Читать книгу Sturm über der Eifel - Katja Kleiber - Страница 8
Der Ötzi
ОглавлениеKriminalhauptkommissarin Tanja Marx blinzelte. Hielt der Goloring sie in einer Zeitschleife gefangen? Die Hand tief in der Manteltasche vergraben, fühlte sie nach ihrem Smartphone. Die Berührung gab ihr ein vertrautes Gefühl von Gegenwart. Sie lebte weiterhin im 21. Jahrhundert, auch wenn die Leiche vor ihr aus einem anderen Zeitalter zu stammen schien.
Sie musterte den Toten: Die Haare waren zu einem Zopf am Hinterkopf gebunden, über den Schultern hing ein Fell oder eine Art Fellkragen. Der Mann trug ein Hemd aus Leinen, soweit sie das bei all dem Blut erkennen konnte. Eine Lederhose. Keine Schuhe.
Eine Leiche ohne Schuhe. Vielleicht ein Zeitgenosse vom Ötzi? Aber ganz so alt wie die Gletscherleiche konnte diese doch nicht sein, denn eine Mumie blutete nicht. Die Erde unter der Eiche, wo sie den Mann gefunden hatten, war durchtränkt mit Blut. Der Fundort schien somit der Tatort zu sein. Ein derart schwer verletzter Mann schleppte sich nicht mehr hierher. Auch konzentrierte sich der Blutfleck auf den Bereich, wo die Leiche lag, es gab keine Blutspur.
»Mit dem Leben unvereinbare Verletzungen«, hatte der Notarzt in seinem Bericht vermerkt.
Die Kollegen von den Erstkräften aus Kobern-Gondorf hatten sie schon vorgewarnt, dass es kein alltäglicher Anblick war, der sie hier erwartete.
Jeden Moment würde die Forensikerin eintreffen. Tanja mochte Renate Schade eigentlich, weil diese sehr genau und gründlich arbeitete. Trotzdem war sie froh, noch einen Moment allein zu sein, in dem sie die Leiche in Ruhe betrachten konnte.
Es war kalt an diesem Montagmorgen, dem 1. November. Tanja fröstelte. Wieso nur hatte sich der Ötzi ausgerechnet in dieser unwirtlichen Jahreszeit in ihrem Zuständigkeitsbereich umbringen lassen? Wieso bekam sie solche Fälle und nicht die der einfachen Sorte à la »Alter erschlägt seine Alte«? Oder wenigstens Fälle mit Prestige, Islamisten, Organisierte Kriminalität oder sonst was Spannendes? Fälle, die ihrer Karriere einen Schub geben könnten? Aber nein, natürlich war sie Teil der Kommission, die sich mit einer Leiche befassen musste, die aus der Zeit gefallen schien. Die noch nicht einmal Schuhe trug. Und das bei dieser Kälte.
Der ältere Polizist von den Erstkräften aus Kobern-Gondorf reichte ihr eine Plastiktüte mit einer Lederbörse. »Die haben wir bei ihm gefunden.«
Tanja lächelte schief. Wenigstens besaß ihr Ötzi ein neuzeitliches Portemonnaie. Sie hätte eher vermutet, dass er noch mit Muschelketten gezahlt hatte. Oder mit Nuggets. Die Geldbörse konnte sie gleich an die Tatortgruppe weiterreichen, die sich mit den Spuren hier vor Ort befasste.
Sie friemelte Gummihandschuhe aus ihrer Tasche, blies sie auf und streifte sie über. Vorschrift war Vorschrift, auch wenn auf dem Portemonnaie sicher keine Fingerabdrücke mehr zu finden waren, so blutverkrustet, wie das Leder war. Sie öffnete die Börse vorsichtig. Sie enthielt fünfundsiebzig Euro in Scheinen, etwas Kleingeld, einige Tankbelege. Aha, der Ötzi besaß nicht nur zeitgenössische Münzen, er fuhr auch ein neuzeitliches Gefährt.
»Haben wir das Auto gefunden?«
»Auf der anderen Seite des Golorings steht ein Volvo auf einem Feldweg, dessen Daten zu dem Fahrzeugschein passen. Älteres Modell.«
Sie nickte dem Polizisten zu. Das Auto würde ein wichtiger Anhaltspunkt für weitere Ermittlungen sein. Er hatte von einem Fahrzeugschein gesprochen. Sie griff in ein Seitenfach der Geldbörse, in dem Papiere steckten, und stellte fest, dass der Tote ganz ähnliche Dokumente wie sie selbst besaß: eine Sparkassenkarte, einen Führerschein, einen Kfz-Schein und einen Personalausweis, den sie herauszog.
Der Name klang zeitgenössisch: »Leonhart Schmidt«, las sie vor, »geboren am 24. Juni 1974 in Kobern-Gondorf. Wohnhaft in Eichenbach. – Wo ist das?«, fragte sie den Kollegen. Sie konnte schließlich nicht jedes Kaff hier an der Mosel kennen.
»Weiß ich leider nicht«, sagte der Polizist knapp und schien sich gerade noch beherrschen zu können, nicht die Hacken zusammenzuschlagen. Die Präsenz der Zentralen Kriminalinspektion aus Koblenz in Form von Tanja schien ihn einzuschüchtern. Wie würde es ihm nur gehen, wenn die anderen Kollegen von der Mordkommission eintrafen?
Tanja zückte ihr Handy und googelte »Eichenbach«.
»Ortsgemeinde Antweiler, Landkreis Ahrweiler«, spuckte das Gerät in Sekundenschnelle aus.
Antweiler! Ausgerechnet. Antweiler war ihr allerdings bekannt. Im vergangenen Jahr hatte sie ein Fall in dieses Dorf in der Vulkaneifel geführt. Ein mysteriöser Giftmord. Die Hauptverdächtige war eine Art Hexe gewesen.
Sie riss sich zusammen. Dies war ein neuer Fall. Nicht alle Morde in der Eifel waren so kompliziert wie der vom letzten Jahr. Selbst wenn es jetzt wieder einen Bezug zu Antweiler gab. Verdammt, das hier war ihre Arbeit, und sie machte sie gerne. Sie würde systematisch vorgehen, so wie sie es gelernt hatte. Sie besaß alle Fähigkeiten und Kenntnisse, die nötig waren, um die Tat aufzuklären, rief sie sich ins Gedächtnis. Außerdem war sie nicht allein. Kripochef Anton Brettschneider, hinter vorgehaltener Hand »Tünnes« genannt, hatte bereits ein Dutzend Kollegen zusammengetrommelt, die alle an einem Strang ziehen würden.
Sie würde ihren Teil dazu beitragen, den Fall aufzuklären. Mochte er sie auch in die tiefste Eifel führen, wo sie noch nicht mal den Dialekt verstand und wo Tote aussahen wie dieser hier. Auch Ötzis hatten ein Recht darauf, dass ihre Mörder gefunden wurden.
Tanja zückte erneut ihr Handy, um Peter Claes anzurufen. Der Erste Kriminalhauptkommissar in Adenau war für den Landkreis Ahrweiler zuständig und somit auch für Antweiler. Er würde die Laufarbeit erledigen, sie die Kopfarbeit. Außerdem verstand er Eifler Platt. Wenn er auch nicht besonders helle war, hatte er beim letzten Fall, den sie gemeinsam gelöst hatten, doch gute Arbeit geleistet. Mit Claes an ihrer Seite hätte sie vielleicht eine Chance, sich in der Mordkommission hervorzutun.
Je schneller sie die Sache abschlössen, desto besser. Sie brauchte Zeit für die Vorbereitung ihres Workshops, einer Fortbildung an der Polizeihochschule in Büchenbeuren. Kripochef Brettschneider hatte ihr den Kurs vorgeschlagen und etwas gemurmelt, wovon sie nur das Wort »Gender« mitbekam. Wahrscheinlich brachte ihre Fortbildung dem Kriminaldirektor auf höherer Ebene Punkte ein für die besondere Förderung weiblicher Mitarbeiter. Aber das konnte ihr egal sein, solange die Fortbildung auch ihre eigene Karriere vorantrieb.
Sie drückte auf das grüne Symbol für die Anruftaste und lauschte dem Rufton. Doch Claes meldete sich nicht. Tanja runzelte die Stirn.
Wieder drifteten ihre Gedanken zu der Fortbildung. Als sie sich genauer mit den Unterlagen für den Kurs beschäftigt hatte, war ihr klar geworden, wie sie sich profilieren konnte, wenn sie dort eine Fallanalyse präsentierte. Fast könnte man denken, dass sich hinter der bräsigen Art des Kripochefs ein messerscharfer Verstand verbarg. Sicher hatte er in Zukunft einiges mit ihr vor. Sie durfte ihn nicht enttäuschen.
In dem Moment rollte ein dunkler Mercedes durch das Tor in der Umzäunung des Golorings, gefolgt von weiteren Streifenwagen. Der Staatsanwalt und weitere Einsatzkräfte, die die kriminaltechnische Arbeit übernehmen würden.
Noch einmal schaute Tanja sich um. Wo genau befand sie sich eigentlich? Am Eingang hatte sie ein Schild bemerkt mit irgendwelchen Erklärungen für Touristen. Offenbar war sie an einem historisch bedeutsamen Ort. Ihr Blick fiel auf den flachen Erdwall zwischen den Bäumen. War dies eine Stellung aus dem letzten Weltkrieg? Ein Teil des Westwalls? Aber der hatte doch Panzersperren aus Beton, erinnerte sie sich, und solche waren hier weit und breit nicht zu sehen. Außerdem müsste sich der Westwall auch weiter westlich in der Eifel befinden. Dies hier schien ein älterer Wall zu sein, vielleicht von den Römern? Oder sogar noch älter? Aber war das überhaupt wichtig? Sie fröstelte.