Читать книгу Seawalkers (1). Gefährliche Gestalten - Katja Brandis - Страница 9
ОглавлениеKomposthirn
Am nächsten Morgen wankte ich nach einer Nacht mit sehr wenig Schlaf wieder aus meinem Zimmer hervor und blickte mich misstrauisch um. Halb erwartete ich, dass die Stühle an der Decke klebten oder ich ein gigantisches rosa Kaninchen durch die Wohnung hoppeln sah. Das wäre praktisch gewesen, weil es bedeutet hätte, dass ich nur ein bisschen verrückt geworden war.
Aber es war alles wie sonst, an meiner Zimmerwand hing das Bandposter von Thirty Seconds to Mars und einige meiner Zeichnungen von Tieren (unter anderem ein Hai!), kämpfenden Samurais und meinen Lieblingspromis, an denen ich ausprobiert hatte, ob ich auch Porträts konnte (ging so). An der Wand stapelten sich meine Klamotten, weil für einen Kleiderschrank in meinem langen, schmalen Zimmer kein Platz war. Auf dem Hosenstapel thronte mein in der Schule selbst gebauter Roboter (zurzeit leider kaputt). Auf dem Nachttisch lagen mein zerschrammtes Handy und ein zerfleddertes Sachbuch über die Antarktis (ich las am liebsten darin, wenn es draußen über fünfunddreißig Grad waren). Daneben thronte mein Glücksbringer, eine orange-weiß gemusterte Kammmuschel.
Das einzig Ungewöhnliche war, dass mein Onkel Johnny – oder sollte ich ihn einfach nur Johnny nennen? – nicht schon zu seiner Arbeit am Empfang des Orange Blossom Motel abgedüst war. Er saß an der mit Frühstückskram gedeckten Theke und blickte mich besorgt an. »Alles okay, Tiago?«
»Haha, sehr witzig«, sagte ich, setzte mich und schaufelte zwei Pfannkuchen, ein Spiegelei und ein Stück Buttertoast auf meinen Teller, alles übereinander, wie sonst auch. Dann blickte ich auf den Essensberg herab, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen. »Ich hab gelesen, dass Tigerhaie so ziemlich alles fressen, was sie finden.«
Onkel Johnny musste grinsen. »Oh ja, das stimmt«, brummte er. »Sehr praktisch. Sonst hättest du dich bestimmt schon beschwert, dass ich nicht gut kochen kann.«
Nach dem ausgefallenen Abendessen hatte ich echt Hunger, also begann ich, den Stapel auf meinem Teller zu verdrücken. »Und du bist wirklich … ein Zackenbarsch?« Zwischen zwei Bissen konnte ich nicht anders, ich musste meinen Onkel anstarren. »Kannst du dich verwandeln, wenn du willst?«
»Ja.« Er sah schuldbewusst aus. »Manchmal habe ich behauptet, ich hätte Dienst im Motel, und bin heimlich ans Meer gefahren, um eine Runde durch mein Revier zu drehen. Ach ja, an meiner zweiten Gestalt liegt es übrigens auch, dass ich nicht mehr deine Tante bin. In ihrer Jugend sind Zackenbarsche alle Weibchen. Werden sie älter, wandeln sie sich zu Männchen. Passiert uns allen, auch in unserer Menschengestalt.«
»Krass«, war das Einzige, was mir dazu einfiel. Er war ein Zackenbarsch … und ich ein Hai! Ein Tigerhai, eines der gefährlichsten Tiere des Ozeans! Allmählich war ich so weit, dass ich das cool fand. Das Sachbuch über gefährliche Meerestiere aus unserer Schulbibliothek kannte ich fast auswendig.
»Hör zu.« Johnny lehnte sich über die Theke und blickte mir eindringlich in die Augen. »Es geht auf keinen Fall, dass du jetzt wild herumexperimentierst. Ich habe mitbekommen, dass vor zwei Jahren ein geheimes Internat gegründet worden ist … eine Schule für Seawalker, also für Gestaltwandler wie uns. Dort kannst du lernen, deine zweite Gestalt zu beherrschen.«
Seawalker. Was für ein seltsames Wort – auf dem Meer konnte man doch nicht laufen! Ich hatte die plötzliche Vision, wie ich als Taucher im Metallhelm auf dem Meeresboden herumstapfte. Aber irgendwie hatte das Wort auch was Faszinierendes. Schließlich gab es ja auch Leute, die Skywalker hießen, obwohl man am Himmel ebenso wenig wandern konnte.
Ich ließ Johnnys Worte einsickern und spürte, wie mir langsam der Appetit verging. Ein Internat für Seawalker. Internate hatte ich nie besonders cool gefunden. Irgendwohin abgeschoben zu werden, rund um die Uhr mit Kids und Lehrern zu tun zu haben und höchstens an den Wochenenden nach Hause zu können – der Gedanke gefiel mir nicht wirklich. »Moment mal. Und was ist, wenn ich nicht dahin gehen will?«
Johnnys Augen wurden schmal. »Bete lieber, dass sie dich dort nehmen! Heute Nachmittag, nach der Arbeit, hole ich dich von der Schule ab und wir fahren hin. Am besten, du packst ein paar Sachen, für den Fall, dass du gleich dableiben willst.«
»Also, das halte ich für sehr unwahrscheinlich«, meinte ich misstrauisch und ein bisschen beleidigt. Er hatte es wirklich eilig, mich loszuwerden! »Aber ich schaue mir das Ganze mal an, okay?«
Es war noch etwas anderes, das mir durch den Kopf ging und mich den Schlaf gekostet hatte. »Sag mal … hast du eigentlich manchmal bei meinen Eltern angerufen? Oder mit ihnen gemailt?«
»Selten«, gab er zu. »Du willst ihre Mailadresse, stimmt’s?«
Stumm nickte ich. Ohne weitere Diskussionen schrieb er sie mir auf einen Zettel. Ich steckte ihn ein, holte mir die Reisetasche und stopfte ein paar Klamotten, meinen Waschbeutel, meine Zeichensachen und meinen Glücksbringer hinein. Die hübsch gemusterte Kammmuschel hatte mir mein bester Freund in der Grundschule geschenkt, bevor er weggezogen war und ich ihn nie wiedergesehen hatte. Manchmal dachte ich noch an ihn und hatte versucht, ihn über Google und Facebook zu finden. Ohne Erfolg, ich hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war. Und es war vielleicht besser, dass er nicht mitbekam, was aus mir wurde – oder eher, was ich ahnungsloser Idiot schon immer gewesen war … ein nicht ganz menschliches Wesen, vor dem man sich besser in Acht nahm. Einen Moment lang umschloss ich die Muschel in der Hand und fühlte mich, als hätte mich jemand in einem kleinen Boot mitten auf dem Ozean ausgesetzt. Dann holte ich tief Luft, schob die Muschel in die Reisetasche und versuchte, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung. Das beruhigte mich irgendwie.
Als ich fertig war mit Packen, war ich spät dran. Ich schwang mir meinen Rucksack auf den Rücken und rannte los – immerhin musste ich nicht auf den Schulbus warten, die Schule war nur eine halbe Meile entfernt.
»Denk dran: heute Nachmittag. Ich warte auf dem Parkplatz auf dich!«, rief Johnny mir nach.
Er war wirklich finster entschlossen, mich auf diese seltsame Schule zu schicken. Doch wenn es mir dort nicht gefiel, dann kam das gar nicht infrage!
Auf meiner jetzigen Schule gefiel es mir aber auch nicht besonders. Liberty City, wo wir wohnten und wo ich auf die miese, aber kostenlose öffentliche Middle School gehen musste, war eins dieser Viertel, in dem Touristen lieber nicht anhalten. Besonders nachts nicht, dann gingen sogar ich und Onkel Johnny ungern raus.
Auf dem Weg zur Schule konnte ich die ganze Zeit nur Tigerhai, großer Gott, ein Tigerhai! denken. Noch fühlte es sich sehr unwirklich an. Und erst recht, als ich vor der grau gestrichenen, von einem zwei Meter hohen Maschendrahtzaun umgebenen Middle School ankam und zu meinem Spind ging, als wäre heute ein Tag wie jeder andere.
Bei den Spinden traf ich Lando. Er zuckte zusammen, als er mich sah, und rasch warf ich einen Blick auf meine Hände, um sicher zu sein, dass ich nicht wieder graue Haut hatte oder so was. Alles normal, zum Glück!
»Hi, Lando«, sagte ich ein bisschen verlegen.
»Hi«, gab er zurück und sah mich mit gehetztem Blick an. Nach dem, was ich von Onkel Johnny erfahren hatte, konnte ich ihn verstehen – anscheinend hatte ich mich dort im Meer teilverwandelt. Trotzdem war ich ein kleines bisschen sauer.
»War nicht so nett, dass du mich hast sitzen lassen«, meinte ich.
»Oh das. Ja. Sorry.« Er packte schnell die nötigen Bücher in seinen Rucksack, knallte die Tür seines Spindes zu und wollte abhauen. Doch zu seinem Pech hatten wir jetzt zusammen Chemie II. Schweigend gingen wir nebeneinanderher und setzten uns in den Fachraum, in dem sich kurz darauf unser Lehrer mit uns abplagte.
»Wie lautet die Formel für Kohlendioxid?«, fragte er in die Runde. »Na, kommt schon, Leute, das ist wirklich nicht schwer!«
Keine Reaktion. Ich sah mich im Raum um. Die Mädels, von denen viele aussahen, als wären sie auf dem Weg zu einer Party, lackierten sich gerade die Fingernägel, spielten gelangweilt an ihren Smartphones herum oder unterhielten sich. In der letzten Reihe schlief einer der Jungs mit dem Kopf auf seinem Pult. Lando versuchte konzentriert, aber mit wenig Erfolg, den Millennium Falcon zu zeichnen – im Moment sah er noch aus wie der verbeulte Deckel einer Mülltonne.
Plötzlich wurde ich wütend. Was machte ich eigentlich hier? Meine Zeit verschwenden, sonst nichts! Trotzig streckte ich den Arm hoch. Mein Lehrer wirkte verblüfft, aber erfreut. »Ja, Tiago?«
»CO2«, sagte ich.
Schlagartig horchten die beiden Jungs – Logan und Rocket – schräg hinter mir auf und glotzten mich drohend an. Sie bestraften jeden, der er es wagte, mehr zu wissen als sie und es auch noch zu verkünden. Mich ließen sie gewöhnlich in Ruhe, weil ich vor längerer Zeit mal einen Kampf gegen Logan gewonnen hatte, außerdem tat ich meistens so, als wäre mir der Unterricht egal.
Doch plötzlich hatte ich darauf keine Lust mehr. Wieder und wieder meldete ich mich mit der richtigen Antwort und fühlte mich wie befreit. Der Rest der Klasse war fassungslos. Mel lackierte versehentlich ihren Finger statt des Nagels, Nelly ließ ihr Handy in ihren Joghurt fallen und Rockets Oberlippe zuckte, was irgendwie nach Kaninchen aussah. Vielleicht war ich nicht der einzige Wandler in dieser Klasse?
Das wirst du noch büßen, Streber!, sagte Rockets giftiger Blick und Logan betrachtete mich mit einer Mischung aus Wut und Vorfreude. Er liebte es, Leute plattzumachen, und Rocket – der ziemlich clever war – sagte ihm, wie er es anstellen sollte.
Besorgt schaute mein Freund Lando mich von der Seite an, aber ich achtete nicht darauf.
In der zweiten Pause bekam ich dann die Quittung. Innerhalb von Sekunden hatten die beiden mich in die Zange genommen und neugierig schlenderten ein paar andere Leute hinzu, um nichts zu verpassen.
»Was sollte das vorhin, Klugscheißer?«, fragte Logan – er war einen halben Kopf größer als ich und hatte einen Körperbau wie eine Actionfigur. Kraftvoll stieß er mich mit der flachen Hand gegen die Brust. Es irritierte ihn etwas, dass ich es irgendwie fertigbrachte, nicht zu wanken oder zurückzutaumeln.
»Lieber Klugscheißer als Komposthirn«, meinte ich und grinste ihm ins Gesicht, so gut ich es hinbekam.
Rocket versuchte, mir die Faust in den Magen zu rammen. Ich wich zur Seite aus und seine Knöchel machten Bekanntschaft mit der Betonwand hinter mir. Quiekend hüpfte er zurück und hielt sich die Hand. Sofort übernahm Logan seinen Platz und packte mich am T-Shirt. Mit einer Drehung befreite ich mich und verpasste ihm einen harten Schlag auf den Bizeps, der ihn aufjaulen ließ. Das war einer der Tricks, die Onkel Johnny mir früher gezeigt hatte, nachdem ich mal wieder heulend heimgekommen war.
Leider reichte mein Vorrat an Tricks nicht besonders lange und Rocket brachte es fertig, mich an die Betonwand zu drücken. Verdammt, ich saß in der Falle! Rocket grinste mir aus nächster Nähe ins Gesicht, vielleicht damit ich seinen Bartflaum, seine schlammbraunen Augen und seine spitze Nase bewundern konnte. Mit einem hässlichen Grinsen steuerte Logan auf mich zu und holte mit der Faust aus.
Tigerhaie sind stark, dachte ich. Wenn ich es nicht schaffe, hier rauszukommen, bin ich wohl doch keiner! Mit aller Kraft schob ich Rocket zurück – und staunte, als er schwungvoll davonflog … wie eine Rakete eben. Er schlitterte auf dem Rücken über den Asphalt, hastig wichen die Zuschauer ihm aus. Seinen Kumpel Logan packte ich am ausgestreckten Handgelenk, dann drehte ich mich mit ihm um mich selbst. Fluchend stolperte Logan im Kreis. Als ich losließ, flog er in die gleiche Richtung wie Rocket und landete neben seinem Kumpan auf dem Boden.
Erstaunter Applaus und aufgeregtes Gemurmel von den Zuschauern.
Leider genoss ich die Situation einen Wimpernschlag zu lang. In der Zeit erwischte mich ein zweiter Verbündeter von Logan, der in eine andere Klasse ging und sich bisher rausgehalten hatte, mit einem blitzschnellen Schlag von der Seite. Plötzlich fand ich mich auf dem Boden wieder und spürte, wie Blut über meine Wange lief. Mein ganzes Gesicht brannte.
»Drei gegen einen, das ist unfair!«, brüllte Lando die Kerle an und beinahe hätte auch er einen Schlag abbekommen, wenn nicht in dem Moment unser übergewichtiger Securitymann in seiner schwarzen Uniform herangekeucht wäre.
Als mich Onkel Johnny am Nachmittag abholen kam, war er entsetzt. »Was hast du mit deinem Gesicht angestellt? Eigentlich solltest du dort in der neuen Schule einen guten Eindruck machen!«
»Na ja, genau genommen war das mit dem Gesicht nicht ich«, versuchte ich, ihm zu erklären.
Onkel Johnny stöhnte. »Was ist, wenn sie dich nicht nehmen, weil der Schulleiter denkt, du bist ein Schlägertyp? Es gibt nur drei Highschools für Wandler in ganz Nordamerika – gerade hat eine neue in Kalifornien aufgemacht – und nur die hier in Florida eignet sich für Wassertiere! Du hast Glück, dass sie überhaupt so nah ist!«
Ich zuckte trotzig die Schultern und sagte nichts, während Johnny ärgerlich grummelnd losfuhr. Wenn der Schulleiter ein Mistkerl war, wollte ich sowieso nicht auf diese seltsame Schule. Ob er auch ein Tier war … und alle anderen Schüler? Musste wohl, es war ja eine Schule für Wandler.
Meine Zweifel wuchsen mit jeder Meile, die wir in Richtung der Florida Keys zurücklegten. Wie in aller Welt hatte Onkel Johnny mir gestern einreden können, dass ich ein Hai war? Dafür hatte ich bisher keinen einzigen Beweis. Das alles war lächerlich, wieso hatte ich ihm das geglaubt?
Am frühen Abend erreichten wir eine kleine Ansammlung von Häusern – einen Burgerladen, ein Hotel, einen Steg mit Bootsverleih. Eine halbe Meile weiter entdeckten wir ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift Blue Reef Highschool, beinahe hätten wir es übersehen. Dort führte eine kleine, ungeteerte Straße aus weißem Muschelkalk vom Highway ab.
Ob ich wollte oder nicht, mein Puls beschleunigte sich.
Wir waren angekommen.