Читать книгу Sturm über der Eifel - Katja Kleiber - Страница 15
Eifler Stonehenge
ОглавлениеDer Mann trug ein schmuddeliges hellblaues Sweatshirt. In der Hand eine Motorsense. Pflanzenteile hatten sich in seinem weißen Haar verfangen. Er war deutlich über siebzig, wirkte aber sehnig und fit. Zu frieren schien er nicht. Hatte keine Jacke an, während Tanja trotz ihres dicken Mantels fröstelte.
Für das Gespräch mit ihr hätte er sich schon ein bisschen besser anziehen können, dachte sie. Thomas Dickens vom Heimatverein hatte erklärt, er wolle den Termin mit ihr mit etwas Nützlichem verbinden und Brombeeren zurückschneiden. Die würden sonst den Graben überwuchern.
Tanja starrte auf den flachen Graben, der streckenweise kaum zu erkennen war. Der niedrige Erdwall, der daneben verlief, war auffälliger. Dreitausend Jahre alt sollte die Anlage sein, hatte Dickens ihr eben erklärt. »Der Goloring ist ein Ringheiligtum wie Stonehenge in Großbritannien. Stonehenge ist Ihnen ein Begriff?« Er blickte sie streng an.
Tanja nickte. Vor Ewigkeiten hatte sie eine Fernsehdoku über den Kreis aus übermannshohen Steinen gesehen. Es schien eine Art Wallfahrtsort für Hippies zu sein. Ihr Blick fiel wieder auf den kaum hüfthohen Wall. »Hier sind aber keine Steine.«
»Nein, im heutigen Deutschland gibt es keine Steinkreise, hier haben wir nur den Wall. Trotzdem handelt es sich um ein Henge-Denkmal der gleichen Kultur. Früher gab es noch einen äußeren Wall außerhalb des jetzt umzäunten Geländes, aber der ist dem Bimsabbau zum Opfer gefallen.« Dickens wies auf eine höher gelegene Fläche in der Ringmitte: »Das da drüben ist der eigentliche heilige Tempelbezirk. Dort stand einst ein Holzpfahl. Acht bis zwölf Meter hoch. Wissenschaftler konnten Überreste des organischen Materials nachweisen und eine Rampe, mit deren Hilfe er aufgestellt worden war. Deshalb hat unser Verein an der Stelle eine Markierung angebracht.« Er deutete auf einen Holzpfosten auf der Wiese in der Mitte des Rings.
Gleich daneben standen die drei großen Eichen. Unter der mittleren hatten sie Ötzis Leiche gefunden. Von der Arbeit der Spurensicherung war kaum noch etwas zu erkennen, nur der Boden in der näheren Umgebung war auffallend zertrampelt.
»Der Name der Anlage geht auf eine Legende zurück, die –«
Tanja hob die Hand, um Dickens zu unterbrechen. Der Name war nun wirklich unwichtig, die Legende erst recht.
»Was sind das für Häuser dort drüben?« Sie nickte in Richtung von zwei hell gestrichenen Flachbauten, die die Einfahrt flankierten. »Können wir uns vielleicht dort weiterunterhalten?« Sie war schon ganz durchfroren.
Dickens nickte, legte seine Motorsense weg, und gemeinsam gingen sie zu den Gebäuden.
»Das Gelände wurde lange Zeit militärisch genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Franzosen diese Baracken gebaut, um darin Waffen zu lagern. Später hat die Bundeswehr alles übernommen und ein Quarantänezentrum für Hunde eingerichtet. Im Zuge dessen wurden auch Teile des Ringwalls plattgemacht.« Er klang empört. Als hätte man den Kölner Dom planiert.
»Deshalb auch der Zaun«, warf Tanja ein. Dessen Oberkante knickte nach außen und war mit NATO-Draht gesichert.
»Die Bundeswehr hat alles abgeriegelt, worüber wir jetzt froh sind. So wurde wenigstens nicht noch mehr zerstört. Heute gehört das Kulturdenkmal der Gemeinde Kobern-Gondorf, und wir müssen es schützen. Nur unser Heimatverein hat Zugang.«
Tanja dachte an das Loch im Zaun, das die Kollegen gefunden hatten. Es schien schon länger zu bestehen. Der Draht war an den Schnittstellen verrostet gewesen, hieß es im Bericht. »Aber der Zaun wurde aufgeschnitten.«
»Wann immer wir solche Beschädigungen bemerken, flicken wir ihn sofort. Aber manchmal entgehen uns die Schäden.«
Tanja verdrehte innerlich die Augen. So viel zum Thema »Nur unser Heimatverein hat Zugang«. Laut sagte sie: »Wer will denn hier rein?«
»Jugendliche, zum Knutschen. Andere kippen Müll ab. Sie würden nicht glauben, was wir hier alles finden. Könnten einen Altreifenhandel aufmachen.« Er schüttelte den Kopf. »Dann noch jede Menge Schatzsucher mit Metalldetektoren, obwohl die Archäologen längst alles abgesucht haben. Die Funde aus den umliegenden Gräbern werden in Koblenz aufbewahrt, im Haus der Archäologie auf der Festung Ehrenbreitstein. Innerhalb des Kreises wurden keine Gräber gefunden, aber ringsum sind an die hundertfünfzig nachgewiesen. Die Autobahn verläuft mitten hindurch. Das Gräberfeld –«
»Sind hier auch irgendwelche Sekten aktiv?«, unterbrach Tanja ihn wieder.
»Es kommen Druiden, Schamanen, Geomanten.«
»Geo… was?«
»Wünschelrutengänger.«
Tanja zuckte zusammen. Auch Eifelhexe Ella Dorn hatte letztes Jahr vor ihrer Nase mit einer Wünschelrute rumgefuchtelt. Langsam hatte sie gründlich die Nase voll von Spinnern aus der Eifel. Dennoch musste sie den Mord an dem Ötzi aufklären. »Kommen welche von denen regelmäßig?«
Dickens hob die Schultern. »Kann ich nicht sagen, weil einige von ihnen einfach einbrechen. Wobei die meisten uns vom Heimatverein vorher anrufen und ganz höflich um Erlaubnis fragen.« Er guckte Tanja prüfend an. »Von mir aus kann jeder hier machen und glauben, was er will. Selbst die Wissenschaft hat noch keine eindeutige Erklärung für die Anlage des Rings liefern können, also sind wir für alle Informationen dankbar – auch wenn sie von Geomanten kommen oder von anderen Quellen, die auf den ersten Blick nicht wissenschaftlich erscheinen.«
Tanja zückte ihr Handy und rief das Foto auf, das die IT-Techniker vom Ötzi gemacht hatten. Es war ziemlich gut bearbeitet worden, ihr Opfer wirkte lebensecht. Sie streckte das Smartphone Dickens hin. »Den schon mal gesehen?«
Er nahm das Handy und hielt es, so weit es ging, von sich weg.
Tanja lächelte kurz. War wohl so weitsichtig, dass sein Arm langsam zu kurz wurde.
Dickens blinzelte angestrengt, während er sich das Handy jetzt direkt vor die Nase holte. »Nein, den kenne ich nicht.«
Tanja seufzte. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn sich durch eine einfache Befragung eine Spur ergeben hätte.
Sie hatten das erste der beiden lang gestreckten Gebäude erreicht, das bei näherem Hinsehen seine besten Zeiten hinter sich hatte, und stiegen die kleine Treppe zum Eingang hoch.
Dickens hielt ihr die Tür auf.
Von einem langen Gang gingen rechts und links Räume ab, deren Türen offen standen. Die Bundeswehr hatte die Baracken anscheinend in Mannschaftsräume unterteilt. Es roch muffig. Wesentlich wärmer als draußen war es auch nicht.
Dickens trat an Tanja vorbei und ging voraus in einen größeren Raum mit einem langen Tisch und rund zwanzig Stühlen. »Einmal im Jahr machen wir beim Tag des offenen Denkmals mit. Dann kommen viele Besucher zu unseren Führungen.« Begeistert wies er auf eine Reihe von Schautafeln an der Wand. »Sehen Sie hier, eine Rekonstruktion der Anlage.«
Das Schaubild zeigte den Wall mit dem Graben daneben. »Der Graben liegt innerhalb des Walls, diente also nicht der Verteidigung. Das stärkt die Annahme, dass es sich nicht um eine ehemalige Befestigungsanlage, sondern eine Kultstätte handelt.«
Tanja betrachtete das Bild. In der Mitte des Rings stand der Holzpfahl, den Dickens ihr eben schon beschrieben hatte. Die Anlage wirkte gewaltig. »Wie groß ist das Areal?«
»Es ist die größte Henge-Anlage auf dem europäischen Festland.« Worauf Dickens unüberhörbar stolz war. »Hundertachtundneunzig Meter im Durchmesser, doppelt so groß wie Stonehenge.« Er schob Tanja zum nächsten Schaubild. »Und hier sehen Sie den Goloring von oben. Er hat zwei Öffnungen und eine die Mitte schneidende Prozessionsstraße. Die Tore und die Straße weisen in verschiedene Himmelsrichtungen.« Er war in seinem Eifer nicht zu stoppen.
Gerade als Tanja überlegte, was ihr dieses Gespräch brachte, klingelte ihr Handy. Claes’ Nummer leuchtete auf dem Display. »Was gibt’s, Kollege?«
»Ich bin mit den Nachbarn durch, aber die haben nichts Neues erzählt. Der Schamane war ein friedfertiger Typ, der keiner Fliege was zuleide tun konnte. Er sammelte Pflanzen und lebte in seiner Jurte.«
»Und das fand keiner komisch?«
»Doch, aber es hat keinen gestört. Unser Opfer hatte einen guten Ruf bei den Nachbarn. Keine Gerüchte, keine Feinde, nichts.«
»Eine Sackgasse.«
»Er soll einen Bruder in Kobern-Gondorf haben.«
»Dann müssen wir den treffen. Als Nächstes nimm dir die Höfe in der Umgebung des Golorings vor«, beschloss sie. Die Mordkommission in Koblenz war wie immer unterbesetzt. Je mehr Laufarbeit Claes übernahm, desto besser für sie.
»Ma’am, yes, ma’am.«
Tanja schnaufte. Die dummen Kommentare konnte sich der Kollege echt sparen.
Sie drückte ihn weg.
Dickens holte Luft und machte genau da weiter, wo er stehen geblieben war. »Hier also die Luftaufnahme. Die Öffnungen vom Goloring haben eine kalendarische Bedeutung, wie Archäologen nachweisen konnten. Wir nehmen an, dass sie einst zu Toren ausgebaut waren. Zum keltischen Fest Beltane am 1. Mai geht die Sonne genau in Richtung des Tors unter, das zum Karmelenberg weist. Zur Wintersonnenwende senkt sie sich hier, wo in Verlängerung des Tors die Dreitonnenkuppe liegt. Und hier, am einen Ende der Prozessionsstraße«, er presste seinen knochigen Zeigefinger auf das Schaubild, »geht die Sonne am Abend des 31. Oktober unter, am keltischen Samhain.«
Tanja merkte auf. Das war doch die Tatnacht. In der Nacht war der Ötzi ermordet worden.
War sie vielleicht doch auf einen Hinweis gestoßen, der auf eine keltische Sekte hindeutete? Die einem uralten Glauben anhing, in dem der keltische Kalender und der Goloring eine zentrale Rolle spielten?
»Was muss ich mir unter Samhain vorstellen?«
»Das Fest, das wir heute Halloween nennen. Früher hängte man am Abend vor dem 1. November Fratzen an die Türen, als Schutz vor Geistern. Denn in dieser Nacht stehen die Tore zur Anderwelt offen.«