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Elisabeth war nach der mehrstündigen Operation ihres Mannes sofort an sein Bett geeilt, um da zu sein, wenn er die Augen wieder aufschlug. Weil er dies jedoch sehr lange nicht tun wollte, war sie neben seinem Bett auf einem Stuhl sitzend eingedöst. Doch dann war sie mit rasendem Puls hochgeschreckt und hatte gemeint, da wäre jemandem ganz nahe an sie herangetreten. Da sich in diesem Augenblick aber weder der zuständige Krankenpfleger noch der Stationsarzt im Raum befanden, schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Jetzt sah sie schon Gespenster, dachte sie voller Selbstironie. Dabei war da niemand außer ihr und Phillip.

Nein, das stimmt ja gar nicht, stellte Elisabeth gleich darauf fest. Da war eine kleine, unscheinbar wirkende Krankenschwester, die gerade eine neue Infusion in Phillips Vene einlaufen ließ. Dabei handelte es sich vermutlich um das Schmerzmittel, welches in regelmäßigen Abständen verabreicht wurde, damit der Operierte sich nicht quälen musste.

Dass sie eingeschlafen war, verwunderte Elisabeth keineswegs, denn sie hatte einen sehr langen Tag und zudem eine Menge Aufregung hinter sich. Aber etwas Anderes war durchaus bemerkenswert. Sie hatte geträumt. Und das war eine höchst merkwürdige Sache gewesen, weil ihr Schlaferlebnis wie ein langer und sehr detailreicher Film gewirkt hatte. Ein fantastischer Film sozusagen. Aber trotzdem so real erscheinend, als handele es sich dabei um die chronologische Abfolge eines kompletten, längst vergangenen Lebens. Am Ende war sie sogar geflogen, erinnerte sie sich. Wie ein Vogel. Aber nicht allein. Vielmehr war es ihr so vorgekommen, als wäre sie an der Seite eines anderen Geschöpfes durch die Luft geglitten, mit dem sie sich tief verbunden fühlte. Es war sogar gesprochen worden. Und sie war sehr besorgt gewesen, weil der Flug nicht enden wollte und sie genau gewusst hatte, dass das nicht ohne Gefahr war. Und dann … Ihr unsichtbarer Begleiter war plötzlich nicht mehr zu spüren gewesen, sodass sie für die gefühlte Dauer einer Ewigkeit allein und vollkommen orientierungslos herumwirbelte. Am Ende war eine wunderschöne Lichtgestalt an ihrer Seite aufgetaucht und hatte sie an die Hand genommen, um sie ins Krankenhaus zurückzubringen. Dort hatte sie sich dann neben ihrem zusammengesunkenen Körper wiedergefunden und war sogleich in diesen eingetaucht.

Ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Schlafenden richtend, setzte sich Elisabeth seufzend zurecht. Seit über zehn Stunden lag Phillip nun hier, rührte jedoch keinen Finger. Dabei hatte ihr der Stationsarzt während der Morgenvisite versichert, dass sein Patient eigentlich über die Krise hinweg sei. Es gäbe weder ein Hinweis auf erneute Blutungen noch einen anderen Grund dafür, warum er nicht aufwachen könnte. Alle Werte wären in bester Ordnung, was nach einem solch komplizierten Eingriff sehr positiv zu bewerten sei. Warum er trotzdem nicht zu sich kommen wollte, sei daher nicht wirklich nachvollziehbar.

Elisabeth fixierte das Gesicht des Schlafenden, so als würde sie ihn anhand der Kraft ihres Blickes in die Wirklichkeit zurückholen wollen. Sie konzentrierte sich dabei so sehr auf ihren Wunsch, dass sie das Hinausgehen der Krankenschwester gar nicht wahrnahm. Als sie schließlich realisierte, dass ihr Mann allmählich wach wurde, musste sie an sich halten, um nicht laut zu jubeln. Sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, blieb sie still sitzen, um ihm ausreichend Zeit zu geben, damit er vollends wach wurde.

Phillip war nach wie vor noch etwas benebelt und sah sich entsprechend unsicher um. Der Anblick des für ihn völlig fremden Raumes beunruhigte ihn, obwohl er sich merkwürdigerweise im Klaren darüber war, dass er aus gutem Grund in einem Krankenhausbett lag. Trotzdem war ihm das Flimmern, welches in den Farben des Regenbogens an den hellen Wänden auf und ab raste, ebenso unangenehm, wie die grellen Lichter, die über seinem Kopf ständig an und ausgingen.

Sobald Phillips Blick auf die Frau traf, die neben seinem Bett saß, stutzte er sichtlich. Er wusste, er hatte sie zuvor schon mehrfach gesehen und wahrscheinlich auch mit ihr gesprochen. Aber kennen tat er sie nicht. Und einen Namen konnte er ihr auch nicht zuordnen. Sie war schön, ja. Ein Engel hätte nicht schöner sein können. Allein ihr Anblick bescherte ihm eine tiefe Sehnsucht, die so intensiv war, dass es ihm vorkommen wollte, als würde man ihm jeden Augenblick das Herz aus dem Leibe reißen. Aber wer war sie?

Beim Grübeln über seine letzte Frage, und betäubt durch das starke Schmerzmittel, dämmerte Phillip wieder ein.

Elisabeth indes stand zögernd auf, um zu gehen. Ihr Mann war in den besten Händen und würde bestimmt nicht wieder ins Koma fallen. Aber sie musste jetzt endlich in ein richtiges Bett und schlafen, ermahnte sie sich. Seit dem Zwischenfall im Flugzeug waren fast zwanzig Stunden vergangen, die sie erst wartend und dann an seinem Bett wachend verbracht hatte. Es würde schließlich niemandem nützen, wenn sie vor Erschöpfung zusammenklappte.

*

Phillip brauchte nicht lange, um sich körperlich zu erholen. Doch sein Geist war immer noch zutiefst verwirrt und konnte anfangs selbst alltägliche Abläufe nicht wirklich nachvollziehen. Dazu kam, dass man ihn meist nur irritiert ansah und bedauernd den Kopf schüttelte, wenn er den Mund aufmachte, um etwa zu sagen. Dabei verstand er die Rede des Arztes und des Pflegepersonals ohne Probleme. Als er schließlich realisierte, dass er noch nicht einmal wusste, wer er eigentlich war, begann er zu glauben, dass er den Verstand verloren hätte. Immer wieder zermarterte er sich das Hirn darüber, warum ihm der Name, mit dem man ihn ständig ansprach, so fremd in den Ohren klang, als gehöre er zu einer anderen Person. Er kam jedoch zu keinem Ergebnis. Wenn sich dann aufgrund seiner angestrengten Grübelei die gefürchteten Schmerzattacken einstellten, musste er sich gewaltsam zusammenreißen, um nicht zu schreien.

Elisabeth indes konnte bloß zuschauen, denn es gab nichts, was sie hätte tun können.

„Du bist meine Gefährtin, nicht wahr?“ Phillip wusste selbst nicht, wie er zu dieser Feststellung gekommen war. Aber sie war plötzlich in seinem Kopf gewesen, sodass er gar nicht groß überlegt, sondern einfach drauflos geplappert hatte. Als sie daraufhin zustimmend nickte, war er dann doch ein wenig perplex. Die Stirn in tiefe Falten gelegt betrachtete er sie nun noch ein wenig genauer und entschied am Ende, dass sie wohl schon lange zu ihm gehören musste. Dennoch konnte er sich beim besten Willen nicht an ihren Vornamen erinnern. Sie war das Gegenstück seines Herzens. Da war er sich mittlerweile ganz sicher, denn die tiefe Zärtlichkeit, die er bei ihrem Anblick empfand, konnte nur auf Liebe basieren. Aber welchen Namen trug sie jetzt? Sie hatte mittlerweile so viele gehabt, dass es schwerfiel, sich an jeden einzelnen zu erinnern.

Wieder meinte Phillip, er sei nun am Durchdrehen, denn die Gedanken, die ihm gerade durch den Kopf geschossen waren, klangen selbst für ihn so abwegig und irre, dass sie keinem gesunden Menschenverstand entspringen konnten. Die Lippen verbittert aufeinanderpressend, wollte er den Kopf abwenden. Das gelang ihm jedoch nicht, weil die Frau seine Wangen mit den Händen umfing und somit die Bewegung vereitelte. Gleichzeitig schienen ihre strahlend blauen Augen bis auf den Grund seiner Seele schauen zu wollen.

Elisabeth wusste genau, was in ihrem Mann vorging. Dennoch fand sie sich zunächst außerstande, ihm mit Worten zu helfen. Zumindest nicht auf Anhieb, denn die seltsam klingende Sprache, die er seit seinem Aufwachen gebrauchte, war ihr nicht geläufig. Seltsamerweise hatte sie ihn aber schon von Beginn an so gut verstanden, als hätte er Deutsch mit ihr geredet. Zudem kreisten seit ihrem merkwürdigen Traum Bilder und Gedanken in ihrem Kopf herum, die noch seltsamer waren. Auch wenn sie sich mittlerweile sicher war, dass ihr Verstand noch genauso rational und zuverlässig funktionierte, wie früher, hatte sie das Gefühl, sich gleich an mehrere Menschenleben zurückerinnern zu können. Am deutlichsten an eines, dass sie im Laufe des vergangenen Jahrhunderts bei einem Indianerstamm im Nordosten Kaliforniens verbracht hatte. Als wäre es erst ein paar Tage her, dass sie mit ihrer Familie und ihren Freunden Glück und Unglück geteilt hatte. Selbst die außergewöhnlichen Erlebnisse mit ihrem damaligen Gefährten, der eine besondere Gabe besessen hatte, standen ihr jetzt so deutlich vor Augen, dass sie keinesfalls einer ausufernden Fantasie entsprungen sein konnten.

Obwohl sie früher kaum Interesse an den esoterischen Theorien gehabt hatte, die sich mit dem menschlichen Karma und der Reinkarnation befassten, war Elisabeth mittlerweile überzeugt, dass sie zu den Menschen gehören musste, deren Seelen ein ums andere Mal wiedergeboren wurden. Warum es gerade sie getroffen hatte, konnte sie sich jedoch nicht erklären. Auch die Frage, aus welchem Grund sie ausgerechnet jetzt damit begann, sich an vorangegangene Existenzen zu erinnern, konnte sie nicht auf Anhieb beantworten. Allerdings war das auch nicht weiter tragisch, denn es machte im Grunde überhaupt keinen Unterschied, ob es früher oder später passiert war. Na ja, vielleicht doch. Wäre ihr das alles früher widerfahren, hätte sie sich bestimmt weit intensiver mit gewissen Dingen beschäftigt und jetzt nicht solche Schwierigkeiten damit, alles so zu verstehen, wie sie es vermutlich sollte. Aber zum Glück war sie eine ziemlich wissbegierige Frau und schon immer sehr daran interessiert gewesen, sich über neue Erkenntnisse zu informieren, die in allen Bereichen der Wissenschaft gewonnen wurden. Auch wenn für sie ein Studium an einer Universität nie infrage gekommen war, hatte sie sich im Laufe ihres Lebens doch ein ziemlich umfangreiches Allgemeinwissen angeeignet. Dank gut sortierter Bibliotheken und moderner Kommunikationstechnik war das gar keine große Sache. Selbst wenn man eine Familie und ein Haus versorgen musste, blieb immer noch Zeit genug, um sich weiterzubilden. Wenn man darüber hinaus auch noch bereit war, selbst nicht bewiesene Theorien als eine mögliche Tatsache zu akzeptieren, konnte das dazu führen, dass man die Schöpfung in ihrer gesamten Vielfalt mit anderen Augen betrachtete und dabei Erkenntnisse gewann, für die man zuvor blind und taub gewesen war. Es gab schließlich mehr zwischen Himmel und Erde als der menschliche Verstand zu begreifen imstande war, oder die Wissenschaftler erklären konnten. Selbstverständlich wusste sie, dass sie ihre derzeitige Überzeugung nicht laut äußern durfte, wollte sie nicht für übergeschnappt erklärt und in eine Gummizelle gesperrt werden. Auch Phillip konnte sie vorerst nicht davon erzählen, weil er noch zu krank war. Sein Gehirn hatte immerhin ein schweres Trauma erlitten, nachdem das Aneurysma geplatzt und der Druck in seinem Schädel lebensbedrohlich stark angestiegen war. Zum Glück hatten alle so schnell reagiert, dass man keine Spätschäden befürchten musste. Dennoch durfte sie ihn nicht überfordern, indem sie ihn drängte oder von Dingen sprach, die er derzeit nicht verstehen konnte. Er brauchte Zeit, um sich wieder in seinem gewohnten Alltag zurechtzufinden. Alles andere würde man später klären.

Elisabeth streichelte die blassen Wangen ihres Mannes und fühlte dabei ihr Herz schwer gegen ihre Rippen pochen. Dann beugte sie sich noch ein wenig tiefer über ihn, um ihn zu küssen.

Phillip empfand die Berührung ihrer Lippen wie den Flügelschlag eines Schmetterlings. Langes weiches Haar streichelte seine Haut, weil es nun sein Gesicht bedeckte. Der Geruch, der daraus entströmte, erinnerte ihn an eine Sommerwiese, deren Blütenpracht einzig und allein dazu bestimmt war, diesem herrlichen, kupferfarbenen Schopf seinen Duft zu verleihen.

Erfüllt von Wärme und Freude über die angenehmen Gefühle, seufzte Phillip leise. Als er jedoch merkte, dass sich seine Frau wieder aufrichten wollte, hob er augenblicklich eine Hand, um ihren Kopf festzuhalten. Er wollte, dass dieser einzigartige Moment anhielt. Er wollte auch, dass sie für immer und ewig so nahe bei ihm blieb. Doch am Ende ließ er sie voller Bedauern gehen, weil ihr Zittern verriet, wie unbequem ihre Körperstellung für sie sein musste. Da ihre Handflächen jedoch weiterhin seine Wangen bedeckten, schaute er zu ihrem Gesicht hinauf.

Die Liebe, die Phillip nun in den strahlend blauen Augen seiner Frau erkannte, löste endlich den wirren Knoten, der seinen Geist gefangen hielt. Elisabeth. Ja, so hieß sie jetzt. Endlich erinnerte er sich. Sie hatten im Flugzeug gesessen, weil sie nach Kalifornien wollten. Aber dann war der Flieger über dem amerikanischen Bundesstaat Nevada in ein sogenanntes Luftloch geraten und ohne Vorwarnung abgesackt. Danach hatte er Kopfschmerzen bekommen und war schließlich in eine Ohnmacht hinüber gedriftet, sodass er weder etwas wahrnehmen noch auf etwas reagieren konnte. Dass man ihn vom notgelandeten Flugzeug aus direkt in einen Helikopter verfrachtet und in das nächstgelegene Krankenhaus gebracht hatte, war ihm von dem Doktor berichtet worden, der gleich nach seinem Aufwachen mehrere Reaktionstests mit ihm durchführte. Von diesem Weißkittel hatte er auch erfahren, dass man ihm ein Loch in den Schädel gesägt und eine geplatzte Ader in seinem Hirn geflickt hatte. Allein darum wäre er auf einer Seite kahl rasiert und der Verband um seinen Kopf nötig. Nun, eitel war er noch nie gewesen, denn es gab Wichtigeres.

„Hallo mein Herz.“ Zum ersten Mal, seit er aus seiner Besinnungslosigkeit aufgewacht war, gebrauchte Phillip die deutsche Sprache, was ihm selbst jedoch gar nicht auffiel.

Elisabeth ließ sich unterdessen auf seine Brust sinken, unfähig, sich weiter in dieser leicht gebückten Körperstellung zu halten. Dabei füllten sich ihre Augen zusehends mit heißen Tränen der Erleichterung.

„Endlich“, hauchte sie kaum hörbar. „Ich hatte solche Angst, dass … Aber jetzt ist alles wieder gut.“

*

Eine Woche nach der Operation konnte Phillip aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er solle sich schonen, gab man ihm mit auf den Weg. Vor allem solle er jede Art von Aufregung meiden, die seinen Blutdruck erhöhen könnte. Außerdem müsse er sich sofort bei einem Arzt oder in einem Krankenhaus vorstellen, wenn die Schmerzmittel nicht mehr griffen, oder bestimmte Symptome auftreten würden.

Elisabeth hatte mittlerweile den Mietwagen abgeholt, denn die ursprünglich geplante Reise quer durch Kalifornien konnte jetzt doch noch angetreten werden, wenn auch in leicht verkürzter Form. Sie wollte jedoch nicht am selben Tag aufbrechen, weil es bereits später Nachmittag war. Allerdings gestaltete sich die erste gemeinsame Übernachtung außerhalb der Klinik anfangs ein bisschen frustrierend, denn beiden fiel es schwer, die Hände voneinander zu lassen. Allein ihrer Willensstärke war es letztlich zu verdanken, dass Phillip seufzend aufgab.

„Du bringst mich um den Verstand, Frau“, murmelte er heiser. „Wie soll ich denn kühlen Kopf bewahren, wenn ich nichts sehnlicher begehre, als deine Umarmung?“ Er hielt sie eng an sich gepresst und kämpfte dabei um seine Beherrschung.

„Das ist zwar sehr schmeichelhaft für mich, Mann“, erwiderte sie. „Aber dein Leben ist mir wichtiger als einige lustvolle Augenblicke. Wenn du wieder völlig gesund bist, werden wir noch genügend Zeit dafür haben.“

Dass sie ihm in derselben Sprache antwortete, in der er die Worte an sie gerichtet hatte, überraschte Phillip so sehr, dass er sie offenen Mundes anstarrte. Und mit einem Mal ging ihm auf, dass das nicht zum ersten Mal geschehen war. In den vergangenen beiden Tagen war es nämlich schon einige Male passiert, ohne dass er diesem Umstand eine Bedeutung beigemessen hätte, erinnerte er sich nun. Er war so sehr mit der eigenen misslichen Lage beschäftigt gewesen, dass ihm das sonderbare Verhalten seiner Frau gar nicht weiter aufgefallen war. Doch nun sah er sie prüfend an und war wiederum irritiert, weil sie so tat, als wäre gar nichts Besonderes geschehen. Allein das Lächeln auf ihren Lippen verriet, dass sie genau zu wissen schien, was er gerade dachte.

„Ich wusste gar nicht, dass du eine Indianersprache beherrschst“, brachte er endlich hervor.

„Das wusste ich bis vor ein paar Tagen selbst nicht“, gestand sie.

Phillip meinte nun, jemand hätte seinen Kopf genommen und sein Hirn zu Mus geschüttelt, denn er verstand plötzlich gar nichts mehr. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass während seiner Operation etwas sehr Merkwürdiges mit ihm passiert war. Er hatte sich während seines Narkoseschlafes in einer Welt wiedergefunden, die urtümlich, wild und höchst aufregend gewesen war. Zudem hatte es so ausgesehen, als ob er ein sehr aktives Teil einer fantastischen Geschichte wäre. Am Ende hatte er sich dann außerhalb seines Körpers wiedergefunden und dabei sehr eigenartige Dinge erlebt. Und nicht nur das! Da waren auch Gedanken und Bilder durch seinen Verstand geschossen, die vollkommen irreal angemutet hatten, weil ihm eine Welt offenbart worden war, die tatsächlich wie aus einem Fantasyfilm zu stammen schien.

„Ich dachte … Ich … Es war doch nur ein Traum.“ Seine Stimme klang heiser und seinem Gesicht fehlte es plötzlich an Farbe.

„Nein“, erwiderte Elisabeth nach kurzem Zögern leise. „Ich denke nicht, dass es ein Traum gewesen ist. Es sieht vielmehr so aus, als hätte dein Hirn aus allem, was du bisher gesehen und gelernt hast, eine schöne Geschichte zusammengestellt, um den Stress abzumildern, der dich nach dem Zwischenfall fest im Griff hatte.“ Das war eine Erklärung, die nicht unbedingt ihren neuesten Erkenntnissen entsprach, die aber für ihn leichter zu akzeptieren war, weil sie nicht zu fantastisch klang. Ihre eigentliche Meinung dazu würde sie ihm mitteilen, sobald sie sicher sein konnte, dass er sie anschließend nicht in die Klapsmühle einweisen ließ, entschied sie.

Phillip wusste, seine Frau hatte recht. Dennoch konnte er ihr nicht wirklich zustimmen. Vor allem deshalb nicht, weil es da etwas gab, was er nicht auf Anhieb begreifen konnte.

„Ich … Du weißt, was in meinem Kopf vorgegangen ist?“, fragte er mit einem Mal sehr verunsichert. „Kannst du dich etwa in mein Hirn einklinken?“

„Nein.“ Elisabeth lachte verhalten. „Ich kann nicht einfach so in deinen Verstand eintauchen und darin herumrühren. Aber ich kenne fast alle deine Geheimnisse und Eigenarten, weil du schon immer alles mit mir besprochen und geteilt hast.“ Das war nicht ganz richtig. Aber auch für diese Offenbarung war er noch nicht bereit. Sie selbst war ja auch ziemlich irritiert gewesen, als sie drei Tage zuvor realisiert hatte, dass sie tatsächlich seine Gedanken entschlüsseln und seine Erinnerungen mit ihm teilen konnte. Allerdings hatte sie danach schnell begriffen, dass das nicht nur an der sehr engen Bindung zwischen ihnen lag, sondern an ihrer telepathischen Begabung. Nun, sie hatte dieses Talent mittlerweile akzeptiert und auch mehrfach bei ihm und den Pflegekräften ausprobiert. Er hingegen würde wahrscheinlich mit Schock auf eine derartige Eröffnung reagieren. Zudem musste er sehr behutsam darauf vorbereitet werden, dass auch er möglicherweise eine außergewöhnliche Gabe besaß. „Auf deine Sprach-und Geschichtskenntnisse warst du schon immer sehr stolz“, fuhr sie fort. „Und dein Wunsch, einmal für ein Weilchen wie ein Trapper im wilden Westen zu leben, begleitet uns schon seit unserer Hochzeit. Darum denke ich, dass sich dein Geist während der OP mit Dingen beschäftigt hat, die angenehmer waren. Das ist alles.“ Wenn er wieder völlig gesund war, würde sie ihre neuesten Entdeckungen mit ihm teilen. Aber jetzt noch nicht. Nicht, solange er so geschwächt und unsicher war.

Im Laufe der vergangenen Tage war Elisabeth auch noch zu anderen Erkenntnissen gelangt. Doch das waren Geschichten, die sie derzeit gar nicht zur Sprache bringen wollte, weil es ihren Mann in der Tat vollkommen überfordert hätte. Dass sie zusammengehörten, so wie es ein paar gleicher Schuhe taten, war schon lange klar. Aber dieser Umstand beschränkte sich offenbar nicht nur auf ihre aktuelle Partnerschaft. Vielmehr sah es so aus, als wären sie schon sehr lange durch ein besonderes Band miteinander verbunden. Auch schien ihr der exotisch klingende Name ‚Safyra‘ so normal und vertraut, als wäre es tatsächlich ihr eigener. Außerdem meinte sie, nicht nur die Erfahrungen und das Wissen aus früheren Existenzen in sich zu tragen, sondern auch noch etwas Anderes, was sie derzeit nicht benennen konnte. Es fühlte sich manchmal so an, als wäre ihre Seele keine singuläre Einheit, sondern aus mehreren Teilen zusammengesetzt. Sicher, das klang jetzt wirklich total irre. Und doch … Es fühlte sich manchmal so an, als wäre da noch jemand, der hin und wieder Einfluss auf ihre Entscheidungen nahm.

Phillip kämpfte unterdessen mit einem riesigen Kloß, der ihm die Kehle zuschnürte. Seine Frau sagte die Wahrheit, da war er sich absolut sicher. Trotzdem hörte sich ihre Aussage unglaublich an. Wenn es tatsächlich stimmte, dass er sich während der Narkose mit seinen Erinnerungen beschäftigt hatte, dann musste das heißen … Erinnerungen gingen auf reale Erlebnisse zurück. Also musste er … Offenbar hatte er schon einmal gelebt. Früher. Zu einer anderen Zeit. Und an einem anderen Ort. Das Einzige, was gleichgeblieben war, war offensichtlich die Frau, die sein früheres Leben mit ihm geteilt hatte.

„Hör auf zu grübeln“, sagte Elisabeth in seine Gedanken hinein. „Das bringt jetzt ohnehin nichts. Schlaf lieber. Morgen haben wir einen langen Tag vor uns.“

„Wieso?“, fragte er.

„Na, wir werden unsere Tour machen“, erwiderte sie lächelnd. „Wir starten zwar mit Verzögerung und werden die eine oder andere Station auslassen müssen. Aber unsere Reise wird trotzdem gemacht.“ Sich eng an ihn schmiegend, lächelte sie gleichzeitig zu ihm hinauf. „Gute Nacht mein Herz. Träum etwas Schönes.“

Phillip indes betrachtete seine Frau voller Zärtlichkeit. Sie war nicht nur eine sehr kluge Frau, stellte er fest. Sie konnte einem auch durch ihren alleinigen Anblick und ihre katzenhafte Anschmiegsamkeit den letzten Rest an Beherrschung nehmen. Ihre Augen wirkten dunkler als sonst und auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Ihr natürlich roter Mund lud förmlich zum Küssen ein, und ihr duftendes Haar streichelte seinen Hals. Ihr Schlaf-Shirt verbarg zwar den aufregendsten Teil ihres Körpers, doch allein das Wissen um ihren schönen Busen und die Wärme ihrer Haut wollte seine Finger umgehend auf Wanderschaft schicken. Nur ihre Hand, die seine auf ihren Hüften aufhielt, erinnerte ihn wieder daran, dass er sich zurückhalten musste.

Zwei Tage hielt es Elisabeth aus. Dann begann sie von den Theorien zu reden, mit denen sich ihr Verstand unablässig beschäftigte, seit Phillip in Todesgefahr geraten war. Dass er ihr zuhörte, ohne Fragen zu stellen, verwunderte sie zunächst ein wenig, denn sie war es gewohnt, dass er sein Interesse durch Nachhaken oder eigene Auslegungsweisen zu dem Gesagten deutlich machte. Sobald ihr jedoch aufging, dass sie ihm im Grunde nichts Neues erzählte, weil er sich mit den gleichen Themen auseinandersetzte, wie sie, seufzte sie erleichtert. Anschließend begann sie vorsichtig ein paar Fragen zu stellen.

„Hältst du mich für verrückt?“, wollte er daraufhin merklich alarmiert wissen.

„Nein!“ Gerade noch rechtzeitig bemerkte sie ein Hinweisschild, welches eine Parkmöglichkeit ankündigte. Also steuerte sie das Wohnmobil umgehend auf den ausgewiesenen Rastplatz. „Hast du mir denn nicht zugehört?“ Der Wagen stand mittlerweile, sodass sie sich ihrem Mann zuwenden konnte. „Ich habe Erinnerungen, die nicht aus diesem Leben sein können. Und ich wollte, dass du verstehst, was mir im Kopf herumgeht.“

Phillip reagierte nicht gleich, denn er wusste nicht, wie oder womit er anfangen sollte. Doch dann begann er zu reden. Erst stockend und unsicher. Aber dann immer schneller, was ihn bald atemlos machte. Zudem wurde der Kopfschmerz immer stärker, je länger er sich mit den Erinnerungen beschäftigte, die nicht die seinen waren, aber dennoch zu ihm gehörten, wie seine Hand oder sein Fuß.

„Dass es dir genauso geht, beruhigt mich ein wenig“, kam er schließlich zum Ende. „Dennoch macht es mir auch Sorgen, weil das alles nicht normal sein kann.“

„Was ist schon normal in dieser verrückten Welt.“ Elisabeth wählte absichtlich einen heiter-ironischen Tonfall. „Wissenschaftler versuchen den menschlichen Geist in Computerhirne einzuspeisen, die in Roboter installiert werden sollen, in der Hoffnung, so ewiges Leben möglich machen zu können. Sie vergessen aber völlig, dass eine Maschine keine Gefühle oder Träume haben kann. Dabei gibt es das schön längst. Ich meine, das ewige Leben. Und es scheint, als könnte der menschliche Geist durch die Symbiose mit einem unsterblichen Geschöpf genau dieses Ziel erreichen, ohne Technik oder sonstigen Schnickschnack.“

„Ewiges Leben, hm?“ Phillip war sich nicht sicher, was er von der Aussage seiner Frau halten sollte. „Würdest du das wollen? Ich meine …“

„Es geht nicht darum, ob ich das will oder nicht. Wir sind schon Teil eines Mysteriums, das wir derzeit noch nicht in seinem gesamten Ausmaß begreifen können.“ Sie sah ihn ernst an. „Für mich steht aber schon seit deiner Zeit im Krankenhaus fest, dass wir zu den Menschen gehören, die eine Reinkarnation erleben dürfen. Was jetzt noch fehlt, ist eine sicht-und greifbare Bestätigung dafür, dass wir tatsächlich vor über hundert Jahren hier gelebt und eine Familie gegründet haben.“

„Ist das deine älteste Erinnerung an ein vergangenes Leben?“, wollte er wissen.

„Nein“, antwortete sie nach einigem Zögern. „Da sind manchmal auch Bilder von einem fremden Planeten. Und Wesen, die ziemlich seltsam aussehen. Fast so, wie man sich Engel im Allgemeinen vorstellt. Nur ohne Flügel.“ Da er daraufhin bloß nickte, entschied sie, dass es vorerst gut sein sollte. Der Schmerz und die Erschöpfung waren ihm deutlich anzusehen.

„Als ich noch in Narkose lag, ist mir etwas Seltsames passiert“, begann er nach einer Weile zu erzählen. „Ich war außerhalb meines Körpers und wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Aber dann sprach mich ein unsichtbares Wesen an. Es wollte, dass ich mich auf meinen menschlichen Körper konzentriere. Na ja, ich habe es für ein Produkt meiner Fantasie gehalten, bis ein zweites Geschöpf auftauchte und wir dann alle sichtbar wurden.“ Er schluckte hart. „Seitdem habe ich das Gefühl, als würde ich durchdrehen. Ich … Eines dieser Geisterwesen nannte mich Arvyd. Und es fühlte sich richtig an, so als wäre das tatsächlich mein Name. Und … Die beiden Gespenster waren mir so vertraut, als würde ich sie schon lange kennen. Ich … Kann es sein, dass mein Hirn nicht mehr richtig funktioniert?“

Die Verzweiflung, die sie in seinen Augen erkannte, tat Elisabeth weh. Also schnallte sie sich ab, um ihn umarmen zu können.

„Wir sind sicher nicht irre“, stellte sie fest, während sie ihn immer noch an sich drückte. „Ich denke vielmehr, dass es einen Grund dafür gibt, warum wir uns wieder so genau an alles erinnern können.“

„Meinst du wirklich?“ Es war keine echte Frage. Daher erwartete er auch keine Antwort. „Ich hoffe bloß, das alles ist nicht doch beginnender Wahnsinn.“ Er seufzte.

„Das ist es bestimmt nicht“, versuchte sie zu beruhigen. „Ich denke vielmehr, dass das alles einen bestimmten Sinn hat.“ Da er sich augenscheinlich beruhigt hatte, ließ sie ihn los, um sich wieder auf den Fahrersitz zu schieben.

„Das hoffe ich.“ Er seufzte erneut. „Wenn einer hören könnte, worüber wir uns unterhalten, würde er garantiert die Leute mit der Liebhabejacke alarmieren.“ Er grinste schief.

„Gut möglich. Aber deswegen müssen wir uns glücklicherweise keine Gedanken machen, denn es hört uns ja keiner.“ Auch sie lächelte. „Entspann dich, Liebling. Die Grübelei führt zu nichts. Wir sollten uns lieber darauf freuen, was uns die nächsten Tage bringen werden.“

Phillip nickte bloß. Sie wäre sicher eine ausgezeichnete Reiseleiterin geworden, wenn er sie nicht kurz nach ihrer Ausbildung zur Reisekauffrau geheiratet und darum gebeten hätte, dass sie zu Hause blieb und mit ihm eine Familie gründete. Er hatte ihr keineswegs eine eigene Karriere missgönnt. Aber die Aussicht darauf, lange Zeitspannen ohne sie sein zu müssen, weil sie in der Weltgeschichte herumgondelte, während er tagsüber seiner Arbeit an der Frankfurter Börse nachging und abends allein vor dem Fernseher saß, hatte ihn mit Grauen erfüllt. Nun, das mit der Familienplanung hatte zunächst nicht klappen wollen, obwohl sie beide mit sehr viel Engagement und Leidenschaft bei der Sache gewesen waren. Doch dann hatte sich Marius angekündigt. Und drei Jahre nach seiner Geburt war Laura zur Welt gekommen. Damit hatte seine Elly genug zu tun und schien nicht unglücklich darüber zu sein, dass sie sich nicht mehr mit Vertragspartnern auseinandersetzen oder mit schwierigen Kunden herumärgern musste, die nicht wussten, was sie eigentlich wollten. Aber wenn eine Reise oder ein Ausflug anstand, dann lief sie zur Höchstform auf und organisierte schon im Vorfeld alles so gut, dass nichts mehr schiefgehen konnte. So auch diesmal. Sie hatte die Tour sehr umsichtig ausgearbeitet, denn es bestand immerhin die Möglichkeit, dass sie an ihrem ersten Zielort nicht willkommen waren und darum gleich wieder fahren musste. In diesem Fall stand eine Rundreise an, die zu mehreren Sehenswürdigkeiten führen und in einem Wellness-Resort enden sollte, wo sie sich für zwei Tage verwöhnen lassen wollten.

Die Idee, nach Kalifornien zu fliegen, war keineswegs aus einer Laune oder dem bloßen Wunsch heraus entstanden, ein fremdes Land und neue Leute kennenlernen zu wollen. Vielmehr gab es einen besonderen Grund dafür. Es ging um ihre persönlichen Wurzeln, erinnerte sich Elisabeth, während Phillip den Kopf gegen die Nackenstütze lehnte und die Augen schloss. Weil sie mehr über das Umfeld der Familie wissen wollte, mit der sie entfernt verwandt war, hatte sie gemeinsam mit ihrer Tochter alle möglichen Informationsquellen angezapft, die sie ausfindig machen konnten. Dabei war sie aber nur auf wenige Daten und Fotos gestoßen. Der anfänglichen Enttäuschung war dann aber schnell die Hoffnung gefolgt, dass sie möglicherweise dort mehr erfahren könnte, wo ihr Ur-Großvater geboren wurde. Und jetzt sah es so aus, als müsste sie sich nicht mehr anstrengen, denn die bisher gesammelten Fakten waren erst kürzlich von alten Erinnerungen ergänzt worden, die aus einem vorangegangenen Leben stammten. Als würde sie einen Wild-West-Film betrachten, zogen auch jetzt wieder Bilder an ihrem inneren Auge vorbei, die schön und grausam zugleich waren. Mathilda, so hatte sie damals geheißen, war auf der Flucht gewesen. Vor einem Mann, mit dem man sie zwangsweise hatte verheiraten wollen. Verfolgt durch den alten und sehr grausamen Pferdezüchter, der sie lieber tot als in den Armen eines anderen sehen wollte, war sie auf Eric Harper getroffen. Bei ihm hatte sie dann nicht nur Unterschlupf und Schutz, sondern auch die Liebe gefunden. Dass er von den Indianern als einer der ihren betrachtet und von ihnen Adlerherz genannt wurde, hatte sie damals sehr verwundert. Doch im Laufe der Zeit war ihr dann aufgegangen, dass nichts zufällig und schon gar nicht ohne Grund geschah. Na ja, das Wissen, das sie in ihren vergangenen Leben gesammelt hatte, war beim Übergang in die neue Existenz verschüttet worden. Allerdings waren durch den Stress und die bodenlose Angst um Phillip alle verdrängten Erinnerungen wieder hochgekommen, sodass sie jetzt das Gefühl hatte, als wäre das alles erst ein paar Tage zuvor geschehen. Und das war der pure Wahnsinn! Also, im positiven Sinne natürlich. Sie wusste, sie war Elisabeth Harper. Sie wusste auch, dass Phillip die Liebe ihres Lebens war und ihre beiden Kinder das gemeinsame Glück perfekt gemacht hatten. Daran gab es also nicht den geringsten Zweifel. Sie hatte aber auch als Mathilda gelebt. Und danach zwei weitere, wenn auch ziemlich kurze Verbindungen erfahren. Dabei war ihr Bewusstsein jedes Mal mit den neuen menschlichen Seelen so stark verschmolzen, dass eine Trennung der Individuen nicht mehr möglich gewesen war. Profitiert hatten wohl beide Seiten davon, denn durch die Vereinigung war eine Koexistenz entstanden, die sich für beide Seiten sehr hilfreich gestaltet hatte.

Ohne jeden Übergang fiel Elisabeth eine Geschichte ein, die sie einmal von einer bedeutenden Indianerin gehört hatte. Besser gesagt war es Mathilda gewesen, die damals von der Medizinfrau der Patwin-Sippe darüber aufgeklärt wurde, dass sie ein unsterbliches Wesen in sich trug, welches schon uralt und allein daran interessiert war, sie zu inspirieren und zu einem guten Menschen zu machen. ‚Yden‘ hatte die alte Geisterfrau das Volk der Lichtgeschöpfe genannt, das einst vom Himmel fiel und lange Zeit auf der Erde lebte, die Schöpfung achtend und schützend, die sie alle ernährte. Erst eine globale Apokalypse hätte dazu geführt, dass die Yden ihre organischen Körper im Feuer der ausbrechenden Vulkane verloren hätten und im Laufe der darauffolgenden Zeit eine Verbindung mit den Menschen eingegangen seien, um nicht länger als reine Gespenster existieren zu müssen. Dabei wäre von Anfang an das Gesetz gültig gewesen, dass das menschliche Bewusstsein nicht gezwungen oder verdrängt werden durfte. Vielmehr sollte es ein harmonisches und rücksichtsvolles Miteinander sein, damit die Symbiose nicht zum Wahnsinn des Menschen führte. Weil aber die Unsterblichen nach dem Tod ihrer Träger immer wieder neue Symbionten benötigten, gingen sie seither immer wieder neue Verbindungen ein und sammelten mithilfe ihrer Träger neue Erfahrungen und Wissen.

Es kam Elisabeth mittlerweile gar nicht mehr komisch vor, sich selbst als ein Individuum zu sehen, das durch ein außergewöhnliches Bewusstsein ergänzt wurde. Sie nahm es vielmehr als etwas Positives hin, denn bisher war ihr dadurch kein Schaden entstanden. Ganz im Gegenteil schien ihre Impulsgeberin stets darauf geachtet zu haben, dass sie ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen folgen konnte, dabei aber vor schlimmen Fehlentscheidungen bewahrt wurde. Warum aus Yden und Menschenseelen seit einiger Zeit untrennbare Einheiten wurden, wusste vermutlich nur die Höchste-Macht. Das galt auch für die Frage, warum sie und ihr Mann ausgerechnet jetzt zu dem Ort unterwegs waren, an welchem sie schon einmal gelebt hatten. Sie ging jedoch davon aus, dass sich das in den nächsten Tagen klären ließ. Zufälle widerfuhren nämlich nur gewöhnlichen Menschen. Bei ihr und Phillip hingegen schien sehr viel von einer höheren Intelligenz gesteuert zu werden, die ein bestimmtes Ziel verfolgte.

Cassandras Bestimmung

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