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3. Kapitel

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Reverend George Haas war mit seinem Leben rundherum zufrieden. Das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint: Seit zweiundzwanzig Jahren war er der gute Hirte einer blühenden Gemeinde und kümmerte sich mit Hingabe um die Menschen, die ihm anvertraut worden waren. Er galt als fromm und ehrlich und hatte immer eine offene Tür für Hilfesuchende. Er war berühmt für seine Eloquenz bei den sonntäglichen Predigten, aber auch berüchtigt, weil er durchaus von seiner Kanzel wettern konnte, wenn er ein Unrecht erkannt hatte.

New York galt als deutscheste Stadt Amerikas.

Zahlreiche Einwanderer strömten jedes Jahr aus Deutschland nach New York, um ein neues Leben anzufangen. Es war die Hoffnung, welche die meisten von ihnen herführte. Hoffnung auf einen Neuanfang. Einen Platz zum Leben. Ein solides Auskommen. Eine neue Art von Freiheit.

Die meisten deutschen Einwanderer ließen sich in einem Teil der Lower East Side nieder, der als Little Germany bekannt war. Kleindeutschland, wie die Bewohner selbst ihr Viertel nannten, wurde im Osten vom East River und im Westen von der Vergnügungsstraße Bowery begrenzt. Das Herz dieser Gegend war die St. Mark’s Kirche, der George Haas vorstand. Er war kein auffälliger Mann, aber wenn er sprach, hörte man ihm zu. Etwas Bezwingendes lag in seinem Wesen, das seine Kraft entfaltete, wenn er das Wort ergriff. Man sah ihn nie anders als in Schwarz gekleidet. Ein gepflegter, graumelierter Bart zierte Oberlippe und Kinn, und seine braunen Augen blickten hinter einer runden Brille freundlich, offen und stets auch ein wenig nachdenklich.

In den vergangenen Jahren hatte er einen Chor und eine Bibelgruppe für die Erwachsenen gegründet, für die Kinder gab es einen Kindergarten und eine Sonntagsschule. Sein Anliegen war es, den neu Zugewanderten in seiner Gemeinde durch Kultur, Glaube und gemeinsame Erlebnisse zu helfen, in der Neuen Welt zurechtzukommen. Das hektische Leben in der Riesenstadt war ein anderes als daheim. Viele mussten erst lernen, damit zurechtzukommen.

Nicht immer verlief das Einleben gefahrlos. Diese Erfahrung hatte auch Charles Rosenagel machen müssen. Der Tischler war vor wenigen Wochen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern mit dem Schiff angekommen und kämpfte seitdem für das Auskommen seiner Familie. Just an diesem Morgen war er von einem Automobil angefahren worden. Nun lag er im Krankenhaus und würde auf unabsehbare Zeit bei der Arbeit ausfallen. Damit stand seine Familie ohne Einkommen da.

George Haas besuchte Dora und ihre Kinder und brachte ihnen nicht nur einen Korb mit Lebensmitteln, sondern bot Dora auch an, im Kindergarten zu arbeiten. Das würde ihr gestatten, ihren Nachwuchs im Auge zu behalten und ein paar Dollar in der Woche zu verdienen.

Die Familie lebte zu viert in einer Ein-Zimmer-Wohnung eines Mietshauses. Es gab kein fließendes Wasser, und die Außentoilette mussten sie sich mit den Nachbarn teilen. Der einzige Raum war vollgestopft mit Möbeln. Wäsche hing auf einer Leine über dem Waschtisch. Die Luft war schwer und roch nach dem Kohlefeuer im Ofen. In einer Ecke stand ein Schaukelstuhl aus altem Nussbaum mit zahlreichen Decken und Kissen darauf. Darüber war ein Tuch an der Wand festgemacht, welches mit blauem Garn bestickt war. Rings um einen Blumenkorb stand in verschnörkelten Lettern zu lesen: Ein jeder Schmerz lässt sich verwinden, und jede tiefe Wunde heilt, nur eine Seele musst du finden, die alle Schmerzen mit dir teilt.

Dora Rosenagel war unübersehbar schwanger, und es war offensichtlich, dass die Familie bald ein größeres Zuhause brauchen würde.

Sie trug ihre Jüngste auf der Hüfte und bot ihrem Gast höflich eine Tasse Kaffee an. Das Getränk schmeckte, als hätte sie den Kaffeesatz mehrfach aufgebrüht, aber er wurde in einer liebevoll bemalten Porzellantasse mit Goldrand serviert.

George Haas nahm einen langen Schluck. »Gibt es schon Nachricht, wie es deinem Mann geht, Dora?«

»Der Doktor weiß noch nicht, wie lange er im Krankenhaus bleiben muss. Charles hat viel Blut verloren.« Dora presste ihre Lippen zu einem Strich zusammen, sodass sie beinahe weiß erschienen. Ihre aschblonden Haare waren zu einem Knoten gebunden. Darüber trug sie eine weiße Haube. Der harte Zug um ihren Mund ließ sie älter wirken, als sie vermutlich war. »Charles hätte besser aufpassen müssen. Er ist direkt vor das Automobil gelaufen.«

»Die Straßen sind hier gefährlicher als daheim. Alles geht schneller. Darauf müssen wir uns einrichten.«

»Diese Automobile sind modern, aber ich glaube nicht, dass sie eine Zukunft haben werden. Sie sind viel zu gefährlich.«

»Wer weiß, wohin sich der Fortschritt entwickeln wird. Wir sollten mit offenen Herzen in die Zukunft gehen.«

»Ohne meinen Charles …« Sie stockte und legte eine Hand auf ihren Bauch, der sich deutlich unter der gestreiften Wirtschaftsschürze abzeichnete. Die zweijährige Lillian auf ihrem Arm hustete.

»Dora, ihr benötigt dringend eine größere und vor allem trockenere Wohnung.« George Haas blickte bezeichnend auf die dunklen Flecken an der Zimmerdecke. »Ich werde eine Anzeige im St. Mark’s Monthly veranlassen und nach einem neuen Zuhause für euch suchen. Mit Gottes Hilfe finden wir bald etwas Geeignetes für euch.«

»Eine größere Wohnung können wir uns nicht leisten«, flüsterte Dora.

»Auch da wird sich Rat finden. Vorerst kannst du im Kindergarten arbeiten, wenn du das möchtest.«

»Natürlich. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie an mich gedacht haben.«

»Dann ist das also abgemacht. Du kannst morgen anfangen.« George Haas leerte seine Tasse und setzte sie vorsichtig auf dem Holztisch ab. Die Tischdecke war sorgfältig geflickt und bestechend sauber. Er erhob sich von seinem Platz, zwinkerte dem vierjährigen Elias zu, der sich schüchtern hinter die Schürze seiner Mutter duckte, als diese ebenfalls aufstand, und verabschiedete sich mit dem Versprechen, in den nächsten Tagen wiederzukommen und sich nach dem Ergehen von Charles Rosenagel zu erkundigen.

Der Sturm riss ihm die Haustür beinahe aus den Händen. Es schneite heftiger als noch vor einer halben Stunde. Reverend Haas knöpfte seinen Mantel zu, senkte den Kopf und trat den Heimweg an. Der Geruch von Kohl, Urin und Kohlefeuer in der Wohnung war bedrückend gewesen. Dazu die feuchte Luft … Nein, gesund war das alles sicherlich weder für die schwangere Dora noch für ihre Kinder. Sie brauchten wirklich dringend ein anderes Zuhause. Er würde sich in seiner Gemeinde umhören, ob irgendwo zwei Zimmer für die Familie frei waren.

Solcherart in Gedanken versunken, kämpfte er sich gegen den Sturm nach Hause. Der April zeigte sich in diesem Jahr wechselhaft und launisch. Bald versprachen milde Temperaturen, dass endlich der Frühling anbrach, dann wieder fegten bitterkalte Stürme durch die Stadt und brachten späte Schneefälle und Kälte mit. Viele Einwohner von Little Germany litten an Fieber und einem hartnäckigen Husten. Nach dieser Nacht würden es sicherlich noch mehr werden.

Unterwegs kamen ihm einige Passanten entgegen, die nach dem Abendbrot noch Besorgungen machten, ganz ungeachtet des Wetters. Gewohnheiten waren den Bewohnern des Viertels wichtig. Sie hielten daran fest, da interessierte sie auch kein Schneesturm, der über ihre Stadt hinwegfegte. Grüße wurden gewechselt. Die Einwanderer brachten kaum Geld, dafür aber Fleiß, Ideale und ein gutes Handwerk mit. Und sie arbeiteten hart, um sich eine Zukunft in der Neuen Welt zu schaffen. Die Handelszweige waren nach den Regionen verteilt, aus denen die Zuwanderer kamen. Die Norddeutschen beherrschten den Kram- und Gemüsemarkt, während die Süddeutschen vorzügliches Bier lieferten. Die Fleischer und Bäcker kamen häufig aus dem Schwabenländle.

George Haas lenkte seine Schritte nach Hause. Er wohnte mit seiner Frau und seinen beiden Kindern im Haus Nummer 64 in der 7th Street. Das Gebäude war aus rotem Backstein errichtet und verfügte über vier Etagen und hohe Fenster, die mit hölzernen Läden vor Wind und Wetter geschützt werden konnten. Zehn Stufen führten zum Hauseingang hinauf. Auch sie waren an diesem Abend tief verschneit.

Am Sonntag werde ich in meiner Predigt zur Vorsicht mahnen, sann der Reverend. Der Verkehr auf den Straßen wird immer schneller. Wir müssen Acht geben, dass wir … Weiter kam er mit seinen Überlegungen nicht, weil keine zwei Armlängen vor ihm ein Fremder um die Hausecke taumelte und geradewegs auf ihn zukam. Er war so blass, dass sein Gesicht mit dem weißen Schneegewirbel gespenstisch verschwamm. Auf seinen Armen trug er eine junge Frau. Sie schien nicht bei Bewusstsein zu sein. Sie rührte sich nicht, und ihr Arm hing schlaff herunter. Zudem blutete sie an der Wange und am Hals, und auch sie war erschreckend blass.

»Bitte, helfen Sie … Adeline!«, stieß der Unbekannte heiser hervor. Er sprach Deutsch, aber in Little Germany hatte der Reverend ihn noch nie gesehen. Plötzlich verließen den Fremden die Kräfte. Seine Beine knickten unter ihm ein wie Zündhölzer, und er hätte seine kostbare Last wohl auf den verschneiten Gehweg fallen gelassen, hätte der Reverend nicht die Geistesgegenwart besessen und seine Arme ausgestreckt, um ihn zu stützen. So sanken sie zusammen auf die Stufen vor dem Hauseingang. Der lange grüne Rock der Fremden und ihr Paletot waren feucht, aber die dunklen Flecken auf dem Stoff schienen nicht nur vom geschmolzenen Schnee zu kommen. Das war auch Blut!

Der Unbekannte kniete auf dem Boden und krümmte sich. Seine Schultern hingen schlaff nach unten. Sein Atem kam schwer und mit jedem Zug langsamer, als würde ihn das Luftholen zu sehr anstrengen. Er konnte nicht mehr als zwanzig Jahre zählen, aber in diesem Augenblick war sein Gesicht grau und zerfurcht wie das eines alten Mannes.

»Kommen Sie mit ins Haus. Ich werde einen Arzt rufen.«

»Adeline. Ihr Name ist Adeline. Helfen Sie ihr, bitte. Und keine … Polizei. Können denen … nicht … trauen.«

»Keine Polizei? Haben Sie beide etwas angestellt?«

»Wir …« Ein Röcheln schnitt dem Unbekannten das Wort ab.

»Sagen Sie mir doch, was Ihnen zugestoßen ist.«

»Er war es. Er …«

»Wer? Von wem sprechen Sie? Wer hat Ihnen das angetan?« George Haas wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. »Wie heißen Sie?«

»Albert …« Der Unbekannte stöhnte etwas Undeutliches. Seinen Nachnamen? Das war unmöglich zu sagen.

»Ich nehme Sie jetzt erst einmal mit in meine Wohnung, Albert. Dort kann ich mir Ihre Verletzungen ansehen und jemanden nach dem Arzt ausschicken.« Der Reverend hob die junge Frau auf seine Arme und erschrak bis ins Mark, weil der Unbekannte auf einmal zur Seite kippte und reglos auf dem Bürgersteig liegen blieb. »Aber … nein! Kommen Sie, junger Mann, Sie können mir hier nicht einfach wegsterben! Sie müssen …« Er verstummte, als ihm dämmerte, dass es keine Hilfe mehr für den Fremden gab. Der junge Mann war tot. Reverend Haas senkte den Kopf und sprach ein leises Gebet.

Dem Unbekannten hatte er nicht mehr helfen können, aber er würde auf keinen Fall zulassen, dass ihm die junge Frau in den Tod folgte. Der Unglückliche hatte seine letzten Kräfte aufgebracht, um sie zu retten. Dieses Opfer durfte nicht vergebens gewesen sein!

Vielleicht hätte er überlebt, wenn er sich selbst Hilfe gesucht hätte, stattdessen hat er diese junge Dame hergebracht. Sie muss ihm wichtig gewesen sein. Er hat sein Leben geopfert, um ihres zu retten. Das Mindeste, was ich für ihn tun kann, ist, seinen letzten Wunsch zu erfüllen und mich um sie zu kümmern. Adeline braucht einen Arzt.

Und das schleunigst!

Im Herzen das Licht

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