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Reisefieber

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Die letzten drei Wochen vor Sannahs Abreise vergingen wie im Flug. Sie brauchte dringend noch neue Stiefel zum Reiten, ihre alten fielen fast auseinander. In ihrem Schlafzimmer stapelten sich die Sachen für den Koffer. Die Auswahl würde schwierig werden, sie durfte ja nur zwanzig Kilo mitnehmen. Sannah beschloss, auf alles zu verzichten, was sie auch vor Ort kaufen konnte. Im Internet hatte sie einen Sprachführer für Lakota entdeckt und bestellt. Sie bildete sich nicht ein, diese Sprache in so kurzer Zeit lernen zu können, aber für ein paar Höflichkeitsfloskeln würde es schon reichen. Praktischerweise enthielt das Buch auch ein paar Benimmregeln. Jonas würde sich am Vorabend einquartieren, damit sie ihm noch einige Dinge erklären konnte. Mit jedem Tag steigerte sich ihre Vorfreude, und sie konnte es gar nicht abwarten endlich aufzubrechen.

Als Jonas schließlich mit Sack und Pack vor der Tür stand, flatterte sie herum wie ein aufgescheuchtes Huhn. Er sah sich dieses Schauspiel eine Weile lang an, dann drückte er sie in ihren Sessel.

„Jetzt komm mal wieder runter, du benimmst dich ja schlimmer als meine Schwester vor ihrer Hochzeit“, mahnte er.

Sannah grinste schief. „Wenn das der Vorabend meiner Hochzeit wäre, säße ich jetzt im nächsten Flieger zum Südpol“, versicherte sie ihm glaubhaft.

„Wie wäre es mit Abendessen?“, wechselte er das Thema. „Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.“

Sie kochten zusammen. Nach dem Abendessen hatte sich Sannahs Aufregung auf ein Normalmaß reduziert. Sie packte die restlichen Sachen in ihren Koffer, während Jonas sich im Gästezimmer häuslich einrichtete. Danach gönnten sie sich noch ein Glas Wein vor dem Kamin.

„Du wirst mir fehlen“, sagte Jonas.

„Und was genau wird dir fehlen? Meine Hektik oder meine schlechte Laune in den letzten Monaten?“, spottete sie.

„Alles“, antwortete er lakonisch. „Drei Monate sind eine lange Zeit.“

Fräulein Rottenmeier, die Stimme der Vernunft in ihrem Oberstübchen, prüfte mit kritischem Blick den Thermostaten der Kühlkammer nebenan. Alles im grünen Bereich, stellte sie beruhigt fest. „Es ist gut, dass ich hier rauskomme“, erklärte Sannah ernst. „Hier im Haus werde ich ständig an meine Eltern erinnert, und in der Klinik erinnert mich alles an Markus. Ist doch kein Wunder, dass ich kurz vorm Durchdrehen war. Ich konnte nie abschalten. Deswegen bin ich mir nicht mal sicher, ob drei Monate überhaupt reichen. Aber es ist ein Anfang. Ich muss endlich neu anfangen, wenn ich wieder auf die Füße kommen will, das ist mir jetzt erst klar geworden.“ Sie lächelte traurig. „Ihr werdet mir auch fehlen, du und Anne, aber drei Monate sind schnell vorbei und dann kann ich mich darauf freuen, euch wiederzusehen. Abgesehen davon, wird Anne schon dafür sorgen, dass dir nicht langweilig wird“, stellte sie lachend fest.

Jonas schmunzelte. „Sie ist ziemlich schräg“, meinte er.

„Manchmal“, erwiderte Sannah. „Aber sie ist auch einer der warmherzigsten Menschen, die ich kenne. Als ich damals mit dem Studium angefangen habe, fühlte ich mich völlig verloren in der Uni. Sie hat mich in der Mensa aufgelesen und unter ihre Fittiche genommen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“ Sannah konnte kaum noch die Augen offen halten.

„Ab ins Bett mit dir, junge Dame!“, befahl Jonas. „Du hast zwei anstrengende Tage vor dir.“

„Ja, Papa“, entgegnete sie schelmisch.

Am nächsten Morgen wurde es dann doch wieder hektisch. Annegret erschien zur verabredeten Zeit mit frischen Brötchen und werkelte in der Küche herum. Sannah lief kopflos durch das Haus und suchte ihre Handtasche, und Jonas hatte seine liebe Müh‘ und Not, den aufgeregten Hühnerstall in geordnete Bahnen zu lenken. Zu guter Letzt saßen dann doch alle Hühner abgefüttert, samt Handtasche und Koffer, im Auto. Vor Sannah lagen drei Flüge und zwei Reisetage. Hamburg – Frankfurt, Frankfurt – Denver, eine Übernachtung in Denver und von dort aus noch ein Flug nach Rapid City. Anschließend noch eine etwa zweistündige Fahrt mit dem Auto. Sannah hatte sich online am Flughafen in Rapid einen Langzeitmietwagen reservieren lassen. Irgendwann am späten Nachmittag Ortszeit würde sie dann ihr Ziel erreichen. Annegret nahm das zum Anlass, noch einmal darauf hinzuweisen, dass mehr Valla Pampa kaum noch möglich sei.

„Da ist man ja schneller am Amazonas!“, meckerte sie.

„Wenn du nicht gleich Ruhe gibst, setze ich dich vorher noch kurz da ab!“, drohte Jonas grinsend und erntete einen dankbaren Blick von Sannah im Spiegel. Als Kleinste war sie auf die Rückbank verbannt worden.

Am Flughafen Fuhlsbüttel angekommen, ging dann alles ziemlich schnell.

Begleitet von Annegrets Besorgnis – „Pass auf dich auf und tue nichts Unüberlegtes!“ – und begleitet von Jonas‘ unerschütterlichem Optimismus –„Viel Spaß beim Ausreiten!“ –, verschwand Sannah in der Abflughalle.

„Nun ist sie weg“, stellte Jonas fest.

Annegret trocknete ein paar Abschiedstränen. „Hoffentlich geht alles gut“, meinte sie seufzend.

Jonas legte tröstend einen Arm um ihre Schulter. „Na klar! Sie wird eine Menge Spaß haben und auf andere Gedanken kommen. Das wird ihr guttun. Mittagessen bei mir?“, fragte er und grinste wieder mit seinem jungenhaften Charme.

„Gern“, sagte Annegret.

Zwei Tage später erreichte Sannah Rapid City. In Denver hatte sie schon Geld umgetauscht und musste jetzt nur noch den Mietwagen abholen. Sie hatte sich für einen keinen Geländewagen entschieden, man konnte ja nie wissen. Der Papierkram war schnell erledigt, und sie verfrachtete ihr Gepäck in den Kofferraum. Straßenkarte und Wegbeschreibung legte sie sicherheitshalber auf den Beifahrersitz, für den Fall, dass das Navi den Dienst versagte. Sannah atmete noch mal tief durch und fuhr los. Rechts von ihr lagen die Black Hills, links konnte man in weiter Ferne die Badlands erahnen. Die weite Landschaft zog in großen, wellenförmigen Hügeln aus Gras an ihr vorbei. Immer wieder unterbrochen von schroffen Felsen und kleinen Baumgruppen. Nach einer Weile tauchte ein Diner am Straßenrand auf. Sannah war müde und beschloss einen Kaffee zu trinken. Das Diner sah etwas heruntergekommen aus, auf dem staubigen Parkplatz standen ein paar Autos, hauptsächlich die hier üblichen Trucks. Sie parkte und stieg aus. Das Diner bestand aus einem langgezogenen Raum. Vorne war eine Art Tresen, weiter hinten befanden sich Tische und gepolsterte Sitzbänke. Hinter dem Tresen stand eine ältere, rundliche Frau und lächelte Sannah freundlich an. Am anderen Ende des Tresens saßen zwei Männer mittleren Alters in schmuddeligen Jeans und mit der obligatorischen Baseballmütze auf dem Kopf. Einer von ihnen pfiff anzüglich, als Sannah den Raum betrat. Hillbillys mit einem IQ knapp über dem Gefrierpunkt, lautete ihr Urteil und würdigte die Typen keines Blickes.

„Hallo“, sagte sie zur Kellnerin. „Einen Kaffee, bitte.“ Sannahs Englisch war fließend und akzentfrei.

„Gern“, antwortete die Frau und goss den Kaffee in eine Tasse. Sie schob Sannah noch Milch und Zucker zu. „Bei Ihrer Figur können Sie sich das leisten“, meinte sie lächelnd.

„Oh ja, Baby. Das kann sie!“, grölte es vom andere Ende des Tresens herüber. Sannah reagierte sicherheitshalber nicht, stufte die Tresen-Bewohner aber um einige zehntausend Jahre zurück. ‚Neandertaler‘, dachte sie boshaft.

„Halt die Klappe, Jack!“, schimpfte die Kellnerin und hielt Sannah solidarisch die Hand hin. „Ich bin Molly“, stellte sie sich vor und lächelte. Sannah ergriff die angebotene Hand.

„Hallo Molly, ich bin Sannah“, erwiderte sie freundlich.

„Auf dem Weg nach Pine Ridge?“, wollte Molly nun wissen. Sannah schlürfte ihren Kaffee und nickte.

„Ja, noch etwa eineinhalb Stunden, dann hab ich es geschafft.“

„Muss hart sein, nach Hause zu kommen, wenn man es aus der Rez raus geschafft hat“, meinte Molly mit mitleidigem Blick.

Sannah sah sie irritiert an. Es dauerte einen Moment, bevor sie begriff. Ihre schwarzen Haare, die braunen Augen und ihr dunkler Teint. Molly hielt sie für eine Lakota. Eine, die es geschafft hatte, sich ein Leben außerhalb der Reservation aufzubauen. Da Sannah keine Lust hatte diesen Irrtum aufzuklären, weil das nur weitere Fragen nach sich gezogen hätte, antwortete sie ausweichend: „Ich freue mich darauf, endlich mal wieder zu reiten.“

Molly gab sich damit zufrieden. Sannah trank ihren Kaffee aus und zahlte. „Schönen Tag noch, Molly“, wünschte sie.

„Gute Fahrt“, grüßte Molly zurück.

„Die würde ich nicht von der Bettkante schubsen“, grölte einer der Neandertaler sabbernd. Sannah drehte die evolutionäre Schraube um eine weitere Milliarde zurück. ‚Einzeller‘, dachte sie jetzt und wendete sich zum Gehen.

Die andere Amöbe lachte. „Träum‘ weiter, Jack. Die Kerle von der Rez würden dich nicht mal in ihre Nähe lassen.“

Na, das ließ ja hoffen. Sannah beeilte sich, zum Auto zu kommen und war froh, dass die Einzeller ihr nicht folgten.

Kurze Zeit später passierte sie ein Schild mit der Aufschrift „ENTERING PINE RIDGE INDIAN RESERVATION LAND OF THE OGLALA SIOUX.“ Durch Kaffee und Amöben wieder hellwach, bewältigte Sannah den Rest der Fahrt problemlos. Nur die Zufahrt zur Ranch hätte sie um ein Haar verpasst. Unkraut und Schlaglöcher stritten um die besten Plätze auf der Schotterpiste. Sie war heilfroh über den Geländewagen. Die Zufahrt nahm und nahm kein Ende. Nur die Stromleitung, die neben der Zufahrt an verwitterten Holzmasten hing, verriet ihr, dass irgendwo in der Nähe ein Haus sein musste. In der Umgebung wand sich ein kleiner Creek mäanderförmig durch die Landschaft. Deswegen blieb ihr größtenteils die Sicht durch Bäume und Büsche versperrt. Hinter einer Anhöhe tauchten endlich ein paar Gebäude auf. Das musste die Ranch sein. Im Norden durch eine schroffe Felsformation begrenzt, im Osten und Süden durch die Büsche und Bäume, lag sie versteckt, wie in einer Senke. Nur nach Westen war der Blick frei auf die offene, wogende Graslandschaft. Das Wohnhaus war alt und verwittert. Die Farbe blätterte ab, aber es war allem Anschein nach heil, was hier nicht selbstverständlich war. Auch die große Veranda und der verwilderte Garten waren ungewöhnlich. Die meisten Häuser, die Sannah auf ihrer Fahrt gesehen hatte, waren sogenannte Mobile Homes oder recht baufällige Holzhäuser, die mit Autowracks umstellt waren statt Garten. Bei der Wasserknappheit im Hochsommer wuchs hier ohnehin nicht viel. Hin und wieder sah man einen kleinen Gemüsegarten oder ein Feld, das bewirtschaftet wurde. Neben dem Wohnhaus war ein Hofplatz, dahinter lagen Stallgebäude und ein eingezäunter Reitplatz. Die Stallgebäude waren jüngeren Datums, doch niemand hatte sich die Mühe gemacht sie zu streichen. Hinter den Gebäuden lagen, nach Westen gelegen, die Weiden, auf denen etliche Pferde in der Sonne standen und grasten. Beim Anblick der Pferde schlug Sannahs Herz schneller vor Freude. Bis auf die Pferde wirkte die Ranch allerdings wie ausgestorben. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Nur ein Truck parkte auf dem Hof. Sannah stellte ihr Auto daneben ab, stieg aus und sah sich um.

Pine Ridge statt Pina Colada

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