Читать книгу Seawalkers (1). Gefährliche Gestalten - Katja Brandis - Страница 10
ОглавлениеAlles Irre
Dichtes Gebüsch säumte den Weg und schließlich kamen wir zu einem Parkplatz, an dem wir das Auto abstellten. Tief sog ich die Luft ein, die ganz anders roch als die in Miami. Feucht und schwer, voller Blütenduft und Meersalz.
Erstaunt blickte ich mich um. Das weiße, zweistöckige Hauptgebäude war von lila blühenden Kletterpflanzen bewachsen. Jenseits davon sah ich auf der einen Seite weiß gestrichene, mit Palmwedeln gedeckte Hütten an einer palmenbewachsenen Bucht mit Sandstrand, auf der anderen Seite sehr ähnliche Hütten am Ufer eines smaragdgrünen Sees.
Zwischen diesen Orten verliefen Fußwege, aber auch mit Wasser gefüllte Kanäle, und hier und da sah ich kleine Teiche. Außerdem zählte ich drei Springbrunnen, die ihr Wasser in den Himmel schleuderten, in den Tropfen brach sich glitzernd das Sonnenlicht.
»Ich glaube, wir sind hier falsch«, sagte ich zu Onkel Johnny. »Das ist bestimmt ein Hotel und wahrscheinlich verlangen sie hundert Dollar die Nacht, wenn ich hierbleiben will.«
»Hihi, nein«, verkündete plötzlich eine Stimme und zwischen ein paar Oleanderbüschen kam eine gebeugte alte Frau hervor – graue Lockenfrisur, geblümtes Kittelkleid und klobige Schuhe. Mit einer Gartenschere schnipste sie an dem Oleander herum. »Das ist kein Hotel, hier leben lauter Verrückte!« Sie brach in ein irres Lachen aus. »So wird man, wenn man zu viel Meerwasser trinkt, jaja … dann löst sich das Gehirn auf …«
Onkel Johnny und ich blickten uns an.
»Das ist Ihnen auch passiert, oder?«, wollte ich gerade fragen, doch dann sah ich verdutzt, wie Onkel Johnny umkehrte und davonging.
»He, wo willst du hin?«, rief ich ihm nach.
»Wir fahren wieder ab!«, schnaubte mein Onkel. »Die haben es hier offensichtlich mit der Geheimhaltung nicht so genau genommen, das ist furchtbar riskant und auf keinen Fall werde ich …«
»Ach komm«, unterbrach ich ihn und griff ihn am Arm. »Lass uns erst mal mit dem Schulleiter reden. Bestimmt ist alles halb so schlimm.« Nun wollte ich doch wissen, was es mit dieser eigenartigen Highschool auf sich hatte. »Wenn diese Frau die Leute hier für verrückt hält, heißt das doch, dass sie nicht mitbekommen hat, was hier wirklich abgeht. Also alles in Ordnung.«
»Hm, ich weiß nicht.« Noch wirkte Onkel Johnny unentschlossen.
»Was genau muss eigentlich geheim gehalten werden?«, fragte ich neugierig. »Dass es Seawalker gibt?«
»Genau das«, brummte Johnny. »Wir achten alle sehr darauf, dass nie ein Mensch eine Verwandlung zu sehen bekommt.« Er seufzte tief. »Na gut. Schauen wir mal. Schließlich ist es wichtig, du brauchst so bald wie möglich Verwandlungsunterricht.«
Nebeneinander gingen wir zum Hauptgebäude.
Durch Glastüren gelangten wir in den hellen, geräumigen Eingangsbereich der Schule. Über die ganze Seite des Raumes zog sich ein Aquarium, und Cafétischchen und Stühle luden ein, es sich in der Nähe gemütlich zu machen. Ich blieb einen Moment vor der Glasscheibe stehen und beobachtete, wie ein blau-rosa Papageifisch geschäftig hin und her schoss, ein gelbes Seepferdchen verträumt über eine Koralle hinwegdriftete und eine Seeanemone ihre Arme ausstreckte. Dann bemerkten mich die drei. Der Papageifisch hielt an und glotzte mich durch die Scheibe an, das Seepferdchen wandte das Schnäuzchen in meine Richtung und die Seeanemone wedelte wild mit den Tentakeln. Das war mir bei einem Aquarium noch nie passiert. War doch etwas dran an diesem Gerede von Wandlern?
Hi, Fremder, sagte eine Stimme in meinem Kopf, während der Papageifisch vor der Scheibe auf und ab schwamm. Echt hässliches T-Shirt, hast du das vom Flohmarkt?
Ach, lass ihn doch in Ruhe, Nox! Warum bist du immer so gemein? Das Seepferdchen bog den Nacken wie ein winziges gelbes Vollblut.
Das Sekretariat finden Sie im ersten Stock links, informierte mich die Seeanemone.
»Hast du das auch … hast du gehört … «, stammelte ich in Richtung meines Onkels.
»Ja, hab ich, ganz ruhig bleiben, das ist normal.« Diesmal war er es wieder, der mich weiterzog.
»Normal?! Die haben in meinem Kopf geredet!«
»Das können alle Woodwalker und Seawalker, es muss nur einer von beiden in seiner zweiten Gestalt sein«, erklärte mein Onkel, während wir die Treppe hochstiegen und den richtigen Raum für meine Anmeldung suchten.
Also stimmte es doch. Es gab tatsächlich Gestaltwandler – und ich war einer von ihnen. Oh mein Gott!
Schließlich fanden wir ein Schild mit der Aufschrift Sekretariat – Mrs Misaki, klopften an und betraten das Büro, in dem wir auf der einen Seite ein weiteres, in die Wand eingelassenes Aquarium vorfanden. Darin war auch ein Papageifisch, anscheinend derselbe wie der vorhin, wie war er hierhergekommen? Viel Glück, Kleiner, wünschte er mir mit einem lässigen Flossenwedeln. Ich starrte ihn an. War ihm aufgefallen, dass ich zwanzigmal größer war als er?
Auf der anderen Seite des Sekretariates standen ein Schreibtisch mit Laptop, ein Aktenschrank und eine Anmeldetheke. Herrscherin über diesen Bereich war anscheinend eine Dame in einem gepunkteten Kleid, deren dunkle Haare kunstvoll hochgesteckt waren. Ihr etwas verkniffenes Gesicht war stark geschminkt und ich hatte noch nicht allzu viele Leute gesehen, die orangefarbenen Lippenstift benutzten.
»Ah, Sie sind die Neuankömmlinge. Miss Monk hat Sie schon gemeldet«, sagte die Schulsekretärin.
»Die alte Gärtnerin?«
»Nein, die Seeanemone. Was für eine Gärtnerin?«
»Wir haben sie am Parkplatz getroffen. Sie wirkte ein wenig … verwirrt«, berichtete mein Onkel.
»Ah!«, zischte Mrs Misaki mit funkelnden Augen und mir wurde langsam klar, warum der Papageifisch mir viel Glück gewünscht hatte. »Ich fürchte, das war Finny, eine Schülerin aus unserer Theatergruppe. Das wird Folgen haben, ich versichere es Ihnen!« Einen Moment lang sah sie aus, als wolle sie die Täterin sofort verfolgen und ihr die Perücke vom Kopf reißen.
»Ach, war nicht so schlimm«, versicherte ich schnell.
Die Schulsekretärin richtete sich hinter ihrem Schreibtisch auf, hinter dem sie anscheinend barfuß gesessen hatte, und machte Miene, auf uns zuzugehen. Doch als sie in ihre Schuhe schlüpfen wollte, schrie sie auf und verschwand hinter der Theke aus unserem Blickfeld.
Wir reckten etwas eingeschüchtert den Hals, um mehr erkennen zu können.
Schon kam Mrs Misaki wieder zum Vorschein. Sie kippte mit verkniffenem Gesicht ihren linken Schuh aus. Wasser und ein kleiner hellbrauner Fisch kamen daraus zum Vorschein. »Diese verdammten Delfine! Ein Schleimfisch! Mein Schuh ist praktisch ruiniert, sehen Sie das? Sehen Sie das?«
»Trocknet wieder«, versuchte ich, sie zu trösten.
»Ganz bestimmt«, fügte mein Onkel hinzu.
»Hoffentlich!« Misstrauisch musterte die Schulsekretärin mein zerschrammtes Gesicht. »So! Womit kann ich Ihnen helfen, wenn es unbedingt sein muss?«
»Äh, das hier ist mein … äh … Neffe Tiago Anderson«, sagte Johnny, er wirkte etwas aus dem Konzept gebracht durch die Begrüßung. »Er wollte sich die Schule mal ansehen und schauen, ob die was für ihn wäre. Wo finden wir den Schulleiter? Vielleicht könnten wir mit dem mal …«
»Am Strand«, knurrte die Sekretärin und einen Moment später standen wir mit wahrscheinlich ziemlich dämlichem Blick wieder vor der Tür des Sekretariates, ein Anmeldeformular in der Hand.
Am Strand? Mein Onkel und ich tauschten einen Blick – wieder einmal. Auch der Schulleiter schien ein bisschen ungewöhnlich zu sein. Wir hatten keine Ahnung, wie man von hier aus zum Strand kam, doch zum Glück schlenderte gerade jemand vorbei, den wir fragen konnten. Ein großes, schlankes Mädchen mit azurblau gefärbten Haaren und Sonnenbrille. »Ach, ihr habt gerade Mrs Misaki getroffen, oder?«, meinte sie. »Die ist eine Muräne und hat meistens schlechte Laune, einfach nicht beachten.«
»Ach so«, sagte ich. Dunkel erinnerte ich mich, dass Muränen schlangenartige Fische mit spitzen Zähnen waren, die in Spalten oder Höhlen nichts ahnenden Meeresbewohnern auflauerten. Das passte.
»Kannst du uns sagen, wie wir von hier aus zum Strand kommen?«, fragte Johnny das Mädchen.
Als sie den Mund zu einer Antwort öffnete, sah ich einen Rest grauer Schminke in ihren Augenwinkeln … und in meinem Gehirn machte etwas Klick. »He, Moment mal! Warst du das da am Parkplatz? Diese verrückte Alte?«
Das Mädchen mit den blauen Haaren lachte. »Ach, das war toll, ihr hättet mal eure Gesichter sehen sollen! Absolut göttlich! Ich bin übrigens Finny. In zweiter Gestalt ein Teufelsrochen.«
Wir grinsten uns an und ich war erleichtert, dass anscheinend einige nette Leute auf diese Schule gingen.
»Weißt du schon, was du bist?«, fragte Finny.
»Ich …«, begann ich, doch dann flog die Tür des Sekretariates auf und eine wutschnaubende Mrs Misaki stürmte hinaus. »Finny! Es ist wirklich unmöglich, dass du jeden unserer Besucher …«
»Vielleicht könnten wir später darüber sprechen? Im Moment hab ich leider keine Zeit, ich muss erst diesen Besuchern hier den Weg zeigen«, informierte Finny sie freundlich.
Das machte Mrs Misaki einen Moment lang sprachlos und diesen Moment nutzten wir alle drei für einen raschen Rückzug. Finny bedeutete uns, ihr die Treppe hinunter- und in den Hauptteil des Gebäudes zu folgen. »Hier geht’s zu den Klassenzimmern und zur Cafeteria«, erklärte sie, zog ihre Schuhe aus und stellte sie in ein Regal. Wir machten ihr es nach, denn dort vorne ging es eine kleine Rampe abwärts und dahinter wurde es feucht. Ein großer Teil der Schule schien knietief unter Wasser zu stehen!
Finny watete voraus und führte uns durch den zweiten Ausgang des Hauptgebäudes zum Strand hinunter. »Viel Spaß, vielleicht sehen wir uns ja morgen in der Erstjahresklasse?«, meinte sie, hob die Hand zum Gruß und schlenderte davon.
Begeistert sah ich, dass sich in der Lagune drei Delfine tummelten. Ich sah ihre Rückenflossen und hörte das Phuu-hup!, als sie an der Oberfläche atmeten. Sie schienen zu verschiedenen Arten zu gehören, denn einer von ihnen war klein und dunkel gefärbt, ein anderer hatte Längsstreifen und der dritte war groß und am ganzen Körper hellgrau. Ah, der graue musste ein Großer Tümmler sein, die kannte ich aus Büchern und dem Fernsehen.
Übermütig jagten sich die drei und es sah aus, als hätten sie eine Menge Spaß dabei. Einer der Delfine, der hellgraue, schnellte in die Luft, warf uns einen neugierigen Blick zu und ließ sich spritzend ins Wasser zurückfallen.
»Wenn du den Mund nicht wieder zumachst, bekommst du Sonnenbrand auf der Zunge«, brummte mein Onkel. »Hast du noch nie einen Delfin gesehen? Die sind hier in Florida doch wirklich überall.«
»Aber nur im Meer und dorthin hast du mich nie gelassen«, schoss ich zurück.
Wir hatten den Schulleiter schon gesichtet, es war ein großer junger Mann mit weißblonden Haaren. Er trug nur Shorts, hockte im Schneidersitz im Sand und tippte etwas auf einem anscheinend wasserfesten Laptop. Als er uns bemerkte, stand er auf und blickte uns freundlich entgegen, streckte aber nicht die Hand aus, nickte uns nur zu, als wir uns vorstellten. Vielleicht war Händeschütteln unter Gestaltwandlern nicht üblich. »Herzlich willkommen«, sagte er. »Wie schön, dass Sie Mrs Misaki überlebt haben. Ich bin Jack Clearwater.« Einen Moment lang schien er in sich hineinzuhorchen. »Ihr seid beide Seawalker, nicht wahr?«
Ich hatte keine Ahnung, wie man so etwas feststellte. Vielleicht hatte er das irgendwie gespürt? »Ähm, ich glaube schon, mein Onkel hat mir erklärt, dass meine zweite Gestalt ein Tigerhai ist.«
Was war, wenn er ein so gefährliches Geschöpf nicht an seiner Schule wollte? Etwas angespannt wartete ich auf seine Reaktion, doch Jack Clearwater zuckte mit keiner Wimper. »Dann wird das wohl auch so sein«, meinte er nur. »Hast du dich schon mal verwandelt?«
»Nur einmal halb«, gab ich zu und war erleichtert, dass er anscheinend nicht vorhatte, mich über mein Gesicht und die dazugehörige Prügelei auszufragen. Aber die hatte ja auch nichts mit Verwandlungen zu tun, sondern nur was mit den Deppen an meiner Schule.
»Kein Problem, so etwas wirst du hier üben«, meinte der junge Schulleiter und begann, mich darüber auszufragen, wie alt ich war, wie wir lebten, was ich für Interessen hatte und was ich bisher in der Schule so gemacht hatte. Anscheinend gefielen ihm meine Antworten, denn schließlich sagte er: »Okay. In Hütte Nr. 3 ist noch was frei. Wenn du willst, kannst du gleich deine Sachen hinbringen, ich gebe dir den Schlüssel.«
Mein Onkel sah mich fragend von der Seite an; ich spürte, dass er nervös war. »Also, was ist, Tiago? Willst du auf diese Schule gehen?«
So verrückt es hier anscheinend zuging … diese Schule war tausendmal besser als meine bisherige! Ich straffte die Schultern und blickte Jack Clearwater direkt in die Augen. »Ja, ich will«, sagte ich.
»Du musst die Schule nicht gleich heiraten«, meinte Jack Clearwater amüsiert und ich spürte, wie ich ein bisschen rot wurde.
In meinem Kopf hörte ich die drei Delfine kichern.