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[10] 1. EIN DEAL FÜR GEMEINSAME HANDLUNGSFÄHIGKEIT

Das englische Wort „Deal“ hat für den vorliegenden Text gleich drei zentrale Bedeutungen. Denn es steht sowohl für „die Karten neu mischen“ als auch für einen Handel und kann zudem für das deutsche Wort „Abkommen“, ja „Pakt“ stehen. Bei den Debatten um den Green New Deal geht es also nicht um einen „Deal“ im Sinne eines Drogengeschäfts oder eine Vereinbarung im Hinterzimmer, sondern um die angemessene Reaktion auf die Krisen unserer Zeit.

Der historische New Deal unter Franklin D. Roosevelt sowie die aktuellen Green-New-Deal-Debatten liefern in der Summe eine entscheidende Orientierung für ebenjene notwendige Reaktion auf die Krisen unserer Zeit. Es handelt sich um eine Orientierung, die zu einem Plan verdichtet werden kann. Denn der Green New Deal eröffnet eine Veränderungsperspektive, die in der Welt, in der wir leben, bereits funktioniert und zugleich darüber hinausweist. Dieser Plan bietet zudem ein Dach, unter dem sich schon jetzt verschiedene Akteur:innen sammeln. Insofern birgt er das Potenzial für gemeinsame Handlungsfähigkeit über Grenzen hinweg – territoriale, politische und soziokulturelle. Letztlich geht es um die Frage, wie ausgehend von den Debatten um den Green New Deal ein Zukunftspakt geschlossen werden kann, der dem Ziel verpflichtet ist, die sozialen wie die ökologischen Krisen [11] nachhaltig zu entschärfen, und der zudem die richtigen Konsequenzen aus dem Coronaschock zieht.

In diesen Essay sind die Ideen und Erkenntnisse verschiedener Diskussionen und Gespräche eingeflossen, die wir im Laufe der letzten Jahre zusammen mit vielen anderen geführt, organisiert und erlebt haben. Insbesondere unsere politischen Reisen nach England und die dortigen Treffen mit Akteur:innen aus dem linken Flügel der Labourpartei und rund um die Organisationen Momentum und The World Transformed haben dazu geführt, dass uns das Nachdenken über den Green New Deal nicht mehr losgelassen hat. Dabei inspirierte uns, dass fortschrittliche Akteur:innen, Organisationen und Parteien weltweit debattieren, ob und wie unter dem Dach des Green New Deal ein gemeinsamer Handlungskatalog entstehen kann; ein Katalog, der gleichermaßen im Rahmen von Nationalstaaten wie überregional, international und multilateral Anwendung finden kann. Diese Debatten laufen auch vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche. Die Hegemonie des Neoliberalismus schwindet, aber noch ist sie nicht so nachhaltig geschwächt, dass sie nicht wiederhergestellt werden könnte, und sei es als Zombie-Version, z.B. durch eine neue strategische Verbindung von Neoliberalismus und autoritärem Rechtspopulismus, deren Entstehung vielerorts bereits zu beobachten ist.1 Erhebende Entwicklungen, wie die großen, globalen Klimaproteste [12] und eine an Kraft gewinnende neue feministische Bewegung stehen dem Erstarken rechter und autoritärer Kräfte auf der ganzen Welt gegenüber. Angesichts all der ermutigenden Potenziale einerseits und der bedrohlichen Szenarien anderseits wird immer klarer: Wenn die fortschrittlichen gesellschaftlichen Kräfte diese offene Situation für sich entscheiden wollen und die Krisen nachhaltig entschärft werden sollen, braucht es mehr als ein Herumdoktern an den Symptomen, es braucht mehr als einen Buben im Kartenblatt oder das Hoffen auf ein Ass. Vielmehr müssen die Karten neu gemischt und Regeln umgeschrieben werden.

Das ist nicht das erste Buch zum Green New Deal, und es wird hoffentlich nicht das letzte bleiben. Denn dieser Text ersetzt nicht die detaillierten Analysen über den historischen New Deal in den USA, auch wenn einiges besonders Bemerkenswertes hier angeführt wird. Diese Seiten ersetzen auch nicht die vielen innovativen wissenschaftlichen und politischen Konzepte, von denen in der Folge einige in Anschlag gebracht werden. Und schon gar nicht ersetzt dieser Text die unzähligen Kämpfe und Auseinandersetzungen, die die Grundlage bilden für die Weichenstellungen in eine gerechte und lebenswerte Zukunft. Vielmehr soll er Neugierde wecken auf die Pfade, die wir zusammen einschlagen können, und Lust machen auf das, was bevorsteht. Wie könnten aber die Pfade und Wege, die wir gemeinsam einschlagen wollen, erkundet werden? Die Grande Dame des linken Feminismus Frigga Haug liefert eine Antwort: Der Weg wird beim Gehen erkundet.2 [13] Da der Green New Deal als Zukunftspakt noch nicht durchgesetzt wurde, können wir nicht einfach jemandem auf einem bereits planierten Weg hinterherlaufen, sondern müssen ihn beim gemeinsamen Handeln finden. Für die Umsetzung dessen, was notwendig, und dessen, was wünschenswert ist, gibt es keine fertige Wegbeschreibung. Aber immerhin gibt es einen Orientierungspunkt: Denn legt man die Vielzahl von Konzepten zum Green New Deal übereinander, dann erscheinen zwar Leerstellen und einige Widersprüchlichkeiten, aber alles in allem ergeben sie das Bild eines Projekts der Gesellschaftsveränderung, das das Potenzial hat, für fortschrittliche Bewegungen, für sozial und ökologisch engagierte Köpfe in der Politik und der Gesellschaft sowie letztlich für uns alle gemeinsam zu einem Kompass zu werden. Und wie bereits angedeutet, kommt dieser Kompass nicht einfach aus dem Nichts. Er hat eine Geschichte, aus der sich viel lernen lässt.

Was bisher geschah – im Zeitraffer

Vor rund 90 Jahren, in den 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts, startete unter dem Präsidenten Franklin D. Roosevelt in den USA in Reaktion auf Rezession und die bis dahin größte Wirtschaftskrise der kapitalistischen Geschichte der New Deal. Anfangs ging es vor [14] allem um die Regulierung der Finanzmärkte sowie um massive Investitionen. Später aber auch um Rechte für Beschäftigte und um gute Arbeit, kurz um die Anfänge eines Sozialstaates.

Gut 90 Jahre später zeichnen sich deutlich die Umrisse einer neuen, globalen Krise ab: der hereinbrechende Klimakollaps. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen weisen seit langem auf die Gefahren der weitgehend menschengemachten globalen Erwärmung hin, politische und zivilgesellschaftliche Bewegungen versammelten sich spätestens seit den 1980er Jahren hinter dem Ziel des Umweltschutzes, mit Beginn des 20. Jahrhunderts erklingen verstärkt die Rufe nach Klimagerechtigkeit. Vor rund 15 Jahren kommen in Deutschland schließlich die ersten Debatten um einen Green New Deal auf. Damit war das Thema auch auf die Ebene eines möglichen Regierungsprogramms gelangt, wenn auch nicht bei den zu dieser Zeit tatsächlich Regierenden. Die dabei verhandelten Konzepte knüpften zwar sprachlich an den historischen New Deal unter Roosevelt an, ließen jedoch anfangs noch die Bereitschaft zum Konflikt mit der Kapitalseite missen, die das historische Vorbild ausgezeichnet hatte. Vielmehr waren diese ersten Debatten hierzulande stark durch das Bestreben geprägt, Klimaschutz und Kapitalismus zu versöhnen.

Nicht wenige, auch die Redaktion des Magazins prager frühling,3 kritisierten damals den Green New Deal [15] als Versuch, allen einzureden, ein grüner Kapitalismus sei möglich. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise und nachhaltiger Klimaschutz miteinander im Konflikt stehen. Das ist auch den weltweiten Bewegungen für Klimagerechtigkeit zu verdanken. Niemand bringt es so gut auf den Punkt wie Naomi Klein mit ihrem Buchtitel Die Entscheidung: Klima versus Kapitalismus.4 Im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts häuften sich dann Green-New-Deal-Ansätze, in denen soziales und ökologisches Umsteuern zusammengedacht und konzipiert wurden: von den linken Demokrat:innen Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders in den USA über das Programm der britischen Labour-Partei und Konzepten der Partei Die Linke in Deutschland.5 Es handelt sich allerdings wahrlich nicht nur um eine Debatte der westlichen Welt – im Gegenteil. Wichtige Stimmen stammen aus dem globalen Süden, nicht zuletzt wohl deshalb, weil hier sowohl die sozialen als auch die klimatischen Folgen des Klimawandels schon jetzt in einem Ausmaß zu spüren sind, das bei uns noch fast unvorstellbar ist. Auch die Climate Justice Charta aus Südafrika, die in einem breiten gesellschaftlichen Prozess über Jahre erarbeitet wurde, und der Pacto Ecosocial [16] del Sur für die lateinamerikanischen Länder und die Karibik aus dem Jahre 2020 zeugen davon.

Und dann schlug zu Beginn der Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts die Coronapandemie ein. Sie krempelte Gewissheiten um, stellte vieles auf den Kopf und noch mehr infrage. Wir müssen uns damit beschäftigen, welche Schlussfolgerungen aus dieser Krise zu ziehen sind.

Nach über einem Jahr Coronakrise, also im Frühling 2021, drängt sich die Frage auf, ob diese Krise unsere Sicht auf den Green New Deal ändert, ob sie etwa die Dringlichkeit seiner Umsetzung relativiert. Doch im Gegenteil scheint jetzt mehr denn je ein übergeordnetes Projekt des gesellschaftlichen Umbaus notwendig. Allerdings ist nun zu der Notwendigkeit, die ökologischen und die sozialen Krisen zu entschärfen, eine weitere Aufgabe hinzugekommen.

Dabei lässt sich die Pandemie auch als Symptom für die allgemeine Krisenanfälligkeit der Weltgesellschaft insgesamt verstehen. Die Coronakrise hat den Menschen noch einmal ihre Verletzlichkeit vor Augen geführt. Das ist eine Erfahrung, die viele gerne verdrängen, weil sie daran erinnert, dass grundlegend umgesteuert werden muss, wenn die Welt krisenfester werden soll. Der Text knüpft hierfür an das ermutigende historische Beispiel des New Deal mit seiner Bereitschaft zum Konflikt an. Die substanziellen Überlegungen der jüngsten, progressiven Green-New-Deal-Konzepte, die sowohl national angelegt sind wie auch global zur Umsetzung drängen, sind in ihn eingeflossen. Anschluss erlaubt auch die wissenschaftliche [17] Expertise zur Agrarwende, Energiewende, Verkehrswende, Bauwende und zu Umbauprogrammen in der Wirtschaft. Doch wer heute über Umsteuern und Weichenstellungen schreibt, muss zugleich die Erfahrungen des Coronaschocks einbeziehen. Dies geschieht im Folgenden exemplarisch im Bereich der Kunst- und Kulturpolitik, der sozialen Garantien sowie bei Fragen der Geschlechterverhältnisse und der Zeitpolitik. Anhand dieser Kontexte wird deutlich: Die Pandemie wirft die bisherigen Überlegungen im Rahmen der Green-New-Deal-Debatten nicht über den Haufen, vielmehr hat sie weitere Dimensionen sichtbar gemacht. Es gab einen Weckruf.

1Vgl. Kolja Möller: „Das ‚Volk‘ der neuen Rechten. Zwischen autoritärem Liberalismus und neofaschistischer Dynamisierung“, Zeitschrift für Menschenrechte 2/2020, S. 68–91.

2Frigga Haug, Der im Gehen erkundete Weg. Marxismus-Feminismus, Hamburg: Argument/inKrit 2018.

3„Ökologische Politik – will sie nicht offen autoritär sein – muss letztlich auch eine soziale Politik sein, weil sie ohne Akzeptanz der vielen zum Scheitern verurteilt ist.“ „Aus Thesen der Redaktion: lieber red als new“, prager frühling, Februar 2010, S. 38–39, hier S. 38.

4Naomi Klein, Die Entscheidung: Kapitalismus versus Klima, Frankfurt a.M.: Fischer 2016.

5Bernd Riexinger, System Change. Plädoyer für einen linken Green New Deal, Hamburg: VSA 2020; Katja Kipping, Bernd Riexinger, „Für einen sozialen Aufbruch und mutigen Klimaschutz“, https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/fuer-einen-sozialen-aufbruch-und-mutigen-klimaschutz/ [Letzter Zugriff: 20.5.2021].

Green New Deal als Zukunftspakt

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