Читать книгу Sturm über der Eifel - Katja Kleiber - Страница 7

Ein Funke

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Fast hätte sie das Gefühl nicht erkannt: Freude. So lange war es her, dass sie zuletzt dieses angenehme Gefühl im Bauch verspürt hatte.

Als das Pferd sie mit der Nase anstupste, griff sie gehorsam in ihre Tasche und holte einen weiteren Apfel hervor. Die samtigen Lippen des Tieres griffen danach und berührten ihre Handfläche. Die Samtlippen waren es auch, die sie auf die Idee gebracht hatten, reiten zu lernen. Sie gehörten den zwei braunen, zotteligen Ponys, die seit einigen Monaten auf einer Wiese in der Nähe ihres Hauses standen. Wenn Ella den Tieren manchmal eine Möhre oder einen Apfel brachte, schnupperten sie mit ihren Samtnasen an ihrer Hand und an der Jacke auf der Suche nach weiteren Leckerbissen. Die Besitzerin kam nur am Wochenende aus Köln, um sich um sie zu kümmern. Sonst versorgte eine Nachbarin die Tiere.

Der Wunsch, mehr Zeit mit diesen sanften Vierbeinern zu verbringen, war langsam gewachsen. Sich von ihnen tragen zu lassen, Ausritte zu unternehmen, vielleicht sogar tagelang durch die Eifelwälder zu streifen.

Und jetzt stand sie hier bei dem Braunen, der seine lange Nase gerade in die Tasche ihrer Wachsjacke steckte, um den nächsten Apfel herauszuholen. Doch seine Nase war viel zu breit für die Öffnung der Tasche. Lachend trat Ella einen Schritt zurück.

Wieder spürte sie dieses warme Leuchten tief in sich. Ein ungewohntes Gefühl. Vor vielen Jahren hatte sie es regelmäßig erlebt. Vor ihrem Zusammenbruch, den die Ärzte Burn-out nannten. Ausgebrannt. Ein Brand hinterließ nichts als Asche. Jetzt glomm unter dieser Asche ein Funke. Ihre Seele hatte sich abgekapselt, um keine unangenehmen Gefühle mehr zuzulassen. Leere, Trauer, Scham – all das wollte Ella nicht mehr wahrnehmen. Die Seele in ihrem Panzer hatte aber auch keine Freude mehr gespürt, bis jetzt, hier bei den Tieren.

Wieder stupste das Pferd Ella an. Joe, ein brauner Wallach. Sie bewunderte seine festen Muskeln. Seine Mähne war unten dunkel und oben am Ansatz blond, erinnerte an eine herausgewachsene Haarfärbung. Auf der Stirn hatte er einen kleinen weißen Fleck, einen Stern.

Marnie hatte ihr als Erstes aufgetragen, das Pferd zu striegeln. Die kleine Trainerin mit den dunklen Haaren hatte einige Jahre im Renngeschäft mitgemischt, bevor sie sich wieder in ihr Heimatdorf in der Eifel zurückgezogen hatte, um den Reiterhof zu führen.

Joe hielt brav still, und Ella machte es sogar Spaß, dem Braunen Staub aus dem Fell zu bürsten. Er erschien ihr riesig, wie er direkt vor ihr stand. Sie konnte gerade so über seinen Rücken blicken.

Nacheinander ließ Marnie nun ihre Hände an den Beinen des Pferdes hinuntergleiten. Folgsam hob das Tier das jeweilige Bein, Marnie hielt es auf ihrem Knie fest und säuberte mit einem Kratzeisen den Huf.

Ella machte instinktiv einen Schritt zurück. Ganz geheuer war ihr die Sache nicht. Am Ende trat Joe ihr noch auf den Fuß. Aus ein paar Metern Distanz schaute sie Marnie aufmerksam zu.

Die Zeiten schienen sich zu bessern für sie. Vielleicht würde Reiten ihr neues Hobby werden. Und vielleicht hatte sie auch bereits einen Mann kennengelernt, der ihr in der Zukunft etwas bedeuten würde. Als sie an ihn dachte, begann es in ihrem Bauch zu kribbeln. Auch das ein ungewohntes Gefühl.

Sie verlor sich in Gedanken an seine gütigen braunen Augen, die alles zu wissen schienen. An seine hagere Figur, die feingliedrigen Finger. Die langen dunklen Haare trug er zu einem Zopf gebunden, erste graue Strähnen zeigten sich an den Schläfen. Er hatte sich über die Pflanzen gebeugt, die sie bei der Kräuterwanderung fanden, die der Naturschutzverein organisiert hatte. Jede einzelne Pflanze hatte er befühlt, zwischen den Fingern gerieben und ihren Geruch tief eingeatmet. Ein winziges Stückchen zerkaut, um sie zu schmecken. Noch nie war Ella jemandem begegnet, der mit Kräutern so respektvoll umging. Sie fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Gestern hatte er angerufen und ihr auf den Anrufbeantworter gesprochen. Er wollte sie wiedersehen.

Bei dem Gedanken spürte sie wieder dieses warme Gefühl in ihrer Brust.

»Hier ist die Trense«, schreckte Marnie sie aus ihrem Tagtraum auf und zeigte ihr, wie man Joe aufzäumte. Es war eigentlich ganz einfach. Dann legte Marnie dem Pferd eine Decke über den Rücken und hievte einen Ledersattel darauf, der mit Stickereien verziert war.

Fasziniert strich Ella mit ihren Fingern darüber.

»Das ist ein Westernsattel. Er ist bequemer als der englische. Verständlich, schließlich mussten die Cowboys den ganzen Tag darin aushalten«, erklärte Marnie begeistert. Sie schien ihre Arbeit zu lieben. Dann führte sie Joe zu einer Rampe.

Ella war erleichtert. Sie hatte befürchtet, sich zu blamieren, wenn sie aufsteigen sollte. Aber durch die Rampe war sie auf einer bequemen Höhe. Sie schob ihren linken Fuß in den Steigbügel, schwang ihr rechtes Bein über Joes Rücken und ließ sich in den Sattel fallen. Geschafft! Sie saß auf einem Pferd. Der Boden unter ihr war auf einmal ganz schön weit entfernt.

Marnie hatte gleich was zu meckern: »Bitte setz dich vorsichtig in den Sattel. Verlager dein Gewicht langsam auf das Pferd!«

Dann lief Joe im Kreis über die Koppel, die der Regen der letzten Woche in eine einzige Schlammpfütze verwandelt hatte. Dem Pferd schien das nichts auszumachen. Währenddessen war Ella damit beschäftigt, sich im Sattel zu halten. Sie versuchte, Marnies Anweisungen minutiös zu folgen, und nach ein paar Minuten gelang es ihr sogar, sich zu entspannen. Die rhythmische Bewegung des Pferdes wiegte sie in Sicherheit. Nur zu schnell war ihre erste Reitstunde zu Ende.

Marnie schien Ellas Enttäuschung zu spüren. »Wir müssen leider pünktlich Schluss machen, ich muss Tobi abholen«, entschuldigte sie sich. »Hat Husten aus dem Kindergarten mitgebracht. Das Vater-Wochenende war sicher eine Katastrophe.«

Als Ella abgesessen war, kam ein junges Mädchen aus dem Stall. Marnies riesiger Hofhund folgte ihr auf den Fersen. Das Mädchen griff nach Joes Zügeln.

Ella musterte sie. Hatte sie das Mädchen schon mal gesehen? Sie achtete nicht sonderlich auf die Jugendlichen im Dorf. Honigfarbene Haare zu einem dicken Zopf zusammengefasst. Große dunkle Augen. Sie war kaum älter als zwölf. Kinderarbeit?, kam es Ella in den Sinn. Andererseits: In der Eifel fuhren Achtjährige Trecker, warum sollte nicht ein Teenager Pferde striegeln, den Stall ausmisten oder sonstige Arbeiten verrichten?

Als hätte das Mädchen ihre Gedanken gelesen, sagte sie: »Hallo, ich bin Corinna Thielen. Sag einfach Corinna zu mir. Ich darf hier helfen. Das ist voll cool.« Sie tänzelte vor Aufregung auf den Fußspitzen. »Erst hab ich nur Reitstunden bei Marnie genommen, aber jetzt kümmere ich mich auch um die Pferde. Sogar bei Wanderritten darf ich dabei sein.« Ihre Wangen glühten. »Neulich, da sind wir den ganzen Weg an der Ahr …«

Ellas Gedanken schweiften ab, während Corinna weiter auf sie einredete. Sie war unübersehbar in dem Alter, in dem Mädchen für Pferde schwärmten. Bald würde sie für Jungs schwärmen und Pferde Pferde sein lassen, da war sich Ella sicher.

Als von der Straße her ein lautes Hupen ertönte, zog Corinna einen Flunsch. Sie beeilte sich, Joe in seine Box zu führen.

Als Ella aufbrach, sah sie, wie das Mädchen zu einem dunklen Jeep rannte und einstieg. Elterntaxi, alles klar.

Sturm über der Eifel

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