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Fruchtbare Ebenen, die wie grün, gelb und braun gemusterte Teppiche wirkten, und unterschiedlich hohe, zumeist bewaldete Hügel zogen am Fenster des Wohnmobils vorbei. Getreideacker von unendlicher Größe erstreckten sich manchmal bis zum Horizont, nur durch kleinere Gruppen verschiedenartiger Bäume unterbrochen, welche den Vögeln einen Rastplatz und Schutz vor größeren Raubvögeln boten. Hier und da wurden vereinzelte Farmhäuser sichtbar. Doch im Großen und Ganzen hatte man den Eindruck verlassener Einöde.

Als die Reisenden schließlich in die Regionen nordöstlich von Redding gelangten, änderte sich das Bild der Landschaft. Dichte Wälder, mit Kräutern und wilden Blumen bewachsene Grasflächen und Steppen ähnliche Landschaften wechselten sich nun in unregelmäßigen Abständen ab. Phillip entdeckte ein paar Hinweisschilder, die zur nächsten Farm oder Ranch wiesen, und einigen Briefkästen, die auf Pfählen entlang der Straße aufgestellt waren. Er wurde jedoch das Gefühl nicht los, in eine menschenleere Gegend verschlagen worden zu sein. Selbst die gut ausgebaute Straße schien kaum befahren zu werden, denn innerhalb einer ganzen Stunde kam ihnen nicht ein einziges Fahrzeug entgegen.

Am Nachmittag erreichte das Paar endlich die Grenze einer Ortschaft. Dort stand es dann eine ganze Weile vor der bereits stark verwitterten Hinweistafel, auf welcher der Name ‚Oaktown‘ in verblassten Lettern zu lesen war. Ein Stückchen weiter in Richtung der ersten Häuser hatte man ein neues Ortsschild mit einem anderen Namen aufgestellt. Doch dieses fand momentan keine Beachtung.

„Da sind wir also“, stellte Elisabeth ein wenig atemlos fest. An etwas zu glauben, war eine Sache. Den realen Beweis dafür zu bekommen war jedoch eine völlig andere. „Mal sehen, wie es im Zwei-Seen-Tal und dem Dorf-am-See aussieht.“ Auf der aktuellen Landkarte waren sowohl das Städtchen als auch zwei Gewässer und eine winzige Ansiedlung in dem infrage kommenden Gebiet zu erkennen. Allerdings waren sie allesamt unter anderen Namen verzeichnet. Allein darum war sie sich bisher nicht sicher gewesen, ob und inwieweit sich ihre Erinnerungen auf reale Tatsachen stützten.

„Das wird sich bestimmt bald feststellen lassen“, erwiderte Phillip. „Mit einem schnellen und ausdauernden Pferd brauchte man etwa vier Stunden, und mit einem beladenen Fuhrwerk die doppelte Zeit, um dorthin zu kommen. Aber mit dem Auto wird es auf einer asphaltierten Straße sicher schneller gehen.“

Während Elisabeth den Wagen wieder startete, um anschließend durch Sunville zu fahren, schaute sich Phillip aufmerksam um. Es gab Straßen, da herrschte moderner Baustil vor, der eine geschäftsmäßig kühle Atmosphäre verströmte. Sie kamen aber auch durch ein Viertel, wo überwiegend alte Holzhäuser standen. Hier besaß jedes Gebäude eine breite Veranda vor der Eingangstür, von welcher ein oder zwei Stufen zum gepflasterten Gehweg hinunterführten. Sie unterschieden sich vom Baustil her kaum voneinander, wiesen jedoch viele verspielte Kleinigkeiten auf, die jedes einzelne von ihnen als ein individuelles Heim zu erkennen gaben. Selbst der Anstrich der hölzernen Fassaden wiederholte sich innerhalb eines Straßenzuges nicht ein einziges Mal, so als hätten die Bewohner peinlich darauf geachtet, jeder für sich, seinen ganz persönlichen Geschmack zum Ausdruck zu bringen. Alles wirkte sehr geschmackvoll und gediegen, denn man hatte ausschließlich Pastelltöne verwendet, was Wärme und Harmonie vermittelte. Außerdem war jedes freie Fleckchen Erde mit Blumenrabatten und verschiedenartigen Sträuchern bepflanzt worden. Und unter den meisten Bäumen, die in einigen Vorgärten wuchsen, waren Bänke und Tische aufgestellt, was zum Verweilen einlud.

Phillip wurde unvermittelt von den verschiedenartigsten Emotionen überfallen. Wären die Menschen nicht auf dieselbe moderne Art gekleidet gewesen, wie er und Elisabeth, es hätte so ausgesehen, als wäre die Zeit im Jahre achtzehnhundertsiebenundfünfzig einfach angehalten worden. Jede Straße, jeder Platz im alten Viertel von Sunville war ihm so vertraut, als wäre er erst gestern hier gewesen. Er schluckte hart, denn das Gefühl, nach Hause zu kommen, wurde immer mächtiger in ihm. Also betrachtete er erneut die Häuser, und meinte dann sogar den einen oder anderen Namen des jeweiligen Besitzers nennen zu können.

Elisabeth fuhr zunächst an den Straßenrand und machte dann den Motor aus. Vor ihnen öffnete sich nun ein großer runder Platz, dessen grasbewachsene Mitte durch eine kleine Gruppe alter Bäume beherrscht wurde. Rund um diese grüne Insel reihten sich kleine Geschäfte aneinander, deren Art bereits an den uralten Nasenschildern zu erkennen war, welche rechtwinklig von den Mauern abstehend über den Eingangstüren aufgehängt waren.

Phillip betrachtete das idyllisch anmutende Bild und musste unwillkürlich lächeln. So wie zu früheren Zeiten saßen nämlich auch heute einige Männer verschiedener Altersstufen vor den Räumlichkeiten des Friseurs, um sich auf der Veranda ein kühles Getränk schmecken zu lassen, darauf wartend, dass ihnen Bart oder Haupthaar wieder in die gewünschte Form gebracht wurden. Und die ‚Residenz‘ des Sheriffs wirkte genauso kahl, grau und einschüchternd wie eh und je.

Dass man die sogenannte Altstadt so belassen hatte, wie sie ursprünglich gewesen war, hatte einen ganz besonderen Grund. Aber das konnte Phillip zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Im Grunde hatte man aus dem ursprünglichen Oaktown eine Art Altstadtmuseum gemacht, wo weder moderne Hochhäuser noch Tankstellen oder gar mit Neonfarben beleuchtete Einkaufszentren gebaut werden durften. Diese mittlerweile unverzichtbaren Einrichtungen fand man nämlich erst ein ganzes Stück außerhalb des eigentlichen Wohngebietes auf einem eigens dafür freigegebenen Areal. Der Grund dafür war, dass das Städtchen mittlerweile in einem besonders geschützten Nationalpark lag, und dass man sich schon deshalb an gewisse Auflagen halten musste. Zudem hatte die Filmindustrie hier nicht nur eine ideale Kulisse für Abenteuer-und Wild-West-Filme gefunden, sondern auch einen perfekten Standort für ihre gesamte Crew. Unterkunft und Essen waren nicht teuer, aber meist hervorragend. Und da man in der Regel wie ein Gast der Familie behandelt wurde, kam man gerne wieder. Aber das waren nicht die einzigen Gründe. Die Menschen waren einfach stolz auf ihre ‚antike‘ Altstadt. Sie liebten die alten Dinge und pflegte sie sehr gewissenhaft, weil sie damit auch ihre Vergangenheit in Ehren hielten, die nicht immer einfach, dafür aber sehr aufregend gewesen war.

Elisabeth nahm die Bilder ebenso begeistert auf wie ihr Mann. Sie besaß jedoch keinerlei persönlichen Bezug zu dem Städtchen. Das hatte sie auch noch nie gehabt, denn in früheren, also zu Mathildas Zeiten hatte sie diesen Ort bewusst und sehr konsequent gemieden, erinnerte sie sich. Heute musste sie nicht mehr um die Sicherheit der eigenen Person fürchten. Dennoch wünschte sie sich jetzt an einen anderen Ort, weil ihr unvermittelt einfiel, wie engstirnig und kleinherzig die Bewohner von Oaktown ehemals gewesen waren.

Den inneren Groll beiseiteschiebend, denn das Ganze war schon furchtbar lange her und die Menschen von damals längst tot, nahm Elisabeth eine Flasche Wasser zur Hand, um ihren Durst zu stillen.

Phillip bemerkte unterdessen aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung und drehte sich zur Seite, um besser sehen zu können. Die kleine Gruppe balgender Jugendlicher, welche er jetzt vollständig überblicken konnte, rief augenblicklich Ärger in ihm hervor. Da kämpften nämlich vier größere Jungen gegen einen Einzelnen, der sich aus Leibeskräften wehrte. Dass der Kampf beinahe völlig lautlos ablief, machte deutlich, wie ernst die Sache war. Und so überlegte er gar nicht lange, sondern sprang aus dem Wohnmobil, um sogleich zu den Raufenden zu eilen.

„He, was soll das?“ Er packte den Jungen am Kragen, den man seiner Ansicht nach total unfair attackierte, und zerrte ihn aus dem Pulk heraus, um ihn anschließend beiseitezuschieben. Sich breitbeinig aufstellend, funkelte er gleich darauf die anderen verärgert an. „Wollt ihr ihn umbringen, oder was?“, fragte er streng. „Warum greift ihr ihn gemeinsam an? Ist ihm ein einzelner von euch nicht gewachsen? Oder seid ihr nur mutig, wenn ihr gemeinsam prügeln könnt?“

„Was wollen Sie denn?“, brüllte nun einer der Angreifer. „Wieso mischen Sie sich ein? Das geht Sie doch gar nichts an!“

„Doch, das tut es“, gab Phillip im angriffslustigen Tonfall zurück. „Ich kann es nämlich auf den Tod nicht ausstehen, wenn sich gleich mehrere auf einmal auf einen Einzelnen stürzen. Von einem fairen Kampf habt ihr wohl noch nie etwas gehört?“

„Das Halbblut hat ein Messer“, erwiderte der angesprochene Junge böse. „Passen Sie bloß auf, dass Sie nicht selbst abgestochen werden.“ Eine kurze Kopfbewegung genügte, um seinen verschreckten Komplizen begreiflich zu machen, dass sie dableiben sollten, während er sich mit provokativ verschränkten Armen so vor dem Fremden positionierte, dass es wie eine Herausforderung zum Kampf wirkte.

Phillip richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder auf den Indianerjungen, der immer noch etwas seitlich von ihm stand. Der Kleine mochte etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre zählen, konnte aber auch älter sein, vermutete er. Die schmächtige Gestalt in der alten und mehrfach geflickten, aber sauberen Kleidung wirkte trotz allem sehr selbstbewusst. Das schmale Gesicht mit den zusammengekniffenen Lippen war jetzt nur im Halbprofil zu sehen, weil der Junge seinen Gegnern feindselig anstarrte. Sein rabenschwarzes glattes Haar reichte bis zu den Schulterblättern hinunter und war im Nacken durch einen Lederriemen gebunden. Das erweckte jedoch keineswegs einen femininen Eindruck. Ganz im Gegenteil wirkte er in seiner gesamten Erscheinung wie der stolze Nachkomme eines spanischen Edelmannes.

Durch die Adern des Teenagers floss im Grunde nur sehr wenig Indianerblut. Allerdings hatte sich das genetische Erbe seiner Ur-Urgroßmutter so stark bei ihm durchgesetzt, dass er tatsächlich wie ein Vollblutindianer aussah. Ihn selbst störte das wenig, weil man ihn von früherster Kindheit an im Sinne der Gleichberechtigung und Gleichstellung erzogen hatte. Es gab jedoch immer noch Leute, die selbst im zwanzigsten Jahrhundert noch der Meinung waren, dass für jede Menschenrasse ein bestimmter Platz vorgesehen war, wo sie gefälligst zu bleiben hätte.

„Du wirst deine Abreibung schon noch bekommen“, zischte der Rädelsführer des Schlägertrupps angriffslustig in die Richtung seines Widersachers. „Glaub nur nicht, dass du einfach so davonkommst.“

Phillip wollte sogleich zu einer entsprechenden Erwiderung ansetzen. Er ließ es jedoch bleiben, als er das herablassende Grinsen bemerkte, welches nun auf den Lippen des Bedrohten lag.

„Wir werden sehen.“ Die erstaunlich tiefe Stimme stand im krassen Gegensatz zu dem sehr jugendlichen Äußeren des Sprechers. „Du bist doch nur stark, wenn du deine Jungs dabeihast. Für einen fairen Kampf Mann gegen Mann hast du doch ohnehin keinen Mumm.“ Damit entließ er seinen Gegner aus seinem Blick und wandte sich stattdessen seinem ungebetenen Helfer zu. „Danke, Mr. Aber Ihr Eingreifen war wirklich nicht nötig.“

Phillip fand sich von zwei strahlend blauen Augen taxiert und hielt überrascht die Luft an. Diese Färbung war bei einem Roten-Mann, ja, selbst bei einem Halbblut mehr als ungewöhnlich, dachte er überrascht. Er hatte schon viele Bilder von Indianern und Mischlingen gesehen. Aber so strahlend blaue Augen hatte er dabei noch niemals zu sehen bekommen. Stimmte nicht ganz, berichtigte er sich sofort selbst. Gesehen hatte er es schon. Allerdings nicht auf Bildern, sondern bei zwei quicklebendigen kleinen Jungen.

„Wer bist du?“, fragte er.

Der Gefragte starrte den fremden Mann nur wortlos an. Die schnelle Bewegung, die er gleich darauf machte, indem er sein Messer verschwinden ließ, war kaum wahrnehmbar.

„Den brauchen Sie gar nicht ansprechen“, höhnte einer der Raufbolde. „Der kann nur geschwollen reden. Glaubt, er wäre was Besseres.“

„Du bist nicht gefragt worden.“ Elisabeth war mittlerweile auch ausgestiegen, um die Situation besser überblicken und einschätzen zu können. Daher stand sie nun direkt neben ihrem Mann. Ihre Miene verriet nichts über die Gedanken, die durch ihren Kopf rasten. Auch war sie innerlich keineswegs so gelassen, wie sie nach außen hin wirkte. Anfangs hatte sie gefürchtet, das Handgemenge würde ausarten und Phillip würde ernsthaft verletzt. Als sie dann aber den Indianerjungen näher zu sehen bekam, war sie zunächst total perplex gewesen, sodass sie einige Sekunden gebraucht hatte, um sich zu fangen.

Der Pöbler zuckte unterdessen bloß mit den Schultern und gab seinen Kumpanen ein Zeichen, damit sie ihm folgen sollten.

Der Indianerjunge hingegen verzog keine Miene, während er der Gruppe nachsah, die sich nun im provokant langsamen Tempo entfernte. Insgeheim ein wenig enttäuscht, weil man ihn daran gehindert hatte, sich gegen die Angreifer zu behaupten, taxierte er anschließend die beiden Fremden. Sie kamen ihm bekannt vor, dachte er verwundert. Er konnte jedoch nicht genau sagen, warum das so war.

„Wer sind Sie überhaupt?“, wollte er wissen. „Und warum mischen Sie sich in Dinge ein, die Sie gar nichts angehen?“

„Auch wenn mein Mann sich ungebeten eingemischt hat, wäre ein höflicher Dank angebracht“, erwiderte Elisabeth im vorwurfsvollen Tonfall. „Phillip hat nur gemeint, einem vermeintlich schwächeren Menschen helfen zu müssen, als er in die Schlägerei eingegriffen hat.“

„Ich brauche solche Hilfe nicht“, gab der Junge arrogant zurück. „Ich kann mich nämlich hervorragend allein wehren. Schließlich verprügelt niemand einen Harper ungestraft. Und wenn Sie nicht eingegriffen hätten, dann hätten meine Gegner jetzt einige Löcher in ihrer Haut“, sagte er an Phillip gewandt. „So sieht’s in Wirklichkeit aus.“

Elisabeth starrte den sichtlich aufgebrachten Teenager für einen Moment lang total verblüfft an. Doch dann lachte sie laut auf und trat spontan näher an ihn heran, mit der Absicht, ihm die Hand zum Gruß reichen zu wollen. Allerdings wurde sie nahezu augenblicklich von der Spitze eines Messers bedroht, was sie umgehend innehalten ließ.

Auch wenn es nach außen hin so wirkte, als würde sie aus Furcht zögern, hatte Elisabeth keine Angst vor ihrem Gegenüber. Dennoch ließ sie ein gehöriges Maß an Vorsicht erkennen, während sie nun langsam beide Hände hob, um seine Messerhand zu ergreifen und langsam auf und ab zu bewegen.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Mister. Harper“, sagte sie heiter.

Phillip hatte zwar den Namen registriert, musste jedoch erst einmal seinen Schrecken überwinden. Dass man seine Frau derartig aggressiv bedrohte, fand er nicht lustig. Dem Bengel gehörte ganz gewaltig der Hintern versohlt. Jawohl! Auch wenn er sonst absolut gegen Gewalt war, wollte er den Kleinen jetzt am liebsten …

Mit einem Mal ging Phillip auf, dass die vermeintliche Drohgebärde des Teenagers im Grunde bloß ein reflexartiges Abwehrverhalten darstellte, welches allein vom Impuls des Selbsterhaltungstriebes ausgelöst wurde. Und mit dieser Erkenntnis überfiel ihn jäh eine alte Erinnerung an eine nahezu identische Situation. Mat hatte in der gleichen Weise auf vermeintliche körperliche Angriffe reagiert, stellte er im Stillen für sich fest. Und wenn man es genau betrachtete, dann hatte der jugendliche Mr. Harper – mal abgesehen von seinem dunklen Teint – nicht nur verdammt viel Ähnlichkeit mit dem vermeintlichen Jungen von damals. Er war genauso schnell im Umgang mit dem Messer, wie es Mat alias Mathilda gewesen war. Es gab daher nur eine vernünftige Erklärung für dieses Phänomen. Dem Aussehen und dem Verhalten nach war der selbstgefällige Kampfhahn vor ihm eindeutig ein Nachkomme der Harpers, die sich und den Indianern in der Wildnis eine neue Heimat geschaffen hatten.

Der Ansturm seiner Gedanken und der Gefühle, die daraufhin folgte, schien Phillips Kopf sprengen zu wollen, sodass er hörbar Atem holte. Als er sich jedoch bewusst wurde, dass seine Frau ihn zutiefst besorgt musterte, zwang er sich zu einem Lächeln.

„Ich habe nur ein bisschen Kopfweh“, versuchte er abzuwiegeln.

Elisabeth war nicht wirklich beruhigt, schob ihre Sorge um ihren Mann aber vorerst beiseite.

„Mein Name ist Elisabeth“, stellte sie sich dem Indianerjungen vor. „Und das ist mein Mann Phillip. Wir suchen das Dorf-am-See. Aber wir wissen nicht genau, welche Straße wir von hier aus nehmen müssen.“ Das war gelogen, gestand sie sich ein. Sie wusste nämlich ganz genau, in welche Richtung sie sich wenden musste. Dennoch wollte sie Mr. Harper Junior nicht so schnell wieder gehen lassen. „Kannst du uns vielleicht helfen? An welcher Kreuzung müssen wir abbiegen? An der Ersten oder an der Zweiten?“

Der Gefragte schien zunächst eine spontane Antwort formulieren zu wollen, hielt dann jedoch inne, um die beiden Fremden ein weiters Mal eingehend zu mustern. Dass ihm die Frau auf so unheimliche Weise vertraut war, als kenne er sie schon eine Ewigkeit, konnte er sich immer noch nicht erklären. Was er aber am wenigsten begreifen konnte, war die Tatsache, dass sie ihre Fragen in der alten Sprache, also einem mittlerweile fast vergessenen Indianerdialekt stellte. Dass er sie verstand, lag bloß daran, dass seine Lehrerin ihn immer wieder gedrängt hatte, die fremdartigen Worte zu lernen, weil es genauso ein Erbe seiner Vorfahren sei, wie das Land, auf welchem er lebte.

„Die erste“, antwortete er endlich. „Sie müssen an der ersten Kreuzung nach rechts.“ Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da wurde seine Verwunderung durch tiefstes Misstrauen ersetzt. Sie waren Touristen, das war ganz offensichtlich. Und sie waren nicht viel anders, als die vielen Tausend, die sich alljährlich Sunville ansahen, um später erzählen zu können, sie wären am Drehort eines bestimmten Films gewesen. Aber warum fragten sie nach dem Dorf-am-See? „Wieso wollen Sie dorthin?“, fragte er.

„Wir wollen uns nur ein wenig umsehen“, erwiderte Elisabeth bereitwillig. „Es ist sehr wichtig für uns.“

„Da gibt es nicht viel zu sehen“, winkte er ab. „Es leben nur noch ein paar Greise dort. Außer ein paar alte, ziemlich schäbig wirkende Blockhütten und paar freilaufende Pferde gibt’s da nichts weiter.“

Elisabeth hatte zunächst gestutzt, weil ihr plötzlich die unterschwellige Feindseligkeit ihres Gegenübers bewusst geworden war. Ein wenig konsterniert, weil sie absolut keinen Grund dafür erkennen konnte, biss sie sich kurz auf die Unterlippe.

„Lebst du auch dort?“, wollte sie dann wissen.

„Nein“, erwiderte er knapp.

„Wie heißt du mit vollem Namen?“, bohrte sie.

„Wollen Sie einen kompletten Lebenslauf von mir, oder was?“, fuhr er auf. Als der fremde Mann daraufhin in ein lautes und überaus erheitertes Gelächter verfiel, warf er ihm einen bitterbösen Blick zu. Dabei presste er verärgert die Lippen so fest aufeinander, dass sein Mund wie ein schmaler weißer Strich anmutete.

„Wäre nicht schlecht“, antwortete Elisabeth amüsiert. „Aber den wirst du uns kaum freiwillig liefern, nicht wahr?“ Die kleinen Puzzleteile, die sich nach und nach zusammenfügten, rundeten das Gesamtbild immer mehr ab. Und je klarer das Bild wurde, umso sicherer war sie sich, dass man sie aus einem ganz bestimmten Grund hierher gelotst hatte.

„Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt weiter“, sagte der junge Indianer in ihre Gedanken hinein. „Wenn ich mich jetzt nicht beeile, kann ich die Nacht hier auf der Straße verbringen.“

Elisabeth nickte leicht. Doch bevor er sich tatsächlich aus dem Staub machen konnte, hielt sie ihn zurück, indem sie spontan seinen Arm packte und ihn so auf der Stelle festhielt.

„Wie wäre es, Mr. Harper, wenn du mit uns fährst?“, schlug sie vor. „Du könntest uns den Weg zeigen. Und wir bringen dich dafür nach Hause.“

Der Junge musterte sie einen Augenblick lang sehr eingehend. Dann sah er kurz auf seine billige Armbanduhr und entschied spontan, dass es ein hervorragender Vorschlag sei. Selbst wenn er jetzt Weltrekord laufen würde, könnte er es nicht mehr rechtzeitig bis zur Bushaltestelle schaffen. Also nickte er zum Einverständnis.

„Aber Sie werden mich unterwegs absetzen müssen“, erklärte er, wobei er auch schon in das Wohnmobil stieg. „Ich lebe nämlich nicht im Dorf-am-See, sondern im Haus einer Bekannten. Es wäre sonst zu weit bis zur Schule.“ Damit quetschte er sich zwischen den Vordersitzen hindurch nach hinten, um sich dort einen Sitzplatz zu suchen.

Die beiden Erwachsenen tauschten verwunderte Blicke und folgten ihm dann ins Wageninnere.

„Wo sind denn deine Eltern?“, fragte Phillip interessiert, während er sich auf dem Beifahrersitz anschnallte.

„Hab’ keine mehr.“ Dem Teenager war deutlich anzusehen, dass ihm das Verhör allmählich zu viel wurde. „Sind letztes Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen“, setzte er nach, als er den zutiefst betroffenen Blick des Mannes im Rückspiegel bemerkte. Gleich darauf starrte er aus dem Fenster, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen, die sich ihm jetzt aufzwingen wollten. Das Gefühl der Einsamkeit tat unerträglich weh. Und die Sehnsucht nach den beiden Menschen, die er über alles geliebt hatte, wollte ihn immer noch in Stücke reißen, sobald er sich bewusst wurde, dass er sie nie wieder in seine Arme schließen konnte.

Elisabeth brauchte einen Augenblick, um diese Information zu verdauen. Am Ende ließ sie ihrem Mann einen wehmütigen Blick zukommen und schnallte sich dabei ebenfalls fest. Dann fuhr sie langsam an. Dem Straßenverlauf folgend schwieg sie beharrlich, wohl wissend, dass ihr Fahrgast ohnehin keine Antwort auf die vielen Fragen geben würde, die ihr nun auf der Seele brannten.

Die Windungen der Fahrbahn waren immer noch dieselben, stellte Elisabeth nach einer Weile fest. Der einzige Unterschied bestand darin, dass man die ehemals staubige Wagenspur, über welche einst Postkutschen und Planwagen gerumpelt waren, durch eine Asphaltdecke ersetzt hatte. Die unterschiedlich großen Schlaglöcher darin verrieten jedoch, dass man lange nichts mehr getan hatte, um die Verbindung der sogenannten Außenposten, die abseits der Autobahnen und Schnellstraßen lagen, mit der Stadt instand zu halten.

„Warum habt ihr euch überhaupt geprügelt?“, unterbrach sie nach einer Weile das drückende Schweigen, welches sich im Wageninneren breitgemacht hatte.

„Weil ich besser in der Schule bin, als sie“, erwiderte der Gefragte im gleichmütig klingenden Tonfall. „Sie können es nicht abhaben, dass ein Indianer besser ist, ganz gleich in welcher Beziehung.“ Während er sprach, musterte er das Profil der Fremden, nur um den Blick schnell abzuwenden, sobald sich ihre Blicke im Rückspiegel kreuzten. Er wusste selbst nicht warum, aber ihr leichtes Lächeln brachte ihn vollkommen durcheinander. Außerdem hatte sie eine komische Art einen anzusehen, stellte er im Stillen für sich fest. Als ob sie einem bis ins Innerste gucken wollte.

Elisabeth versuchte in der Tat, die Gedankengänge ihres jugendlichen Mitfahrers auf telepathischem Weg zu entschlüsseln. Da sie aber noch nicht geübt darin war, ihre neu entdeckte Fähigkeit anzuwenden, gab sie es am Ende auf, in der Hoffnung, demnächst auf andere Weise erfahren zu können, was sie wissen wollte.

Cassandras Bestimmung

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