namen hängen, der direkt unter Mathilda und Eric Harper neben seiner Schwester Carolyn eingezeichnet war. Außer Nancy und den engsten Vertrauten der Familie wusste im Zwei-Seen-Tal niemand mehr um den Mann, der sich aus der Verantwortung eines Vaters gestohlen und alle Pflichten seiner Schwester aufgeladen hatte, erinnerte er sich. Man hatte ihm unzählige Briefe geschrieben, aber nie etwas von ihm gehört. Und nun sprach die Besucherin diesen Namen so selbstverständlich aus, als ob es gar keinen Zweifel daran gäbe, dass sie genauso von diesem Mann abstammte, wie er selbst. Konnte es wirklich so viele zufällige Übereinstimmungen geben, fragte er sich verunsichert. Oder war da vielleicht ein sehr umsichtiger Drahtzieher am Werk gewesen, der sogar an scheinbar unwichtige Details gedacht hatte? Aber … War es nicht vielleicht doch möglich, dass die beiden die Wahrheit sagten? Schließlich wusste man absolut nichts darüber, was aus Arthur geworden war, nachdem er die Flucht ergriffen hatte. Was war, wenn Elisabeth tatsächlich einen weiteren Zweig am Stammbaum der Harpers darstellte? Allein ihre verblüffende Ähnlichkeit mit Mathilda Harper schien ein sicheres Indiz dafür zu sein.
„Ich habe ein Buch, in dem alle Geburten und Sterbefälle verzeichnet sind.“ Mittlerweile war Steven so durcheinander, dass er kaum noch wusste, was er denken sollte. Dennoch verließ er nun eilig den Raum, nur um kurze Zeit später mit einem Päckchen zurückzukehren, welches er der Besucherin in die Hand drückte.
Elisabeth schaute einen langen Augenblick auf das Leintuch hinunter, welches zum Schutz der Familienchronik diente. Doch dann entfernte sie es umständlich, um anschließend das Buch zu betrachten, welches in rotes Leder gebunden war. Es war schon alt und ein wenig abgegriffen. Doch die Schrift auf der ersten Seite war immer noch klar und deutlich lesbar.
In Liebe vereint dienen wir der Höchsten-Macht. Für die nachfolgenden Generationen bereiten wir ein Feld, welches sie weiter bestellen und beschützen sollen, damit unsere Familie zum Wohle der Menschen wirken kann, die sich ihr anschließen und mit ihr leben wollen.
Für ein oder zwei Atemzüge verlor sich Elisabeth in ihren Erinnerungen. Als man sie jedoch liebevoll in die Seite knuffte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf das Buch. Auf den folgenden Seiten fand sie dann die Reihen der Namen und Daten, die mehrere Generationen der Harpers umfassten. Gleich neben den Geburtstagen standen auch die Sterbedaten der Menschen, die allesamt verrieten, dass keiner der Harper-Männer älter als vierzig Jahre geworden war. Außerdem schien keiner der Männer eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Einige waren in verschiedenen Kriegen gefallen. Andere hatten ihr Leben bei tödlichen Unfällen verloren. Allein der letzte Eintrag zog ihr das Herz zusammen, denn er war kaum ein Jahr alt.
„Es tut mir leid, wenn ich euch beleidigt haben sollte“, überwand sich Steven endlich zu einer Entschuldigung. „Aber wenn ihr die Geschichte erst kennt, werdet ihr meine Reaktion auf euch verstehen.“ Er warf einen kurzen Blick zu Nancy, bevor er zu erzählen begann: „Man hat schon immer versucht, uns das Leben zu verleiden. Carolyn, Arthurs Schwester, und ihr Mann, Schwarzer-Stein, hatten es sehr schwer, nachdem Eric und Mathilda für immer gegangen sind. Anfangs respektierte man die Tochter des Weißen-Mannes noch, weil man das Andenken ihres Vaters ehrte. Doch immer öfter begegnete man ihr bloß noch mit Verachtung und Hohn, weil sie die Frau eines Indianers war. Sie hat sich zwar nie einschüchtern lassen, musste jedoch immer stärker um ihre geschäftliche Position kämpfen. Und dann wurde Richter Johnson, ein sehr enger Freund der Familie, hinterrücks erschossen. Niemand wusste von wem und warum. Aber kurze Zeit später bekam die Stadt einen neuen Richter. Na ja, der Mann war leider käuflich. Man konnte es ihm zwar nie beweisen, aber die Ereignisse, die sich während seiner Amtszeit abspielten, waren ein eindeutiges Indiz dafür. Schon mit Beginn seiner Arbeit fingen die Schwierigkeiten an, was sich in der Folgezeit immer mehr verschlimmerte. Statt Carolyn und die ihren zu schützen, stellte er sich auf die Seite derer, die gegen sie hetzten und sie verleumdeten. Er ließ sie immer wieder vor Gericht erscheinen, weil sie angeblich einen Vertrag verletzt oder ihre Schulden nicht bezahlt hätte. Obwohl sie jedes Mal beweisen konnte, dass man sie zu Unecht beschuldigte, wurden nach und nach alle Geschäftsverbindungen in Oaktown aufgelöst, sodass sie am Ende allein auf ihre Tante Corinne und die Handelsvertreter aus San Francisco angewiesen war. Als Joseph Harper endlich mündig wurde und sein Erbe antreten konnte, gab es auch diese Geschäftsverträge nicht mehr. Also hat man sich wieder der Land-und Viehwirtschaft gewidmet, was gerade so viel einbrachte, dass es zum Überleben reichte. Und das wurde nicht besser. Ganz im Gegenteil. Man warf uns Knüppel zwischen die Beine, wo man nur konnte. Unter anderem wollte man den gesamten Harper-Besitz wieder in staatliches Land umwandeln, weil Joseph ein Mischling war und angeblich nicht berechtigt, einen Weißen zu beerben. Allerdings ist dieser Enteignungsversuch gescheitert, weil sich Mr. Wyner für ihn eingesetzt hat.“
„Wer?“ Phillip konnte mit dem Namen im Moment nichts anfangen.
„Major Angus Wyner“, erklärte Steven. „Er war einer von Erics wenigen Vertrauten und ein sehr gerechter Mann. Weil man dem Enkel seines Freundes sein Erbe verweigern wollte, setzte sich der ehemalige Soldat und spätere Großfarmer mit einigen guten Anwälten in Verbindung, die die Sache in die Hand nahmen und einen Erfolg gegen den Staat Kalifornien erstritten. Leider hatte Joseph nicht das gleiche Geschäftstalent wie Corinne und Carolyn. Auch nicht ihr Durchsetzungsvermögen. Nach und nach ließ er alles verkommen, was man bisher für ihn aufgebaut hatte. Selbst die Bankgeschäfte erledigte er nicht vernünftig, weil er sich nur selten überwinden konnte, in die Stadt zu fahren, wo man in ihm nur eine Rothaut gesehen hat. Seither dümpelt alles so la la vor sich hin. Wir haben zwar keine Schulden. Aber wir haben auch sonst nichts. Wir können uns ernähren, ja. Das heißt, die, die noch dageblieben sind, weil sie keine andere Möglichkeit hatten, verdingen sich als Tagelöhner, sofern man sie einstellt, auch wenn diese Jobs kaum etwas einbringen. Daneben halten sie sich ein paar Tiere und bewirtschaften ihre Gärten. Früher hatten wir auch große Weizen-und Maisfelder. Damals konnten wir einen Teil der Ernte noch einigermaßen gut verkaufen. Aber die Maschinen sind mittlerweile schon sehr alt und meist kaputt. Außerdem ist kaum noch jemand da, der sie bedienen oder reparieren kann, sodass sie nutzlos vor sich hingammeln. Na ja, wir besitzen immer noch das Land. Aber keiner weiß genau, wie lange das noch gut gehen wird. Ihr werdet es selbst sehen. Die jungen Leute sind alle weggegangen, um in den größeren Städten eine Arbeit anzunehmen, damit wir wenigstens die laufenden Kosten bezahlen können. Sie können gerade mal ihre eigenen Familien ernähren, und steuern so viel bei, wie sie entbehren können. Aber es wird immer weniger. Und ich kann nichts machen. Mit meinen fünfzehn Jahren bin ich einfach noch zu jung, obwohl ich schon wüsste, was man tun könnte.“
„Aber … Wer kümmert sich denn jetzt um die wichtigen Dinge?“, fragte Elisabeth sichtlich bewegt.
„Im Moment ist niemand da“, erwiderte Steven niedergeschlagen. „Deshalb sind uns auch die Geier von der Hotelkette auf die Pelle gerückt. Sie wittern ihre Chance, weil sich kein Mensch mehr für unsere Rechte einsetzt. Sie glauben, wenn sie uns mit einem Almosen abspeisen, verkaufen wir das Land, damit wir endlich Ruhe bekommen. Und ich … Vielleicht haben sie den richtigen Riecher gehabt.“ Er seufzte resigniert. „Man kann nicht ewig gegen Windmühlen kämpfen. Irgendwann wird man es einfach leid, auch wenn man noch so hohe Ideale hatte.“
Elisabeth betrachtete das dunkle Jungengesicht voller Mitleid und wandte sich dann an Nancy. Die Indianerin hatte bisher geschwiegen, um das Gespräch nicht zu stören. Doch nun grinste sie über das ganze Gesicht, was ein wenig eigenartig wirkte, weil es momentan keinen Grund zur Freude gab.
„Ihr seid gerade rechtzeitig gekommen“, warf sie in den Raum.
„Wie meinst du das?“ Elisabeth hatte Schwierigkeiten, den Sinn der Feststellung zu erfassen. „Was genau willst du uns sagen?“
„Die Aufgabe, die euch in diesem Leben gegeben wurde, liegt jetzt klar erkennbar vor euch. Und ihr habt diesmal Glück, dass ihr euch erinnern könnt.“ Achtzehnhundertsechsunddreißig war alles anders gekommen als geplant. Da war es nämlich zum ersten Mal geschehen, dass sich das Bewusstsein eines Yden und die Seele seines menschlichen Trägers untrennbar verbanden. Dieses Phänomen hatte sich danach auf alle neuen Symbiosen ausgeweitet, ohne dass man hätte erklären können, warum es geschah. Im Grunde wäre es auch gar nicht weiter tragisch gewesen, hätte diese allumfassende Verschmelzung nicht dazu geführt, dass fast alle Erinnerungen an vergangene Existenzen und besondere Fähigkeiten komplett ausgelöscht wurden. Manche Menschen vergaßen tatsächlich alles, was vor ihrer aktuellen Existenz geschehen war. Andere ‚Ergänzte‘ stuften damals ihre außergewöhnlichen Talente aufgrund ihrer christlichen Erziehung als Teufelswerk ein, und weigerten sich, ihre Gabe zu akzeptieren. In Folge davon hatten sich nicht nur Eric Harper, sondern auch seine Gefährtin Mathilda als höchst eigenwillige Persönlichkeiten erwiesen, die sich nur bedingt von ihren inneren Stimmen lenken ließen. Glücklicherweise hatte sich der Bildungsstand der Menschen und ihre furchtlose Offenheit gegenüber scheinbar Unerklärlichem in den vergangenen Jahrzehnten deutlich erhöht. Und das war ein Glück, weil dadurch vieles wieder auflebte, was man zuvor als unwiderruflich verloren geglaubt hatte. Vor allem für Steven war das wichtig, denn das Wissen und die besonderen Fähigkeiten, die er dank seines Symbionten in sich trug, würden nicht nur ihm selbst eine große Hilfe sein.
„Es geht nicht nur um das Land, nicht wahr?“ Elisabeth wusste genau, was im Kopf ihrer Gastgeberin vorging, weil deren mentaler Abwehrmechanismus momentan nicht aktiv war. Da sie aber noch nicht sicher war, ob man ihre Frage auch auf telepathischem Wege wahrnehmen konnte, stellte sie diese laut.
„Nein“, erwiderte Nancy ruhig. „Nicht nur das Land.“
Steven sah unterdessen von einem zum anderen und verstand gar nichts mehr. Man hatte ihm zwar seit frühester Kindheit alte Legenden und die Geschichten erzählt, die seine Familie betrafen, aber jetzt war er einfach überfordert.
„Kann mir vielleicht mal einer erklären, was das alles mit mir zu tun hat?“, wollte er wissen.
„Hast du einen Vormund?“ Phillips Überlegungen waren ähnlich, wie die seiner Frau. Allerdings war sein Denkvermögen immer noch durch Schmerzen und die dagegen eingesetzten Medikamente ziemlich beeinträchtigt, sodass er sich nun ausschließlich mit greifbaren, also bodenständigen Problemen auseinandersetzte, weil jeder andere Gedankenfaden in einem wirren Knäuel endete, den er nicht mehr auseinanderbekam.
„Nein, ich …“ Steven stockte mitten im Satz, denn die Erkenntnis, die ihm jetzt durch den Kopf schoss, erschien ihm schier unglaublich. Man hatte ihm so hart und rücksichtslos zugesetzt, eben weil kein Verwandter mit demselben Namen da war, der ihn hätte vertreten können. Dass nun Phillip und seine Frau wie aus dem Nichts auftauchten, wo sich die Sache am ärgsten zeigte, und sozusagen die Lösung aller Probleme zu sein schienen, grenzte an ein unfassbares Wunder. Also, jetzt war ihm alles klar. Die Höchste-Macht gab es wirklich! Und sie sorgte jetzt dafür, dass er Hilfe bekam und nicht länger hilflos zusehen musste, wie die Indianer ihre alte Heimat verließen, um sich in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen. „Ich stehe praktisch allein da“, sprach er endlich weiter. „Das heißt, weder mein Vater noch meine Mutter hatten Geschwister. Und die Eltern meines Vaters sind schon vor meiner Geburt gestorben.“
„Dann werden wir sehen müssen, was man da machen kann“, stellte Phillip fest. „Dein Verwandtschaftsverhältnis zu Elisabeth kann bewiesen werden, auch wenn es eine Verwandtschaft um zehn Ecken ist. Und da sie sich freiwillig und ohne jede Forderung für den Job als Vormund melden wird, kann uns keiner mehr in die Parade fahren.“ Er blickte sich in dem kleinen Kreis der Anwesenden um und grinste dabei so zufrieden, wie ein Kater, der gerade die fetteste Maus seines Lebens verspeist hatte.
Weil auch Elisabeth nun zu lächeln begann, löste sich die Spannung zwischen den Menschen in einem befreiten Gelächter auf.
Steven hatte nach wie vor ein merkwürdiges Gefühl, wenn er die Besucher ansah. Allerdings ließ er sich davon nichts anmerken. Er begann vielmehr Fragen über den Rest der Familie zu stellen und erfuhr dann alles, was wissenswert war.
„Wie lange könnt ihr bleiben?“, wollte er am Ende wissen.
„Vierzehn Tage“, antwortete Phillip. „Wir wollten eigentlich drei Wochen unterwegs sein. Aber dann habe ich fast eine Woche im Krankenhaus verbracht.“ Er schluckte rasch, bevor er fortfuhr: „War wohl ein Warnschuss, damit ich mir Gedanken darüber mache, was wirklich wichtig ist und was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen will.“ Er konnte tatsächlich froh sein, dass er noch lebte, gestand er sich ein. Allein diese Erkenntnis hatte erst am Vortag dazu geführt, dass er sich fragte, ob es wirklich so wichtig war, viel Geld zu verdienen und dafür seine Gesundheit zu ruinieren. Nun, die Antwort war ein klares Nein gewesen. Im Grunde musste er sich gar nicht verrückt machen, denn er besaß nicht nur ein bezahltes Haus, sondern auch Vermögen in Form von Wertpapieren und Ersparnissen, was ausreichen würde, um einige Jahre ohne Job über die Runden zu kommen. Selbst die Ausbildung seiner Kinder war gesichert, weil er sich schon sehr früh darum gekümmert hatte, dass sie dank einer seriösen Ausbildungsversicherung ihren Neigungen folgen und entsprechende Schulen besuchen konnten. Warum also weitermachen wie ein Roboter, der allein darauf programmiert war, immer höhere Gewinne zu erwirtschaften?
„Habt ihr schon eine Unterkunft?“ Steven war mittlerweile überzeugt, dass er es tatsächlich mit Familienmitgliedern zu tun hatte, denn die beiden sprachen so spontan und ungekünstelt über sich und ihre Angehörigen, dass es anderenfalls eine Meisterleistung an Schauspielerei gewesen wäre, die entsprechenden Rollen so glaubwürdig wirken zu lassen.
„Wir haben uns in Sunville ein Zimmer reserviert“, erklärte Elisabeth. „Wir wussten doch nicht, ob wir hier willkommen sind. Und ein richtiges Bett ist doch etwas anderes, als die Liegen im Wohnmobil. Also …“
„Natürlich seid ihr hier willkommen“, unterbrach Steven ernst. „Wir werden nachher mein Zimmer für euch herrichten. Und morgen nach dem Frühstück fahren wir zum Zwei-Seen-Tal, wo ihr euch für den Rest eurer Ferien eines der leerstehenden Häuser nehmen könnt, wenn ihr wollt. “
„Das ist sehr lieb. Danke.“ Elisabeth strahlte. Dann wandte sie sich an die Indianerin. „Warum Nancy? Hat man keinen indianischen Namen gefunden, der gepasst hätte?“
„O, ich habe einen indianischen Namen“, antwortete die Gefragte mit einem schmerzlich anmutenden Grinsen. „Meine Mutter hatte während ihrer Schwangerschaft ein seltsames Erlebnis mit einem Wildschwein. Also hat sie mich Wilde-Bache genannt. Aber so nennt mich niemand. Wer nicht Nancy sagt, ruft mich einfach Geisterfrau.“
„Du folgst deiner Berufung als Heilerin, nicht wahr?“ Da war noch mehr, stellte Elisabeth im Stillen für sich fest. Doch das würde man an einem anderen Tag erörtern.
„Ja, das tue ich“, antwortete Nancy immer noch ernst. „Und ich bin nicht die Einzige, die für eine besondere Aufgabe bestimmt ist.“
„Es wird also ernst.“ Elisabeth formulierte die Worte ausschließlich in ihrem Kopf, ohne sie laut auszusprechen. Als sie dann gleich darauf eine Bestätigung bekam, die ihr praktisch direkt ins Hirn gepflanzt wurde, lächelte sie.
„Ich muss nach den Tieren sehen“, erklärte die Indianerin, während sie sich erhob. „Die Hühner dürfen zwar frei herumlaufen, müssen abends jedoch eingesperrt werden, weil sie sonst von Füchsen und anderen Raubtieren gerissen werden. Ihr könnt euch ja inzwischen in Stevens Zimmer einrichten.“
„Kann ich helfen?“, bot sich Elisabeth an.
„Nein, heute nicht“, winkte Nancy ab.
Elisabeth und Phillip führten gleich am nächsten Tag mehrere Telefongespräche, mussten sich jedoch vorerst mit der Antwort abfinden, dass sie einen amtlich beglaubigten Nachweis bezüglich ihrer Verwandtschaft mit Steven vorlegen müssten. Zudem wären Anträge beim Vormundschaftsgericht zu stellen, die sehr sorgfältig geprüft würden, weil sie ja Ausländer seien. Dennoch waren sie weit davon entfernt, sich entmutigen zu lassen. Wenn es nur an den Papieren lag, dann würde man sie nicht abwimmeln können, stellten sie entschlossen fest. Sobald sie nach Deutschland zurückkamen, würden sie die nötigen Urkunden sofort beantragen und dann den zuständigen Behörden in Kalifornien zustellen. Wenn sich die dann immer noch quer stellen sollten, würden sie eben einen Anwalt einschalten, der die Sache in die Hand nahm. Immerhin kannten sie schon einen, der noch nie einen seiner Fälle verloren hatte.
Stevens Vorschlag folgend fuhren Elisabeth und Phillip mit Nancy zum Zwei-Seen-Tal.
Die alte, beinahe völlig vergessene Indianersiedlung lag außerhalb jeglicher Zivilisation hinter einer zerklüfteten Felsenbarriere. Sie war allein über eine mit Schlaglöchern durchsetzte Straße und durch eine Passage zu erreichen, deren Ein-und Ausgang Eric Harper frei gesprengt und mithilfe der Indianer befahrbar gemacht hatte. Die Passage selbst bestand aus einer Rinne, die im Laufe von Jahrmillionen durch Wasser und mitgerissenes Sediment in den Felsen gefräst worden war. Auf der anderen Seite befand sich ein ausgedehntes Tal, welches von bewaldeten Hügeln begrenzt wurde. In der tiefsten Senke ruhten zwei unterschiedlich große Gewässer, wobei der größere See mehrere Meter über dem kleineren lag, sodass sich sein Wasser während des Frühlings mit Getöse über eine natürlich entstandene, relativ breite Furt in die Tiefe stürzte. In den Sommermonaten hingegen schwappte bloß ein seichter Wasserschleier darüber hinweg.
Der Name ‚Dorf-am-See‘ war ein wenig irreführend, denn die Siedlung war nicht direkt am Seeufer erbaut worden, weil sie dort während der Schneeschmelz alljährlich überflutet worden wäre. Sie befand sich vielmehr auf dem windgeschützten Hang eines größeren Hügels, sodass die Bewohner einen weiten Blick über die Umgebung und die Wasserflächen hatten. Im Großen und Ganzen war dieser versteckte Winkel ein unberührtes Paradies, welches man bisher nicht sonderlich beachtet hatte, weil es von Indianern bewohnt wurde, deren Gesellschaft man immer noch mied, so als seien sie Aussätzige. Doch das hatte sich offenbar geändert, als man die touristischen Möglichkeiten und somit auch den wahren Wert des Landes erkannte.
Während ein leerstehendes Häuschen von ein paar Frauen gesäubert und aufgeräumt wurde, wanderten Elisabeth und Phillip im Dorf herum. Dabei sahen sie sich die Blockhäuser und halb verfallenen Bauwerke an, die ehemals ein Sägewerk und verschiedene Scheunen gewesen waren. Hin und wieder überlegte sie gemeinsam, wie man den Menschen helfen könnte, die ihre Heimat trotz offensichtlicher Armut nicht aufgeben wollten. Allerdings verwarfen sie jede neue Idee gleich wieder, weil sie sich nicht wirklich umsetzen ließ. Die Leute schufteten fast rund um die Uhr, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Aber mehr war einfach nicht möglich, weil kaum etwas übrigblieb, um Reparationen zu bezahlen oder Investitionen zu tätigen.
Die Menschen, die noch im Dorf-am-See verblieben waren, beäugten unterdessen die beiden Besucher mit großer Neugierde aber sehr zurückhaltend. Sie wurden jedoch schnell zugänglicher, als Nancy ihnen die Sachlage erklärte. Sie sprach nicht von Schicksal oder Vorsehung, weil das ohnehin für die meisten uninteressant war. Auch klärten sie die Leute bloß über das Verwandtschaftsverhältnis der Gäste zu Steven auf. Daraufhin lud man das Paar spontan zum Essen oder auf einen Kaffee ein, um es ausgiebig befragen und somit die allgemeine Neugierde befriedigen zu können. Dass sie die alte Sprache beherrschten, die nur noch den Greisen und einigen Interessierten geläufig war, rief allgemeine Verwunderung hervor. Als man ihnen jedoch einfachheitshalber erklärte, dass das Erlernen der fast vergessenen Sprachen ein Hobby sei, welches man mit großer Begeisterung ausübte, nickten sie verstehend.
Müde und satt verabschiedete sich das Paar am Nachmittag von Nancy, um sich in ihre Unterkunft zurückzuziehen. Das Häuschen war jetzt peinlich sauber, und die Vorratskammer mit Obst, Gemüse und haltbaren Vorräten gefüllt, was gut und gerne für mehrere Wochen genügt hätte. Allein die Einrichtung war aus massivem Holze und so gepflegt, dass sie trotz ihres Alters wie neu wirkte.
„Unser Haus“, sagte Elisabeth leise. „Ich habe es nicht gleich realisiert, aber es ist eindeutig unser kleines Haus.“
Phillip blickte überrascht zu seiner schönen Gefährtin, in deren Augen Wärme und Zärtlichkeit zu erkennen war. Doch dann zog er sie in seine Arme, um sie zu küssen. Sein Körper reagierte augenblicklich, sobald sie sich an ihn schmiegte. Dennoch hielt er sich zurück. Sie hatte bisher all seine Bemühungen abgeblockt, erinnerte er sich bedauernd. Also würde er sich wieder nur mit Küssen und Streicheleien begnügen müssen. Als sie sich jedoch unverhofft noch enger an ihn drängte, vergaß er all seine Rücksichtnahme. Normalerweise ging er immer auf die Wünsche seiner Frau ein, genauer ausgedrückt zog er sich sofort zurück, sobald er eine Ablehnung ihrerseits zu erkennen glaubte. Doch an diesem Abend warf er all seine gewohnten Verhaltensweisen über Bord. Sein lange gezügeltes Verlangen drängte nun auf Befriedigung, wobei er nicht länger fähig war, vernünftig zu denken.
Da es Elisabeth ähnlich erging, gestaltete sich die nachfolgende, sehr leidenschaftliche Vereinigung ziemlich stürmisch. Plötzlich ging es ihnen nicht schnell genug, sodass ein paar Hemdknöpfe durch den Raum flogen und die Seitennaht ihres TShirts riss. Auch schafften sie es nicht mehr bis zum Schlafzimmer, denn dafür hätten sie sich loslassen und ein paar Schritte gehen müssen. Es blieb also nur das Bärenfell übrig, welches gleich zu ihren Füßen vor dem offenen Kamin lag. Und so sanken sie darauf nieder, um sogleich eins zu werden und die Welt um sich zu vergessen.
Eng aneinander gekuschelt lag das Paar später auf dem Bärenfell und genoss den Nachhall der zuvor erlebten Lust. Doch mit einem Mal ging Elisabeth auf, dass sich Phillip wieder mit Dingen beschäftigte, die ihn sehr belasteten. Selbstverständlich hätte sie nun versuchen können, seine Gedanken zu entschlüsseln. Doch das wollte sie nicht. Sie hoffte vielmehr, dass er endlich ganz offen über all das sprechen würde, was ihn bewegte.
„Was ist los, Liebling?“, fragte sie leise.
„Ich habe nur nachgedacht“, antwortete er ebenso leise. „Es ist nichts Aufregendes, weißt du. Mir scheint bloß, dass der hiesige Zweig der Familie vom Pech verfolgt ist. Und das macht mich traurig.“
„Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern“, erwiderte sie, indem sie aufstand, um eine Wolldecke zu holen. „Aber die Zukunft können wir auf jeden Fall beeinflussen.“ Der Tag war angenehm warm gewesen. Doch jetzt wurde es zusehends kühler, zumal sie immer noch nackt waren. „Ich habe auch nachgedacht“, fuhr sie fort, indem sie den weichen Überwurf über sie beide legte. „Du wirst mich wahrscheinlich für verrückt halten, aber …“ Sie schluckte hart, bevor sie fortfuhr: „Könntest du dir vorstellen, wieder hier zu leben? Ich meine … Nicht unbedingt in dieser einfachen Hütte. Aber auf jeden Fall hier, im Zwei-Seen-Tal. Ich könnte Hühner halten und einen Garten anlegen. Und du könntest mir dabei helfen. Oder Pferde züchte.“ Sie küsste ihn auf die Brust. „Spaß beiseite.“ Ihre Lippen streifen nun sein Kinn. „Du solltest wirklich kürzertreten und nur noch von daheim aus arbeiten.“ Ein mutwilliges Grinsen ließ ihr Gesicht wie das Abbild eines hübschen, frechen Kobolds erscheinen. „Dann müsste ich auch nicht mehr endlose Stunden darauf warten, dass du heimkommst und mich in die Arme nimmst.“
„Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, gab er zu, wobei er sie enger an sich zog. „Aber das geht nicht. Die Kinder … Sie sollten nicht von Frankfurt und den Ausbildungsmöglichkeiten dort fortgezerrt werden, nur weil wir unser Leben komplett auf den Kopf stellen wollen.“
„Und wenn wir mit ihnen reden?“ Elisabeth wollte ihre Idee nicht so schnell wieder aufgeben. „Marius wird bald sein Studium an der Uni beginnen und dann sicher auch ein Zimmer auf dem Campus bekommen oder eine eigene Wohnung haben wollen. Und Laura könnte bis zu ihrem Schulabschluss in ein Internat gehen.“ Sie seufzte verhalten. „Ich weiß, das hört sich ziemlich hart und gefühllos an. Aber so ist es nicht gemeint, wirklich. Ich liebe sie. Sehr sogar. Und wenn sie sagen, dass sie das alles nicht wollen, dann akzeptiere ich das. Dennoch … Ich möchte hier sein und Steven helfen. Nicht nur hin und wieder zu Besuch kommen, sondern immer greifbar sein, wenn er uns braucht.“
„Ich denke genauso“, erwiderte Phillip. „Aber lass uns erst mit unseren Kindern reden. Ja?“
„Ja, das machen wir ganz in Ruhe zu Hause“, entschied sie. „Und jetzt lass uns einfach die Zeit genießen, die wir hier verbringen dürfen.“
Elisabeth und Phillip begeisterten sich an der Natur und den herrlichen Landschaften außerhalb des Dorfes. Als man ihnen dann Pferde zur Verfügung stellte, damit ihr Bewegungsumkreis erweitert würde, zögerten sie nicht lange. Obwohl sie in diesem Leben noch kein einziges Mal auf einem Pferderücken gesessen hatten, bestiegen sie die lammfrommen Tiere ohne Angst. Als wäre sie mit den gutmütigen Vierbeinern groß geworden, ritten sie vom ersten Augenblick an sicher und sehr selbstbewusst. Sie wagten sich auch immer weiter in die Wildnis hinein, wobei sie sich stets auf die Instinkte ihrer vierbeinigen Träger verließen, die eine mögliche Gefahr meist schon aus weiter Ferne witterten. Außerdem kannten sie sich ja aus. Das Tal und die umliegenden Hügel waren ihnen so vertraut, als hätten sie schon immer hier gelebt.