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Hai-Alarm

Hai-Alarm!« ist nicht das, was man hören möchte, wenn man gerade Spaß im Meer hat. Und noch weniger möchte man es hören, wenn es auf irgendeine Art etwas mit einem selbst zu tun hat.

Einen Moment lang blieb ich wassertretend dort, wo ich war, und spuckte mein Schnorchelmundstück aus, um mit meinem Freund reden zu können. »Hast du gehört? Da ist irgendwo ein Hai. Wir sollten raus aus dem Wasser!«

»Tiago … was … du …«, keuchte Lando und wich vor mir zurück, seine Augen wirkten durch die Taucherbrille irgendwie komisch. Als würden sie jeden Moment rausploppen.

»Also was ist jetzt?«, drängte ich.

Niemand hörte mir mehr zu. Mein Freund kraulte schon, so schnell er konnte, aufs Land zu, genauer gesagt, auf den hellgelb leuchtenden Miami Beach. Beeindruckt sah ich, dass sich Lando von einem moppeligen Couchhocker irgendwie in einen Olympiaschwimmer verwandelt hatte. Besser, ich legte auch einen Zahn zu.

Mit kräftigen Flossenschlägen schnorchelte ich hinter ihm her. Verdammt, die Leute am Strand starrten alle in unsere Richtung! War der Hai etwa hier, in meiner Nähe? Nervös blickte ich mich mit meiner Taucherbrille unter der Oberfläche um, sah aber nichts außer glasklarem Wasser, hellem Sand und einer zerdellten alten Plastikflasche, die am Grund entlangtrieb.

Eigentlich wollte ich nicht aus dem Wasser heraus. Es fühlte sich so gut an, obwohl ich angeblich allergisch gegen Meerwasser war. Andererseits hatte sich meine Haut irgendwie grau verfärbt, das war garantiert nicht gesund, außer man war ein Elefant. Besorgt starrte ich auf meinen Arm, während ich weiterschwamm.

Dann fiel mir auf, dass mein Rücken juckte. Während ich mit halb untergetauchtem Kopf weiter in Richtung Strand schwamm, griff ich nach hinten, um mich dort zu kratzen, wo es am meisten kribbelte. Und bekam den Schreck meines Lebens. Dort war irgendetwas Festes, das dort eindeutig nicht hingehörte! War das eine Rückenflosse?

Oh mein Gott! Hatte mein dämlicher Kumpel mir die irgendwie angeklebt? Aber das hätte ich doch merken müssen! Instinktiv drehte ich mich um, sodass das Ding – was auch immer es war! – nach unten ragte, und schwamm auf dem Rücken weiter. Schließlich war das Wasser so flach, dass ich darin sitzen konnte, während kleine Wellen mich umspülten. Ich war der Einzige, der noch im Meer war. Auf dem Strand wimmelten die Leute herum, noch immer aufgeregt, obwohl der Hai anscheinend nicht mehr in Sicht war.


Ich traute mich erst aus dem Wasser heraus, als mein Rücken sich wieder normal anfühlte. Die komische Flosse war einfach weg und nirgendwo mehr zu finden.

Unsicher blickte ich mich um, während ich mit meinen Plastikflossen unter dem Arm durch den von der Sonne aufgeheizten Sand stapfte, doch ich entdeckte Lando nicht. Stattdessen starrte mich ein älteres Paar mit bunten Badesachen und Strohhüten misstrauisch an. Vielleicht Touristen aus den vielen Hotelburgen, die den Strand säumten. Ein paar junge Männer diskutierten, was für ein Raubfisch es genau gewesen sein könnte, und ein kleines Mädchen, das ein halb geschmolzenes Eis in der Hand hielt, deutete mit dem Finger auf mich. »Das ist er! Der Hai!«

»Red keinen Unsinn, Belinda«, ermahnte seine Mutter das Mädchen.

Die Kleine heulte los wie eine Minisirene. Aber zum Glück nicht wegen mir, sondern weil ihr Eis gerade abgebrochen und zur Hälfte auf dem Sand gelandet war.

Ich ging schnell an allen vorbei, packte meine auf dem Sand herumliegenden Klamotten und hastete mit nasser Badehose weiter zum Parkplatz. Nur weg hier!

Auf dem Parkplatz dann der nächste Schreck. Der schicke rote Toyota, den Lando sich von seinem Bruder »geliehen« hatte, stand nicht mehr da. Wütend und gefrustet, warf ich meine Flossen auf den Asphalt und rammte meine Hände in die Taschen der Shorts. Der hatte mich doch tatsächlich im Stich gelassen! Mir war ein klein bisschen nach Heulen zumute. Was war das eigentlich für ein Freund? Okay, eigentlich war er sowieso kein Freund, sondern nur jemand, mit dem ich herumhing. Manchmal war ich mir nicht mal sicher, ob ich ihn mochte. Besonders dann, wenn er davon redete, wie er reich werden wollte – so reich wie sein Bruder, der für viel Geld alles verkaufte, was verboten war und in eine Hosentasche passte.

In Wirklichkeit hieß er natürlich nicht Lando, aber als echter Star Wars-Nerd, der sogar manche Dialoge mitsprechen konnte, ging ein gewöhnlicher Name natürlich nicht durch. Er hatte auch versucht, mir einen Spitznamen zu verpassen – unter anderem hatte er mich Blauauge, Tigger, Arty und Chewie gerufen –, aber zum Glück war nie einer kleben geblieben. Meine Augen waren zwar ungewöhnlich blau, aber Blauauge hatte zu dämlich geklungen, um sich lange zu halten. Auf Tigger und Arty hatte ich einfach nicht reagiert und für Chewie reichte meine Haarmähne eindeutig nicht aus, sodass Lando es sich schnell selbst abgewöhnt hatte.

Auf dem Handy erreichte ich Lando natürlich auch nicht. Mist! Jetzt gab es nur noch einen, der mich retten konnte, sonst war ich hier am Miami Beach, zehn Meilen von daheim, buchstäblich gestrandet.

Ich kam mir sehr blöd vor, während ich Onkel Johnnys Nummer wählte. Weil er mir verboten hatte, jemals ins Meer zu gehen, hatte ich den Nachmittagsunterricht geschwänzt und war heimlich mit Lando zum Strand gefahren. Damit ich nicht länger der einzige Junge war, der in Florida lebte und noch nie im Meer gewesen war, also ein kompletter Volldepp. Und jetzt musste ich mich von Onkel Johnny abholen lassen. Toll. Was blühte mir jetzt? Zwei Wochen Hausarrest? Mir das Taschengeld streichen konnte er nicht, ich bekam eh keins, das konnten wir uns nicht leisten.

Eine halbe Stunde später bog der klapprige blaue Chevrolet meines Onkels in den Parkplatz ein und bremste vor mir. Verlegen öffnete ich die Tür, ließ mich auf den durchgesessenen Beifahrersitz gleiten und wartete. Es war nicht leicht, Onkel Johnny wütend zu machen, aber wenn er richtig in Fahrt war, dann konnte er locker einem Hurrikan, Vulkanausbruch oder Tsunami Konkurrenz machen.

Mein Onkel trug eins seiner zeltartigen, karierten Hemden und ein verblichenes blaues Disney-World-Käppi. Nicht weil er Disney World besonders liebte, sondern weil er in einem Motel arbeitete, ein Gast das Ding mal vergessen hatte und es in besserem Zustand gewesen war als seine alte Basecap. Wie üblich roch er nach den Zimtkaugummis, die er so liebte. Als ich mich angeschnallt hatte, wandte er mir sein Bulldoggengesicht zu und ganz langsam wagte ich, mich zu entspannen. Wütend sah er nicht aus … dafür aber so, als parkten zwanzig voll beladene, übereinandergestapelte Lkw auf seiner Seele.

»Du warst also im Meer«, stellte er fest. »War alles … okay?«

»Na ja, geht so«, versuchte ich auszuweichen.

»›Geht so‹ heißt, es ging nicht, stimmt’s?«, brummte er.

»Ähm. Ich sah wohl irgendwie komisch aus. Deshalb ist Lando auch abgehauen.«

»Wir müssen reden, Tiago«, sagte mein Onkel.

Ich verzog das Gesicht, was wahrscheinlich aussah, als hätte ich einen Krampf im Mundwinkel. Wenn Erziehungsberechtigte so was sagten, wollten sie selten besprechen, was man sich zum Geburtstag wünschte oder wohin man zum Pizzaessen gehen wollte. Aber eigentlich war es mir ganz recht, dass er reden wollte – ich wollte das auch! Dieser Zwischenfall vorhin ging mir immer noch im Kopf herum. Und anscheinend wusste Onkel Johnny irgendetwas darüber, etwas, das er mir bisher verschwiegen hatte!

Wortlos stapften wir die Holztreppe zum ersten Stock des hellbraun gestrichenen Apartmentgebäudes hoch, in dem wir eine kleine Mietwohnung hatten. Ein paar Minuten später saßen wir zusammen am Küchentresen, an dem wir üblicherweise aßen. Ich studierte das faszinierende Muster der Kunststoffplatte, schwitzte vor mich hin und hoffte, dass dies hier bald vorbei war.

»Zuallererst wollte ich sagen, dass es mir leidtut«, sagte Onkel Johnny. »Es tut mir ganz furchtbar leid.«

Das Gespräch entwickelte sich anders als erwartet. Aber es lief nicht schlecht.

Mein Onkel fuhr fort: »Eigentlich bin ich nicht der Typ, der Leute anlügt. Aber bei dir ging’s nicht anders.«

»Äh, wie bitte?«, fragte ich. »Mich muss man anlügen? Wieso das?«

Onkel Johnny seufzte so tief, dass sein gewaltiger Bauch in Wellenbewegungen geriet. »Ich bin eigentlich nicht dein Onkel«, erklärte er.

Das war nun nichts wirklich Neues. »Ja, ich weiß. Du bist eigentlich meine Tante«, sagte ich. Es war immer ein bisschen nervig, wenn ich neue Leute nach Hause mitbrachte und die dann verständnislos die Bilder anglotzten, auf denen ich mit Tante Jenny zu sehen war. Einer Tante, die meinem heutigen Onkel Johnny zum Verwechseln ähnlich sah, wenn man mal die langen Haare und den Busen abzog. Was war dabei, wenn jemand lieber als Mann leben wollte?

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Johnny, bevor ich wieder mal darüber nachgrübeln konnte, wieso er eigentlich keinen Tante-Jenny-Busen mehr hatte. »Wir sind auch nicht verwandt.«

Leider brachte ich nichts Intelligenteres heraus als »Was?«.

»Ich bin ein Freund … na ja, eher Bekannter … deiner Eltern. Sie haben dich vor vierzehn Jahren mehr oder weniger … ähm … bei mir abgegeben und sind weitergereist.«

»Und dann sind sie bei einem Autounfall umgekommen«, ergänzte ich und fragte mich, worauf er hinauswollte.

»Nein, sind sie nicht«, erklärte mein Onkel, zerknüllte nervös ein Kaugummipapierchen und lockerte seine Schultern. »Das war eine der Lügen. Erfreulicherweise. Sie leben noch und sind wahrscheinlich gerade im Ausland, sie reisen meistens irgendwo in der Welt herum.«

Er hatte es geschafft. Diesmal war ich sprachlos. Vielleicht hätte ich begeistert sein sollen, dass meine Eltern noch lebten, doch das klappte nicht so richtig.

»Du musst das verstehen … Haie haben nun mal keine besonders starke Bindung zu ihrem Nachwuchs«, fuhr mein Nicht-Onkel fort.

»Haie?« Das wurde allmählich echt seltsam. Vielleicht lag ich nach einem Badeunfall im Koma, träumte das alles und würde es schrecklich witzig finden, wenn ich mich nach dem Aufwachen noch daran erinnerte.

»Deine Mutter ist in zweiter Gestalt ein Blauhai, dein Vater ein Tigerhai.«

Ich musste lachen. Das klang einfach zu seltsam. Aber dann erinnerte ich mich an das, was vorhin am Miami Beach passiert war, und mein Lachen wurde zu einer Art Schluckauf. Das kriegte ich immer, wenn ich halb in Panik war. Mühsam versuchte ich, mich wieder zu beruhigen. Vielleicht war das mit den Haien ein grandioser Witz, ja, so musste es sein. Nachdem ich noch mal mit einer Lachsalve herausgeplatzt war, sagte ich grinsend: »Das heißt, ich bin eigentlich auch ein Hai?«

»Ja genau«, sagte Johnny. Er grinste nicht. Stattdessen wirkte er erleichtert. Vielleicht weil ich so schnell kapiert hatte, was Sache war. Das ließ vermuten, dass es tatsächlich kein Witz war, und machte mir ein bisschen Sorgen. »Ein Tigerhai, genauer gesagt.« Bevor ich etwas antworten konnte, fuhr er rasch fort: »Deshalb habe ich behauptet, du wärst allergisch gegen Salzwasser, verstehst du? Ich weiß, du hast dich geärgert, dass ich dir diesen Schnorchelausflug mit deiner Klasse nicht erlaubt habe. Und du warst gefrustet, weil ich nie mit dir an den Strand gefahren bin.«

»Oh ja«, unterbrach ich ihn bitter. Zahllose Male hatten mir irgendwelche Leute aus der Klasse oder aus Johnnys Bekanntenkreis davon erzählt, dass sie den Nachmittag oder Abend am Miami Beach abhängen wollten. Manche fuhren sogar am Wochenende auf die kleinen, superhübschen Inseln der Keys und gingen dort Kitesurfen. Jedes Mal, wenn ich so was hörte, zerfloss ich fast (vor Neid, aber auch, weil die Hitze hier im Sommer schwer auszuhalten war). Ein Mädchen, dem ich wohl irgendwie gefiel, hatte mich sogar mal eingeladen, mit ihr und ihrer Familie surfen zu gehen. Ich hatte Nein sagen müssen und das Mädchen war sauer gewesen. Sie hatte dann jemand anders mitgenommen, einen unerträglichen Typen aus der Klassenstufe über uns.

»Ich konnte nicht riskieren, mit dir ins Meer zu gehen«, fuhr Johnny fort. »Ein nicht ausgebildeter Gestaltwandler mit deiner Kraft ist gefährlich! Ich bin halt auch kein Hai, sondern nur ein Zackenbarsch. Du hättest mich bestimmt nicht verletzen wollen, aber …«

»Das ist alles ein schlechter Witz, oder?« Ich fragte es mit letzter Hoffnung. Eigentlich veralberte mich Johnny nicht besonders oft, weil er wusste, dass er nicht damit durchkam (ich merkte es jedes Mal an seinem linken Mundwinkel, der dann ein klein wenig zu zucken begann). Diesmal zuckte sein Mundwinkel nicht. Konnte das die Wahrheit sein?

Nein, nein, bestimmt nicht, das klang alles wie aus irgendeinem Film. Wir gingen nicht gerade oft ins Kino, aber manchmal schon, wenn Johnny im Motel ein größeres Trinkgeld bekommen hatte, weil er jemandem den Reifen gewechselt oder ihm geholfen hatte, nachts um halb zwölf eine Flasche Bourbon aufzutreiben. Aber ich kannte sowieso keinen Film, in dem sich Leute in irgendwelche Meerestiere verwandelten. Was war, wenn es stimmte? Wenn er mir gerade die Wahrheit gesagt hatte?

Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich merkte, dass mein Mund sich bewegte, aber nichts kam heraus. Mühsam schaffte ich es, aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als ich in meinem Zimmer war, knallte ich die Tür hinter mir zu, warf mich aufs Bett und atmete tief durch, wieder und wieder.

Hai-Alarm – ein Alarm wegen mir? Falls das ein Traum war, musste ich jetzt ganz dringend versuchen aufzuwachen.

Seawalkers (1). Gefährliche Gestalten

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