Читать книгу Pine Ridge statt Pina Colada - Katja Etzkorn - Страница 6
Gerüchteküche
ОглавлениеDie nächste Woche verlief recht ereignislos. Der neue Kollege war nett und kompetent, so dass seine Einarbeitung gute Fortschritte machte. Sannah traf in der Kantine auf Jonas, der sein überladenes Tablett in ihre Richtung balancierte und sich neben ihr auf einen Stuhl fallen ließ. „Hallo Gasmann. Gab es bei euch mal wieder nichts zu essen?“, begrüßte sie ihn fröhlich. Jonas lebte immer noch in seiner alten Studenten-WG. Der Immobilienmarkt in Hamburg war katastrophal, bezahlbare Wohnungen kaum zu bekommen. Da er weder Lust noch Zeit hatte, einen Maklertermin mit fünfzig anderen Interessenten zu absolvieren, war er einfach in seiner WG geblieben und mittlerweile der amtierende Dinosaurier.
Jonas sah sie überrascht an. „Machst du jetzt doch die Umschulung zum Weihnachtsmann, oder haben sie dir nur neue Batterien eingebaut?“, fragte er und grinste mit seinem jungenhaften Charme. „Letzte Woche hast du noch Trübsal geblasen, und jetzt strahlst du wie ein Honigkuchenpferd.“
„Ich habe bald Urlaub“, erklärte sie erfreut.
Jonas begann sich mit seinem Nudelauflauf zu beschäftigen. Er kaute mit vollen Backen.
„Deswegen habe ich auch einen Anschlag auf dich vor“, kündigte sie an.
„Ich soll mit?“, nuschelte er und zwinkerte ihr zu.
Sie grinste schief. „Nein, du sollst bei mir einziehen“, konterte sie.
Jonas verschluckte sich fast und grinste sie breit an. „Einziehen? Weißt du, Süße, ich wollte dich ja erst mal zum Essen einladen und abwarten, wie es sich so zwischen uns entwickelt. Aber wenn du es so eilig hast, dass ich zu dir ziehe, bitte!“ Er hob ergeben seine Hände. „Verfüge über mich!“
Jetzt war es Sannah, die sich fast verschluckte. Fürsorglich klopfte ihr Jonas auf den Rücken und registrierte amüsiert, dass ihr Gespräch etliche neugierige Zuhörer gefunden hatte. Binnen einer halben Stunde würde die Gerüchteküche brodeln.
Er stopfte sich unbeeindruckt die nächste Ladung Auflauf in den Mund.
„Du wohnst doch immer noch in deinem kleinen WG-Zimmer“, fuhr Sannah fort. „Ich dachte, du passt ein bisschen auf mein Häuschen auf, gießt die Blumen und machst den Briefkasten leer. Dafür hättest du endlich mal genug Auslauf und ab und an ein Vollbad“, entgegnete sie mit einem kleinen boshaften Lächeln.
Jonas nahm nun den Nachtisch in Angriff. Vanillecreme, eine Krönung der chemischen Lebensmittelindustrie. Die Konsistenz erinnerte Sannah stark an Bauschaum. Zwischen zwei vollen Löffeln antwortete er: „Deine Topfpflanzen und ich werden in den drei Wochen viel Spaß haben.“
„Drei Monate“, verbesserte Sannah.
„Drei Monate?“, fragte er erstaunt. „Wo willst du denn hin? Zum Nordpol?“
Sie lachte. „Nein, auf eine Ranch in South Dakota. Heißt das also ja? Du spielst den Housesitter?“
„Na klar!“, meinte Jonas. „Wer weiß, ob ich je wieder die Gelegenheit erhalten werde, deine heiligen Hallen zu betreten. Außerdem bin ich es ja gewohnt, dass du meine Illusionen zerstörst“, jammerte er mit gespielter Leidensmiene.
Sie sah ihn erstaunt an. „Was denn für Illusionen?“
„Nun“, erläuterte Jonas sein Kopfkino. „Als du Urlaub gesagt hast, stellte ich mir vor, dass du deinen Luxuskörper in einen knappen Bikini steckst und dich lasziv an irgendeinem Tropenstrand aalst. Stattdessen habe ich jetzt das Bild von dir in derben Stiefeln und Kuhfladen vor meinem geistigen Auge. Bikini gefiel mir besser!“ Er grinste anzüglich.
Sannah stand auf und musterte ihn mit leichter Missbilligung. Dann beugte sie sich zu ihm herunter. „Bei mir läuft auch gerade Kopfkino. Dein muskulöser Body in einer eng anliegenden Badehose.“ Sie machte eine künstlerische Pause und schnurrte verführerisch: „Am Nordpol!“ Lachend verließ sie die Kantine und ließ Jonas frierend zurück.
Nach Dienstschluss beeilte sich Sannah noch, zum nahegelegenen Supermarkt zu fahren. Annegret war aus dem Urlaub zurück, und Sannah freute sich auf einen Mädelsabend. Vorher musste sie allerdings noch dringend ihre Weinvorräte aufstocken und etwas zu essen besorgen. Es war Freitagabend, und es konnte durchaus eine lange Nacht werden, je nachdem, was Anne so alles zu berichten hatte. Von ihren eigenen neuen Plänen ganz zu schweigen. Sie lief durch die Gänge und lud eine Kiste Rotwein in ihren Einkaufswagen, dazu noch Käse, Baguettes, Oliven und Knabberkram. Als sie an der Tiefkühltheke stand, dachte sie über Eiscreme nach.
„Nein“, entschied sie. Eiscreme gab es traditionell nur bei Liebeskummer, und der stand zum Glück nicht an.
„Ich mag Walnuss“, tönte es über ihre Schulter. Es war Jonas. Er stand, beladen mit einer Wochenration Pizza, hinter ihr und warf erleichtert seinen Einkauf in ihren Wagen. „Hatte keinen Euro für den Wagen, und meine Hände frieren gleich ab“, erklärte er.
„Und ich dachte, du akklimatisierst dich schon mal für die Arktis“, gab Sannah zurück.
Er warf ihr wieder seinen Dackelblick zu. „Bin ich auch zu deiner Party eingeladen?“, fragte er, nachdem sein Blick über ihre Einkäufe geschweift war.
„Sollte zwar ein Mädelsabend werden, aber warum nicht? Dann lernst du auch mal Anne kennen“, stimmte sie zu.
Jonas strahlte sie an. Gemeinsam zogen sie weiter durch die Gänge, und Jonas komplettierte seinen Einkauf noch mit einer üppigen Auswahl an Süßigkeiten.
„Für die WG!“, versicherte er, als er ihren Blick sah.
Als sie sich in Richtung Kasse begaben, lief ihnen eine der OP-Schwestern über den Weg. Sie sah die beiden mit wissendem Blick an und grüßte eine Spur zu freundlich. Die Gerüchteküche hatte Überstunden gemacht. Auch Sannah waren die Zuhörer in der Kantine nicht entgangen.
„Wieso habe ich gerade das Gefühl, einen Kinderwagen zu schieben?“, murmelte sie Jonas zu und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
„Weil am Montag unsere Verlobungsanzeige am schwarzen Brett hängt“, raunte er zurück. Er legte ihr demonstrativ den Arm um die Schultern und fragte laut und deutlich: „Ob die hier auch Ringe verkaufen, Schatz?“
Um Sannahs Fassung war es geschehen. Sie schüttelte sich vor Lachen, und die Schwester verschwand schnell um die Ecke des nächsten Gangs. Spätestens morgen früh würden in der Gerüchteküche die Sicherungen herausknallen.
Auf dem Parkplatz luden sie ihre Einkäufe gutgelaunt in Sannahs Auto. Jonas, der wie üblich zu Fuß unterwegs war, setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Wann kommt denn Annegret?“, wollte Jonas wissen.
„Ich denke so gegen acht“, sagte Sannah. „Sie ist heute erst aus dem Urlaub zurückgekommen und hat sich bestimmt noch ein bisschen hingelegt.“
„Und dann schmeißt ihr noch am gleichen Tag eine Party?“, fragte Jonas erstaunt.
„Na klar!“, bestätigte sie. „Urlaubserinnerungen müssen erzählt werden, solange sie frisch sind.“ Die pikanten Details würden allerdings erst zur Sprache kommen, wenn Jonas wieder weg war. Das behielt sie aber für sich.
„Dann nehme ich mir für deine Urlaubsparty wohl besser gleich eine ganze Woche frei“, stellte Jonas fest. „Wie bist du eigentlich auf den Ranch-Aufenthalt gekommen?“
Sannah winkte ab. „Erzähle ich euch nachher! Anne weiß noch nichts davon. Sie wird mich heute sicher noch ins Kreuzverhör nehmen und mir den Prozess machen.“
„Anwältin?“, fragte Jonas.
Sie nickte. „Für Familien- und Eherecht, war damals echt hilfreich“, meinte sie verbittert.
Jonas schluckte trocken. Sannahs Ehe war ein sehr sensibles Thema, das in der Klinik möglichst vermieden wurde. Sannahs Exmann Markus war ebenfalls ein Kollege gewesen. Selbstbewusst und egozentrisch hatte er die deutlich jüngere Sannah um den Finger gewickelt. Die Hochzeit folgte schnell, nicht zuletzt, weil er sich davon finanzielle Vorteile versprach. Ihr Vater war ein erfolgreicher Immobilienmakler für die oberen Zehntausend der Hamburger Gesellschaft. Mit der Treue nahm es Markus nicht so genau, aber davon bemerkte Sannah zunächst nichts und hatte sich wie ein Opferlamm zur Schlachtbank führen lassen. Anfangs war noch alles gut, aber nach und nach kochte auch hier die Gerüchteküche hoch. Markus hatte mehrere Affären, und zwar so offensichtlich, dass auch Sannah nicht mehr die Augen davor verschließen konnte. Immer häufiger kam sie verheult zum Dienst, und ihre Kollegen mutmaßten, dass er sie auch schlagen würde. Eines Abends wurde daraus traurige Gewissheit, als sie mit Hämatomen, Platzwunden und einer schweren Gehirnerschütterung in der Notaufnahme eingeliefert wurde. Die Klinikleitung hatte Markus daraufhin fristlos gekündigt, und Sannah reichte die Scheidung ein. Jonas konnte nur zu gut verstehen, dass sie seitdem nichts von Männern im Allgemeinen und Kollegen im Besonderen wissen wollte. Er hatte das immer respektiert und ihr hilfreich zur Seite gestanden.
Bei Sannah angekommen, sah Jonas zum ersten Mal ihre kleine Villa. Sie war alt, mit verspielten Details, Gauben und Bogenfenstern. Eine kurze Treppe führte zur Eingangstür mit Schnitzereien und geschliffenem Glaseinsatz. Rosensträucher säumten den Weg und einen Großteil des Gartens. Idyllisch unter Kastanien gelegen, wirkte sie wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, das die Zeit verträumt hatte. Jonas lächelte, dieses Haus passte zu Sannah. Sie luden die Einkäufe aus dem Auto, und Jonas folgte ihr in die Küche. Sie deutete auf eine Tür, hinter der sich der Tiefkühler verbarg. Er räumte seine Pizzen ein, während sie den Teekessel auf den alten Gasherd stellte.
„Hast du Lust auf eine kleine Führung?“, bot sie an.
„Führung ist wohl der richtige Ausdruck“, meinte er fasziniert.
„Ich komme mir vor wie im Museum.“
Die Decken waren hoch, mit Stuck verziert. Die Böden bestanden aus Eichenholzdielen und in Flur, Küche und Bad aus weißen und schwarzen Steinfliesen. Die Badewanne hatte sogar noch Füße in Form von Löwenpfoten. Alle Räume waren liebevoll mit Antiquitäten möbliert. Jonas fühlte sich in eine andere Zeit versetzt. Im Wohnzimmer stand ein alter Flügel mit gedrechselten Beinen und geschnitzter Notenablage. Überall standen Tiffany-Lampen und tauchten die Räume in ein gedämpftes, behagliches Licht.
Jonas deutete auf den Flügel. „Darf ich?“, fragte er vorsichtig. Sannah nickte nur stumm und strich mit ihren Fingern zärtlich über den schwarzen Lack. Jonas setzte sich und begann zu spielen. Als die melancholische Melodie von Claire de Lune durch die Räume schwebte, stiegen Tränen in ihre Augen, die seltsam entrückt in die Ferne blickten. Der scharfe Pfiff des Wasserkessels riss Sannah aus ihren Erinnerungen.
Nachdem sie gemeinsam das Abendessen vorbereitet hatten, saßen sie mit einer Tasse Tee vor dem Kamin, der wohlige Wärme verbreitete. Sannah hatte zu ihrer fröhlichen Art zurückgefunden.
„Ich wusste gar nicht, das du so gut spielst“, sagte sie lächelnd. Jonas blickte betrübt zu Boden. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich dich damit zum Weinen bringe, hätte ich es gelassen.“
Sannah schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut. Der Flügel gehörte meiner Mutter. Seit ihrem Tod hat niemand mehr darauf gespielt. Es war schön, ihn wieder zu hören.“