Читать книгу Sturm über der Eifel - Katja Kleiber - Страница 9
Die Jurte
ОглавлениеHatte sich Tanja in der Adresse geirrt? Peter starrte auf das Haus. Sein Schädel schmerzte. Nachwirkungen vom Wochenende in Köln. Hatte Tanja vielleicht auch einen Kater? Er schielte zur Seite. Sie wirkte energiegeladen wie immer, der blonde Pferdeschwanz wippte eifrig.
Gerade blickte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen auf ihr Handy, wo sie die Adresse gespeichert hatte. Guckte wieder hoch. Wies auf das Metallschild mit der Hausnummer. Die Farbe war teilweise abgeplatzt, aber die Zahl noch deutlich erkennbar. »Hier muss es sein.«
Das Dach des Hauses hatte sich bereits bedenklich gesenkt. Die Dachrinne hing an einigen Stellen herunter, sodass sie in einer Art Zickzack verlief. Neben der Tür, die dringend einen neuen Anstrich benötigte, befand sich ein Fenster. Die Scheibe war gesplittert, vielleicht hatte ein Nachbarskind einen Ball hineingeschossen.
Tanja steckte den Schlüssel ins Schloss, den sie in der Hosentasche von ihrem Ötzi gefunden hatten. Er glitt problemlos hinein. Sie drehte ihn um. Das Schloss klickte.
Peter öffnete die Tür. Der Gang war dunkel. Er tastete nach rechts, bis seine Fingerspitzen einen Lichtschalter berührten. Er drückte, doch es tat sich nichts. Stromausfall? Rechnung nicht bezahlt?
»Taschenlampe ist im Kofferraum«, hörte er Tanja hinter sich sagen. Schickte sie ihn jetzt als Laufburschen los? Er wandte sich um.
Ihr Kopf ruckte in Richtung Streifenwagen.
War er hier der Praktikant, oder was? Er unterdrückte ein Murren, trottete zurück zum Auto und fand die Taschenlampe zwischen allerhand Krempel im Handschuhfach.
Ihr Strahl leuchtete einen Flur aus, dessen Zustand keinen Deut besser war, als das Haus von außen vermuten ließ. Renoviert zuletzt anno 1950, wenn nicht noch früher. Geputzt auch so um den Dreh, wenn man die Dreckschicht auf dem Boden betrachtete.
Peter seufzte. Lieber würde er jetzt auf seinem Sofa liegen und in die Glotze starren. Wenn Tanja ihn nicht angerufen hätte, hätte er sich heute krankgemeldet. Das Wochenende in Köln war zu anstrengend gewesen. Und vor allem zu frustrierend. Statt zu Hause rumzugammeln, bis der Kopfschmerz nachließ, schob er sich jetzt in dieser Bruchbude durch den schimmeligen Flur. Mit Tanja auf den Fersen.
Er öffnete die erste Tür rechts und leuchtete in einen Raum. Vollkommen leer. Keine Möbel, nichts. Nur eine beige Tapete hing in Fetzen herab. Es roch muffig.
»Selbst für ’nen Ötzi ziemlich unwohnlich«, meinte Tanja. »Aber so, wie der Typ aussah, hätte ich sowieso eher auf eine Höhle getippt.«
»Und die Adresse stimmt?« Peter ließ die Frage in der Luft hängen.
Tanja zuckte mit den Schultern.
Links vom Flur stießen sie auf eine Küche. Ebenso unmöbliert. Keine Schränke, kein Tisch, nichts. Nur eine einsame Spüle. Tanja drehte den Hahn auf: kein Wasser.
Zurück im Gang, öffneten sie die nächste Tür.
»Wow!« Tanja konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
Als Peter einen Blick in das dahinterliegende Zimmer erhaschte, sog er scharf die Luft ein.
Ein Bad wie aus einer Zeitschrift für schöneres Wohnen. Eine Wanne mit blitzenden Armaturen und vielen Düsen, anscheinend eine Art Home-Spa oder Whirlpool. Dazu eine bodengleiche Dusche mit Glaswänden. Das WC und das Waschbecken in edlem Champagnerton. Über dem Waschbecken eine Ablage mit Zahnputzzeug, Toilettenartikeln, Rasierpinsel und Rasierseife, darüber ein Spiegel. Die Wände des Raumes waren mit einer hellbraunen, körnigen Schicht bedeckt. Lehmputz? Ein großes Fenster ging zum Garten raus.
Peter legte seinen Finger auf einen Lichtschalter neben der Tür, ließ ihn dort ruhen, drückte schließlich. Eine Deckenlampe flammte auf.
»Im restlichen Haus kein Strom, hier Strom? Im restlichen Haus alles pfui, hier hui? Will der uns verarschen?« Er zog die Augenbrauen hoch. Vielleicht hatte der Tote das Haus nach und nach renovieren wollen und das Bad war als Erstes fertig geworden? Aber was war mit der Küche? Eine Küche brauchte man doch. War Leonhart Schmidt nach diesem Luxusbad die Kohle ausgegangen? Er behielt seine Gedanken für sich. Vor Tanja wollte er sich nicht mit seinen Theorien blamieren.
Hier war nichts weiter zu sehen, das Bad war vorbildlich aufgeräumt und im Gegensatz zu den Räumen, die sie bisher gesehen hatten, picobello sauber. Peter ging zurück in den Flur und wandte sich dem Zimmer auf der anderen Seite zu, dem letzten im Erdgeschoss. Er atmete tief ein und öffnete die Tür.
»Ein Büro«, sagte Tanja überrascht, die ihm über die Schulter guckte.
Ein riesiger Schreibtisch aus Holz füllte fast die gesamte rechte Seite aus, davor einer von diesen angeblich rückenschonenden Hockern in seltsamer Form. Links vom Schreibtisch gab es ein deckenhohes Regal, vollgestopft mit Büchern und Ordnern. Auf dem Schreibtisch stand ein Telefon – mit Wählscheibe und Kabel.
Peter hatte den Eindruck, in einer Wohnung aus einem anderen Zeitalter zu stehen. So ein Telefon hatte seine Mutter früher gehabt, erinnerte er sich. Wenn ein Gespräch länger dauerte, hatte sie in einem Sessel gesessen, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Der Sessel hatte allein dafür neben dem Telefon gestanden, denn das hing ja am Kabel und konnte nicht herumgetragen werden.
»Den Raum nehmen wir uns später vor«, entschied Tanja. »Erst mal einen Überblick verschaffen.«
Peter war der gleichen Meinung, aber es gefiel ihm nicht, dass die Koblenzer Kollegin ihn rumkommandierte. So fühlte es sich jedenfalls für ihn an.
Vom Flur aus stiegen sie eine Treppe nach oben. Die Stufen waren mit Staub bedeckt und knarrten bei jedem einzelnen Schritt.
»Nichts«, sagte Tanja enttäuscht, nachdem sie die vier kleinen Zimmer inspiziert hatten.
Diese Etage schien noch weniger genutzt worden zu sein als das Erdgeschoss. Die Tapeten mussten aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammen, außer auf einen wackligen Stuhl waren sie auf keine Möbel gestoßen. Sämtliche Räume zur Straße hin hatten Wasserschäden. Peter dachte an das Dach, das sich bedenklich senkte. Wahrscheinlich war es nicht mehr dicht. Das Geld, das der Eigentümer ins Bad gesteckt hatte, wäre für eine Renovierung des Dachs besser ausgegeben gewesen.
»Wo hat Ötzi geschlafen?«
Peter wusste keine Antwort. Bisher hatten sie kein Bett gefunden. Aber in der Badewanne hatte der doch wohl nicht gepennt, oder etwa doch?
Sie gingen wieder ins Erdgeschoss. Eine Tür zwischen Bad und Büro, die sie zuvor links liegen gelassen hatten, war von innen mit einem Haken gesichert. Peter hob ihn mit einem Finger an, drückte die Tür auf. Vor ihnen ging es drei Stufen hinunter nach draußen.
Der Garten wurde von einer riesigen Linde beherrscht, Blumenbeete oder Rasenflächen waren nicht zu erkennen.
Neben dem Hinterausgang grenzte eine Art Carport an das Haus. Unter der Überdachung entdeckten sie einen gemauerten Grill mit Backofen. Daneben einen Gasbrenner mit einer orangefarbenen Flasche darunter. Ein paar Edelstahltöpfe standen kopfüber auf einem Abtropfgitter neben einer Spüle. Tanja drehte den Hahn auf, Wasser sprudelte heraus.
Ein Trampelpfad führte weiter in den Garten. Er musste einige tausend Quadratmeter umfassen. Vielleicht hatte der Ötzi oder irgendein Vorbesitzer ein angrenzendes Weidegrundstück gleich mit erworben. An Platz mangelte es in der Eifel nicht.
»Guck mal, wo der Pfad hinführt.« Tanjas Stimme klang scharf. »Ich schau mich noch mal in dem Büro um.«
Noch heute Morgen war Peter stolz darauf gewesen, dass Tanja ihn bei den Ermittlungen dabeihaben wollte, doch jetzt kam es ihm so vor, als bräuchte sie ihn nur als Praktikanten. Leider war die Mordkommission ihm übergeordnet. Er war ja nur ein einfacher Kriminalhauptkommissar, der sich sonst mit Geschwindigkeitsüberschreitungen und anderen kleineren Vergehen befasste. Sein derzeit wichtigster Fall war der Diebstahl von fünfzig Heuballen aus einer Scheune. Widerwillig musste er sich bei dem Gedanken eingestehen, dass es doch interessanter war, mit Tanja in einem Mordfall zu ermitteln. Auch wenn sie ihn herumscheuchte.
Kaum war seine Kollegin im Haus verschwunden, sackte Peter auf eine Bank – eher einen Baumstamm, der mit einer Kettensäge so bearbeitet worden war, dass eine Sitzfläche entstand. Er atmete tief durch. Wenn nur diese Kopfschmerzen verschwinden würden. In Köln hatte er am Samstagabend die Bar angesteuert, in der er schon öfter mal erfolgreich Frauen aufgerissen hatte. Nur um festzustellen, dass sie geschlossen war. »Hier öffnet für euch demnächst das Bistro ›Ginkgo‹ – vegane Speisen und Getränke«, verkündete ein Schild an der Tür. Peter bezweifelte, dass er in einem veganen Ginkgo-Bistro eine Frau abschleppen konnte. Jedenfalls keine, die ihm gefiel. Bestimmt gingen da nur Hungerhaken hin, an deren Hüftknochen er sich blaue Flecken holen würde. Nach dieser ersten Enttäuschung war es mit dem Wochenende weiter bergab gegangen, er wollte gar nicht daran denken. Peter rieb sich die Schläfen. Er sollte sich an die Arbeit machen. Tanja hatte ihm einen Auftrag gegeben.
Er rappelte sich auf und folgte dem Pfad, der hinter der Linde zwischen Büschen verschwand. Dahinter entdeckte er eine Reihe von Hochbeeten, in denen Strünke vertrockneter Tomatenpflanzen steckten, und wuchernde Himbeersträucher. Der schmale Weg endete an einer großen Rasenfläche mit einem runden Gebilde. Ein dunkles Zelt mit einer Art Dach.
Peter erinnerte sich, ähnliche Behausungen im Fernsehen in Reportagen über Mongolen gesehen zu haben. Er stand vor einer Jurte.