Читать книгу Pine Ridge statt Pina Colada - Katja Etzkorn - Страница 15
Schweigen
ОглавлениеEin Klopfen weckte Sannah. Noch bevor sie reagieren konnte, steckte Josh seinen Kopf durch die Tür. Hecktisch zog sie das dünne Laken hoch. Sie hatte nichts an, weil es in dem kleinen Zimmer unter dem Dach so heiß war. „Aufstehen, du Schlafmütze!“, sagte er und ging mit einem zufriedenen Grinsen die Treppe hinunter. Sie stand auf, zog sich an und sah auf die Uhr. Kurz vor sechs. Josh war ganz offenbar aus dem Bett gefallen. Aus der Küche duftete es nach Eiern mit Speck und Kaffee. „Wer bist du, und was hast du mit Josh gemacht?“, fragte sie, als sie die Treppe herunterkam.
Josh schenkte ihr einen Kaffee ein. „Ich habe tatsächlich ausgeschlafen“, gab er gut gelaunt zurück.
Sie setzte sich und schlürfte ihren Kaffee. Er stellte das Frühstück auf den Tisch und fing an zu essen. Josh als strahlende Hausfrau irritierte sie völlig. Als Jonas den Abwasch gemacht hatte, fand sie das normal, Josh hingegen wirkte auf sie gerade wie die Parodie von Freddie Mercury in dem Video „I want to break free“, fehlte nur die Küchenschürze und der Schnauzer. Sannah grinste vor sich hin, während sie die Rühreier vertilgte.
„Vielleicht sollte ich öfter mal früher schlafen gehen“, stellte er fest.
„Ach nein!“, protestierte Sannah. „Ich finde den Morgenmuffel mittlerweile ganz charmant, außerdem ist es langweilig, abends alleine draußen zu sitzen.“
„Du hast mich also vermisst“, stellte Josh breit grinsend fest.
Sannah wechselte lieber das Thema, sie hatte sich gestern schon zu weit aus dem Fenster gelehnt. „Hast du dein Smartphone schon aufgeladen?“
Er nickte mit vollem Mund und kaute zu Ende. „Wäre mir auch ganz lieb, wenn wir das gleich noch in Betrieb nehmen könnten, damit ich nachher Thompson meine Nummer geben kann.“
„Dauert nur ein paar Minuten“, versicherte sie.
„Was hast du gestern Abend denn ohne mich noch gemacht?“, griff Josh das Thema wieder auf.
„Ich habe Jonas und Annegret noch E-Mails geschrieben, hätte ich schon viel eher machen sollen. Die haben sich bestimmt schon Sorgen gemacht“, sagte sie mit schlechtem Gewissen. Sie hatte sich zuletzt von Denver aus gemeldet und seit dem kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Gerade Annegret nahm das sicher krumm, Jonas war da entspannter.
Josh spülte den letzten Bissen mit Kaffee runter. Der Name Jonas versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube, er ließ sich aber nichts anmerken und stocherte in seinem Essen herum. Seine bislang gute Laune war schlagartig verflogen. „Kann ich mit dem Smartphone auch E-Mails empfangen?“, fragte er ernüchtert.
„Sicher!“, bestätigte Sannah, die seinem Stimmungsumschwung noch nicht bemerkt hatte.
„Vielleicht schreibst du mir dann auch mal, wenn du endlich wieder zu Hause bist“, sagte er verbittert und stand auf.
Sie sah verwirrt von ihrem Teller auf. Josh sah sie nicht an und ging raus zum Stall. Seine Worte hatten ihr einen Stich versetzt. Gekränkt blieb sie sitzen und fragte sich, was so urplötzlich in ihn gefahren war.
Josh fing an, seine Verkaufspferde auf Hochglanz zu polieren. Er war auf sich selbst wütend. Wie hatte er so naiv sein können, anzunehmen, dass eine Frau wie sie allein lebte. Natürlich tat sie das nicht. Sie war jung, wunderschön und sprühte vor Leben. Sicher gab es einen Mann, und der hieß Jonas. Er war aber auch enttäuscht von Sannah. Warum hatte sie ihn geküsst, wenn zu Hause jemand auf sie wartete? Ihm hatte der Kuss etwas bedeutet, ihr offenbar nicht. Mieses Spielchen, und er war darauf hereingefallen. Verbissen putzte er weiter. Er hatte seine eigenen Vorsätze über den Haufen geworfen und war ihr nicht aus dem Weg gegangen, jetzt bekam er die Quittung dafür. Er war nur froh, dass ihm die Augen rechtzeitig aufgegangen waren. Außer diesem Kuss war nichts passiert, was er hätte bereuen müssen. Ab sofort wollte er sich an seine Prinzipien halten. Frauen machten nichts als Ärger. Das erste Pferd war fertig, und Josh brachte es in den Laufstall; als er das nächste von der Weide holte, hörte er, wie ihr Wagen davonfuhr.
Sannah hatte wie betäubt in der Küche gesessen. „Wenn du endlich wieder zu Hause bist“ … und der Tonfall in seiner Stimme. Als könnte er es nicht erwarten, dass sie ging. Nach all den Gesprächen und der Freundschaft, die zwischen ihnen entstanden war, verwandelte er sich ohne ersichtlichen Grund wieder in einen Eisberg. Wollte er ihr damit zu verstehen geben, dass sie zu weit gegangen war? Je länger sie darüber nachdachte, um so mehr tat es weh.
Kopflos lief sie in ihr Zimmer und griff nach ihrer Brieftasche und dem Autoschlüssel, der seit ihrer Ankunft unangetastet auf dem kleinen Tisch lag. Sie überlegte, ob sie mit ihm reden sollte, aber sein Gesichtsausdruck beim Rausgehen war mehr als deutlich gewesen. Er würde nicht reden. Also lief sie zum Auto und fuhr los. Einfach nur weg, wohin, war ihr egal. Nach der holprigen Zufahrt bog sie rechts ab auf die Hauptstraße. Auf der ebenen Straße musste sie sich nicht mehr so konzentrieren. Sannah verfiel in dumpfes Brüten. Was hatte sie nur gesagt oder getan, dass er so reagierte? Wenn der Kuss für ihn unangemessen gewesen wäre, hätte er ihn doch wohl kaum erwidert. Sie war an dem Tag zu weit gegangen, so viel war sicher, aber sie hatte nicht den Eindruck gehabt, dass er das genauso sah. Er war verblüfft gewesen, nicht verärgert, außerdem hatte er es herausgefordert. Es konnte auch kaum daran liegen, dass sie E-Mails an Freunde geschrieben hatte.
Sannah drehte das Radio auf. Der Sendersuchlauf startete automatisch und blieb bei Kili Radio hängen. Eine Frauenstimme sprach auf Lakota, anschließend folgte traditionelle Musik. Sie schaltete wieder ab. Momentan wollte sie nicht auch noch vom Radio daran erinnert werden, wo sie sich befand. Kurze Zeit später fuhr sie an Wounded Knee vorbei und spürte wieder diesen Stich in der Brust. Gestern hatte Josh sie dort oben in die Arme genommen, und sie hatte die Welt um sich herum vergessen. Noch nie hatte sie sich so geborgen gefühlt wie in diesem Moment. Der Stich bohrte sich tiefer, als ihr bewusst wurde, dass sie genau das wollte. Das Gefühl von Geborgenheit in seinen Armen. Wieder schnürte sich ihre Kehle schmerzhaft zu. Sannah rang um ihre Fassung und landete eine Viertelstunde später in Pine Ridge. Da sie keine Ahnung hatte, was sie hier hätte machen können, fuhr sie zum Shoppingcenter. Schokolade und Eiscreme waren immer noch das bewährte Mittel als Seelentröster und Nervennahrung. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Wagen der einzige auf dem Parkplatz war. Der Laden öffnete erst um acht. Sie fuhr zu einem Sandwich-Laden zwei Blocks weiter. Ein paar Autos auf dem Parkplatz verrieten ihr, dass man hier um diese Uhrzeit schon etwas bekam. ‚Wenigstens etwas‘, dachte sie und stieg aus. Drinnen kaufte sie sich einen Kaffee und einen Schoko-Cookie und setzte sich in die hinterste Ecke. Der Kaffee war ganz okay und der Cookie klebrig und süß. Genau das brauchte sie jetzt. Sie starrte aus dem Fenster und beobachtete das Treiben auf der Hauptstraße, als ein Wagen der Tribal Police genau neben ihrem hielt. Sam stieg aus, schaute noch mal auf ihr Nummernschild und ging dann in den Laden.
„Hi, Sam“, begrüßte ihn der junge Mann hinter dem Tresen. „Das Übliche?“
Sam nickte freundlich und rieb sich mit einer Hand über die Augen. Er sah sich im Gastraum um, und als er Sannah entdeckte, lächelte er und setzte sich zu ihr an den Tisch.
„Hey, hab ich deinen Wagen doch richtig in Erinnerung“, stellte er fest und grinste fröhlich.
„Hallo, Sam“, grüßte sie zurück und versuchte, ein möglichst neutrales Gesicht zu machen. Sie wollte nicht, dass er merkte, was mit ihr los war.
„Was machst du denn hier, um diese Uhrzeit?“, fragte er erstaunt.
„Ich wollte nur schnell was einkaufen, bin aber zu früh dran“, antwortete sie.
Der junge Mann vom Tresen brachte das Sandwich und den Kaffee an den Tisch.
„Stimmt so, Luke“, sagte Sam und drückte ihm Geld in die Hand.
„Und wo ist Josh?“, erkundigte sich Sam, bevor er seinen Kaffee trank.
„Der putzt die Pferde, denke ich“, sagte sie arglos.
Sam sah sie entgeistert an. „Er lässt dich alleine hierher fahren?“
„Ich habe ihn nicht um Erlaubnis gefragt, warum sollte ich?“, konterte Sannah etwas irritiert.
Luke spitzte hinter seinem Tresen die Ohren. Sie bemerkte das Interesse und ahnte schon, dass der Moccasin Telegraph wirklich überall war.
„Das ist ein freies Land“, erklärte sie trotzig. „Ich kann fahren, wohin ich will.“ Langsam verwandelte sich ihre Niedergeschlagenheit in Zorn. Das wäre ja noch schöner, wenn er ihr vorschreiben würde, was sie tun oder lassen darf.
„Weil es gefährlich ist, Sannah“, entgegnete Sam in der gleichen ruhigen Art wie Josh. „ Abends lassen sich viele drüben in White Clay volllaufen und fahren dann in den frühen Morgenstunden sturzbetrunken nach Hause. Frühmorgens ist immer die Zeit mit den meisten schweren Autounfällen. Heute Nacht waren es zwei allein hier in Pine Ridge. Du bist wirklich nicht von hier“, stellte er sachlich fest. „Was ist los bei euch, habt ihr Zoff?“, hakte er mit dem untrüglichen Gespür eines Cops nach.
Sannah beschloss ehrlich zu sein. „Zoff bedeutet, dass man sich streitet, aber Josh streitet nicht. Er ist sauer auf mich und mault herum. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum. Also hab ich mich ins Auto gesetzt und bin einfach weggefahren. Abgesehen davon ist alles bestens. Ich bin ja schließlich nur zu Besuch da. Ab Mitte August hat er dann wieder seine Ruhe vor mir. Ich wette, er zählt schon die Tage.“ Es klang resigniert.
Sam schüttelte nur den Kopf. Das war wieder typisch Josh. Er hatte gehofft, dass Josh durch Sannah zur Besinnung kommen würde. Vor ein paar Tagen hatte ja auch alles danach ausgesehen, aber ganz offenbar saß White Cloud jetzt wieder in der hintersten Windung seines Schneckenhauses und schmollte. „Dann stimmt die exotische Variante also?“, fragte er mit einem kleinen Grinsen.
Sie nickte. „Ist mir zwar ein Rätsel, was daran exotisch ist, aber ja.“
„Mir gefiel die Variante vom Moccasin Telegraph besser“, meinte Sam ehrlich. „Ich bin sein bester Freund und deswegen kann ich dir keine Einzelheiten erzählen, aber gib ihm ein bisschen Zeit, er kriegt sich schon wieder ein. Er mag dich, und du tust ihm gut, Sannah.“
„Das glaube ich nicht, Sam. Am Anfang hat er mich angesehen wie etwas, in das man tunlichst nicht reintreten will. Abgesehen davon ist es ohnehin egal“, antwortete sie.
Sam fing an zu lachen. „Du bist eine Klapperschlange!“
„Bitte?“, fragte sie jetzt völlig irritiert.
Sam lachte immer noch. „Für Josh gibt es nur zwei Arten von Frauen: Kornnattern und Klapperschlangen. Kornnattern beachtet er nicht, weil sie ihm nicht gefährlich werden können. Klapperschlangen dagegen lassen ihn nicht kalt, sie können ihm gefährlich werden, und darum geht er ihnen aus dem Weg. Jedenfalls versucht er das. Dir kann er aber nicht aus dem Weg gehen. Ich denke, du hast ihn schon gebissen, und jetzt leckt er seine Wunden.“ Sam verspeiste die Reste seines Sandwichs und amüsierte sich weiter. Sein Funkgerät an der Schulter gab krächzende Geräusche von sich, und er meldete sich. Ein unverständliches Krächzen folgte als Antwort.
„Ich muss los, die Arbeit ruft. Wir sehen uns beim Football. Nicht vergessen!“, verabschiedete er sich, schnappte sich seinen Kaffee, lief zum Auto und fuhr los.
Sannah war es durch die fröhliche Art von Sam ein bisschen leichter ums Herz. Seine Erklärung klang zumindest plausibel. Sie trank ihren Kaffee aus und ging ebenfalls. Im Supermarkt plünderte sie die Süßigkeitenabteilung und legte sich einen Vorrat Seelentröster an. Für den Fall, dass Joshs miese Laune länger anhalten würde. An der Fleischtheke waren Hähnchen im Angebot. ‚Chlorhuhn macht weiße Zähne‘, dachte sie boshaft und grinste. Kaufte dann aber doch eins. Sie hatte Appetit auf ihr Leibgericht bekommen. Hähnchen Ragout-Fin. In der Gemüseabteilung suchte sie noch die restlichen Zutaten zusammen und kaufte noch zwei Bücher, um gegebenenfalls die Zeit totschlagen zu können. Übelste Liebesschnulzen, aber das war ihr egal.
Um diese frühe Uhrzeit waren noch nicht viele Kunden da, und so war sie kurze Zeit später wieder auf dem Rückweg. Durch Sams Warnung aufmerksam geworden, fuhr sie vorsichtiger, aber es war nichts los. Wahrscheinlich hatten die Schnapsdrosseln alle schon nach Hause gefunden.
Als sie auf den Hof fuhr, parkte dort ein riesengroßer protziger Trailer, wie man ihn meist nur in den USA sieht. Eine Kombination aus Wohnmobil und Pferdetransporter. Mark Thompson war da. Er sah aus wie ein typischer Rancher aus dem Mittleren Westen. Angegraute Schläfen, leichter Bierbauch, Hemd mit Weste, Jeans, teure Stiefel und der nicht wegzudenkende Stetson-Hut auf dem Kopf. Neben ihm, genauer betrachtet neben Josh, eine lebende Silikon-Barbie, augenscheinlich die Tochter. Ihr Anblick erinnerte Sannah an eine gut sortierte deutsche Metzgerei. Eine prall gefüllte Fleischauslage, spärlich dekoriert mit Salatblättern aus Plastik. Die Dekoration im Gesicht der künstlichen Blondine war dafür umso üppiger. Mit dieser Menge an Konservierungsmitteln hätten die ägyptischen Mumien heute ausgesehen wie just verblichen. Sannah nannte diese Krönung der kosmetischen Industrie der Einfachheit halber Barbie.
Barbie hatte Josh offensichtlich zu ihrem Ken auserkoren und streifte um ihn herum wie eine rollige Katze. Josh war, angesichts der zur Schau gestellten Fleischauslage, zum Vegetarier mutiert, hatte die Hände in den Hosentaschen versenkt und die Schultern hochgezogen.
Trotz seiner eindeutigen Körperhaltung schoss Sannah augenblicklich ein anderes Gefühl durch den Magen: Eifersucht oder zumindest die Gift spritzende Vorstufe davon. Aus eigener schmerzlicher Erfahrung wusste sie nur zu gut, dass die Kerle früher oder später doch anfingen, die Steaks auf den Grill zu hauen. Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie hatte Jonas erwähnt, als Josh heute Morgen seine Show abgezogen hatte. Er war eifersüchtig oder befand sich zumindest in der besagten Vorstufe. Sie grinste boshaft.
‚Erwischt‘, dachte sie. Gestärkt durch diese Erkenntnis, hatte sie nun wieder Oberwasser und stieg, mit der großen Tüte voller Einkäufe bepackt, aus dem Auto. Da Sannah eine gute Kinderstube genossen hatte, ging sie auf die Gruppe zu, um guten Tag zu sagen.
Thompson strahlte sie mit einem breiten, freundlichen Lächeln an. „Wir haben bestimmt gestern Früh telefoniert“, stellte er fest. Sannah schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln und antwortete höflich: „Ganz genau, Sir, freut mich Sie kennenzulernen.“
„Nennen Sie mich Mark“, bot er unkompliziert an.
„Ich bin Sannah“, sagte sie und ergriff seine Hand.
„Das ist meine Tochter Pippa“, stellte er die Barbie vor. Der britische Vorname verlieh ihr auch nicht mehr Stil, stellte Sannah im Geiste fest. Da Püppi, nein, Pippa, neben Josh stand, musste sie sich umdrehen, um ihr ebenfalls die Hand zu geben. Sannah hatte einen festen Händedruck, zugegebenermaßen vielleicht ein bisschen zu fest, als sie Pippa dabei mit einem eisigen Blick bedachte, zuckte diese leicht zusammen. Josh sah zuerst die Einkaufstüte vom Shoppingcenter, dann Sannah konsterniert an. Sie ignorierte ihn komplett und wendete sich nun wieder Thompson zu.
„Bitte, entschuldigen Sie mich. Das muss dringend in den Kühlschrank“, erklärte sie, deutete mit dem Kopf auf die Einkäufe und verschwand in Richtung Haus. Sie lächelte hämisch über das ganze Gesicht. „Klapperschlange? Kann ich!“, murmelte sie leise vor sich hin.
Nachdem sie die Einkäufe in den Kühlschrank verfrachtet hatte, warf sie noch einen Blick nach draußen. Da die Küchentür im Schatten der Veranda lag, konnte man sie vom Hof aus nicht sehen. Püppi hatte sich schmollend zu ihrem Daddy verzogen, und Josh hatte eine etwas entspannter wirkende Körperhaltung angenommen. Offenbar war die Verabschiedung in vollem Gange, als Josh auf die Küchentür zuging. Sannah zog sich zurück und suchte einen großen Topf für das Huhn aus dem Schrank. Er kam rein und schrieb die Telefonnummer seines Handys vom Karton ab. Sie würdigte ihn keines Blickes. Er sollte zur Strafe im eigenen Saft schmoren, bis er gar war, hatte sie beschlossen. Josh lief wieder nach draußen und drückte Thompson den Zettel in die Hand. Püppi saß schon im Barbiemobil. Einen Moment später rollte das Gefährt vom Hof.
Mittlerweile war es fast Mittag, und Sannah hatte begonnen, das Gemüse zu putzen und in kleine Würfel zu schneiden. Josh stand etwas unschlüssig auf dem Hof und wusste nicht so recht, was er nun machen sollte. Ihm war nicht entgangen, dass sie stinksauer war, und mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Verletzt oder traurig, ja. Aber stattdessen kochte sie vor Wut. Sein Hunger siegte über seinen Stolz. Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und warf ihr einen vorsichtigen Blick zu. Sannah köpfte mit einem gezielten Schlag des Messers eine Stange Lauch. Er zuckte leicht zusammen. Das war deutlich! Er machte sich ein Sandwich und verzog sich damit auf die Veranda. So mussten sich seine Vorväter gefühlt haben, wenn ihnen die Frauen das Sattelzeug vor das Tipi gestellt hatten. Drinnen herrschte eisiges Schweigen, und Mann saß vor der Tür. Er aß sein Sandwich auf und ging mit dem neuen Ausbildungspferd eine Runde spazieren. Mittlerweile war er zu der Erkenntnis gelangt, dass seine Reaktion am Morgen wohl etwas zu heftig gewesen war. Vielleicht war dieser Jonas auch einfach nur ihr Bruder. Jedenfalls war er sich sicher, dass sie genau wusste, worum es ging. Sannah war weder dumm noch unsensibel. Wenn Chloe wütend gewesen war, hatte sie getobt und gezetert. Er hatte sie dann einfach stehen lassen und sich zu Sam verzogen, manchmal auch über Nacht. Sannah benahm sich dagegen wie eine echte Lakota. Sie drehte ihm den Rücken zu, würdigte ihn keines Blickes und schwieg. Sie zeigte ihm nicht nur deutlich ihre Missbilligung, sondern bewahrte sich auch Würde und Stolz. Damit konnte er nicht umgehen, weil er es nicht gewöhnt war. Ihr Verhalten brachte ihn in Zugzwang, denn so wie er Sannah einschätzte, war sie noch sturer als er selbst und würde das tagelang durchhalten. Aber er nicht. Ihre Energie war derart groß, dass man sie fast mit Händen greifen konnte. Frauen sind stärker als Männer, hatte sein Vater ihm immer gepredigt. Als Teenager hatte er das nicht begriffen. Mädchen waren in seinen Augen klein und schwächlich. Genaugenommen fing er jetzt erst an zu verstehen, was sein Vater gemeint hatte. Ein Volk ist erst besiegt, wenn die Herzen der Frauen im Staub liegen. So lautete ein altes Sprichwort der Cheyenne. Sie hatten alle recht. Trotzdem beschloss er, noch eine Weile zu warten, bis Sannahs Feuer weiter runtergebrannt war und sich der Rauch verzogen hatte. Er wollte sich nicht mehr Brandblasen einhandeln als unbedingt nötig.
Sannah verbrachte fast den ganzen Nachmittag in der Küche. Ragout-Fin brauchte Zeit. Als sie damit fertig war, bereitete sie noch den Teig für das Stockbrot vor. Josh war inzwischen von seinem Spaziergang zurück und ritt auf dem Platz, unter anderem auch die Dynamitstange. Sannah beseitigte das Chaos in der Küche und ging anschließend duschen. Als sie aus dem Bad kam, öffnete sie die Fenster in ihrem Zimmer, in der Hoffnung, einen kühlen Luftzug einfangen zu können. Mit Buch und Schokolade bewaffnet lümmelte sie sich aufs Bett und fing an zu schmökern. Das Buch war besser, als das Cover hatte erwarten lassen, und so merkte sie nicht, wie die Zeit verging. Erst als sie durch das geöffnete Fenster hörte, dass die Herde zur Tränke kam, wurde ihr klar, dass sie den restlichen Nachmittag mit Lesen vertrödelt hatte. Von der Schokolade war auch kaum noch was übrig. Sie legte das Buch beiseite und blickte aus dem Fenster.
Josh stieg gerade von der Dynamitstange und lobte das Pferd überschwänglich. Sie wollte sich lieber gar nicht vorstellen, welche Geschwindigkeit der Jungspund entwickelte, wenn man ihn machen ließ. Aber es musste gut gewesen sein, denn Josh strahlte übers ganze Gesicht. Er musste ihren Blick gespürt haben, oder es war Zufall, aber Josh sah zu ihrem Fenster hinauf und entdeckte sie. Das Strahlen verschwand augenblicklich von seinem Gesicht, und er wendete sich wieder dem Pferd zu. Beim Anblick der Pferde und durch das Buch abgelenkt, hatte sie die dicke Luft, die zwischen ihnen herrschte, fast schon vergessen. Jetzt wurde ihr schlagartig wieder klar, dass ihnen die Auseinandersetzung noch bevorstand. Sie gönnte sich den Rest der Schokolade und las weiter.
Eine Stunde später erschien Josh in der Küche, wusch sich die Hände und holte die Cola aus dem Kühlschrank. Um die Wogen etwas zu glätten, stellte er zwei Gläser auf den Tisch. Sannah füllte das Essen auf die Teller und stellte es Josh wortlos vor die Nase. Sie setzte sich und fing an zu essen, ohne ihm Beachtung zu schenken. Den ganzen Tag hatte sie sich auf das Ragout gefreut. Zuhause machte sie es meist nur, wenn Besuch anstand. Für sich allein war ihr der Aufwand zu groß. Josh machte sich mit großem Appetit über seine Portion her und entspannte sich etwas. Das Feuer war anscheinend heruntergebrannt, also wagte er einen Versuch. „Das ist gut“, stellte er fest. „Was ist das?“
„Klapperschlangen-Ragout“, antwortete sie schnippisch.
Er sah sie entgeistert an, das konnte sie unmöglich wissen. Oder hatte er sich mal verplappert? Er schluckte und machte sich auf gewaltige Brandblasen gefasst.
Das weitere Abendessen verlief wortlos. Danach kochte Sannah sich einen Tee und ging damit nach draußen. Josh blieb noch in der Küche sitzen und versuchte, den nötigen Mut zusammenzukratzen. Er stand auf und ging ihr hinterher. Sie hatte sich nicht wie üblich auf die Bank gesetzt, sondern vorn auf die oberste Stufe der Verandatreppe, und sah hinüber zu den Pferden. Er fasste sich ein Herz und setzte sich direkt hinter sie, so dass sie sich zwischen seinen Knien wiederfand. Sannah schwieg weiter, machte aber auch keine Anstalten aufzustehen. Josh sah das als Zeichen, dass sie bereit war ihm zuzuhören. Er legte seine Arme um sie und zog sie an sich heran.
„Lakota entschuldigen sich nicht. Unbedachte Worte oder Taten lassen sich dadurch nicht ungeschehen machen. Ich hätte heute Morgen besser schweigen sollen.“
Sannah erwiderte nichts, sondern dachte über seine Worte nach. Er hatte völlig recht. Es war sogar viel sinnvoller als die verlogenen Umgangsformen der heutigen Gesellschaft. Alle logen, betrogen und verletzten sich gegenseitig und glaubten, mit einem geheuchelten Sorry oder einer Beichte wäre das Sündenkonto dann wieder auf Null. Doch dem war nicht so. Die anderen blieben mit Wunden zurück, und manche davon heilten nie. Stattdessen sollte man vorher darüber nachdenken, was man sagt. Für Sannah war das besser als jede Entschuldigung. Sie stellte ihre Tasse beiseite, drehte sich ein wenig zu ihm um und legte ihre Hände auf seine.
„Jonas ist ein Kollege von mir, der so nett ist, auf mein Haus aufzupassen. Er mäht den Rasen, gießt die Blumen und macht den Briefkasten leer. Dafür hat er hin und wieder eine Mail verdient, finde ich. Das nächste Mal schweigst du nicht, sondern fragst mich einfach.“
Josh zog sie noch dichter an sich und küsste sie auf den Hals.
„Danke.“
„Wofür?“, fragte sie.
„Für deine Großzügigkeit. Ich hatte mich im Geiste schon auf Brandblasen und blaue Flecke eingestellt“, gestand er.
Sannah lachte. „Du kannst von Glück reden, dass die Baseball-Schläger in Pine Ridge ausverkauft waren“, frotzelte sie.
„Mach das bitte nicht noch mal. Ich hab mir Sorgen gemacht.“
Sie nickte und gab den kläglichen Rest ihres Widerstandes auf. Josh fing an, sie ganz sacht hin und her zu wiegen. Sannah schloss die Augen und schlief fast ein vor Wonne. Sie saßen eine ganze Weile so auf der Veranda und genossen die Nähe des anderen.
Irgendwann murmelte Josh in ihr Ohr: „Ich hätte noch eine Frage.“
„Hm“, brummelte Sannah schläfrig.
„Schläfst du eigentlich immer nackt?“, flüsterte er anzüglich. Sannah war schlagartig wieder hellwach. Offenbar hatte sie das Laken am Morgen nicht schnell genug hochgezogen.
„Das wüsstest du wohl gern“, antwortete sie verschmitzt.
Josh strich sanft eine Strähne aus ihrem Gesicht. „Ja, das wüsste ich gern“, sagte er leise.
Sie schälte sich langsam aus seiner Umarmung. „Ich werde es dir aber nicht verraten. Gute Nacht und träume was Schönes, was auch immer.“ Sie lächelte zweideutig, gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, stand auf und ging ins Haus. Auf dem Weg in ihr Zimmer startete ihr limbisches System eine wütende Demonstration und protestierte lautstark gegen ihren Rückzug.
„Klappe!“, flüsterte Sannah energisch. Sie wollte sich nicht zu noch größeren Dummheiten hinreißen lassen. Die Versuchung war zugegebenermaßen groß, allerdings waren die daraus resultierenden Konsequenzen noch größer. Sie war schon viel zu weit gegangen. Limbisia zuckte zusammen, ließ ihr Protestschild sinken und schmollte, während die Rottenmeier mit einem selbstgefälligen Lächeln am Schreibtisch saß und Papiere abheftete.
Josh aber blieb noch einen Moment draußen, beobachtete die Pferde und versuchte vergeblich, sein Kopfkino abzustellen.