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4. Kapitel

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Heiße und kalte Schauer schüttelten sie. Sie schwitzte und fror gleichzeitig, zusätzlich verspürte sie ein scharfes Brennen in ihrer rechten Schulter. Weiße Schwaden waberten vor ihren Augen, als würde sie sich in einer Waschküche befinden, in der Weißwäsche ausgekocht wurde. Sie blinzelte, aber es war furchtbar anstrengend, die Augen offen zu halten. Ihre Lider sanken zugleich wieder nach unten. Verflixt!

Sie wollte unbedingt wissen, wo sie war, und kämpfte darum, die Augen wieder aufzuschlagen. Beim zweiten Versuch ging es leichter. Sie kannte das Zimmer nicht, in dem sie sich befand. Es war klein, aber behaglich eingerichtet: mit einer grün gestreiften Tapete und Möbeln aus Nussbaumholz. Ein Schreibpult stand am Fenster. Daneben war eine Staffelei aufgebaut. Das Bild war mit einem Tuch aus vergilbtem Linnen verhängt. Der schwache Geruch von Ölmalfarbe ging davon aus. Ein wuchtiger Kleiderschrank und eine Kommode vervollständigten die Einrichtung.

Den Boden bedeckte ein Orientteppich mit braunen und cremefarbenen Ornamenten. Eine Gaslampe baumelte von der Decke, brannte jedoch nicht. Stattdessen wurde der Raum von einer Petroleumleuchte erhellt, die neben dem Bett auf einem Hocker stand.

Wo bin ich hier nur?

Das Zimmer fühlte sich fremd an. Überhaupt alles fühlte sich fremd an.

Sie lag in einem weiß bezogenen Bett, und das eiserne Gestell quietschte unter ihr, als sie sich mühsam aus den weichen Federkissen hochkämpfte. Ein heftiger Drehschwindel erfasste sie. Sie stieß einen Wehlaut aus und sank zurück auf das Bett. Ich gehöre nicht hierher, ging es ihr durch den Kopf. Wenn ich nur wüsste, wo ich bin und … wer … Ein heißer Schreck fuhr ihr durch den Körper und vertrieb sekundenlang jede andere Empfindung. Sie zerbrach sich den Kopf, aber ihr wollte partout nicht einfallen, wie ihr Name war.

Das gab es nicht! Das konnte einfach nicht sein. Sie musste doch wissen, wie sie hieß! Doch so sehr sie auch grübelte, sie vermochte sich nicht darauf zu besinnen. Dabei hatte sie das Gefühl, ihr Name wäre hinter einem dichten Brokatvorhang verborgen, den sie nur zur Seite schieben musste, dann würde er ihr wieder einfallen. Doch es gelang ihr nicht. Eine Sperre in ihrem Kopf verhinderte, dass sie auf ihre Erinnerungen zugriff.

Unvermittelt klopfte es an der Tür. Sie schwang auf, und eine schlanke, hochgewachsene Frau trat ein. Sie mochte in mittleren Jahren sein und trug ihre dunklen Haare zu einem eleganten Knoten geschlungen. Mit den hohen Wangenknochen und den dunklen Augen war sie ausgesprochen hübsch. In den Händen trug sie eine Schüssel mit Wasser, und über ihrem Arm lagen mehrere Tücher. Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihr schmales Gesicht.

»Du bist wach. Ich bin ja so froh! Aber du solltest noch nicht sitzen. Der Arzt sagt, du hast viel Blut verloren und brauchst Ruhe.« Die Unbekannte sprach Deutsch. Aus irgendeinem Grunde wunderte sie das.

»Wo …« Das Sprechen fiel ihr schwer. Jedes Wort kam so mühsam, als hätte sie einen Flusskiesel im Mund. »Wo bin ich?«

»Oh, natürlich, das weißt du nicht. Du warst nicht bei Besinnung, als man dich zu uns brachte. Hab keine Angst, du bist in Sicherheit. Ich bin Anna Haas. Mein Mann ist Reverend George Haas, der Pfarrer der Gemeinde St. Mark’s.«

Die Namen sagten ihr nichts. Sie tastete nach ihrer Schulter und zuckte zusammen. Sie spürte nicht nur einen Verband, sondern auch einen scharfen Schmerz.

Sorge huschte über das Gesicht der Pfarrersfrau. Sie stellte die Schüssel neben dem Bett ab und zog sich einen Stuhl heran. »Ich bin mir sicher, dass du viele Fragen hast. Ich werde sie dir beantworten, so gut ich kann, aber nun leg dich erst einmal wieder hin, ehe deine Wunde aufbricht.«

»Welche Wunde?«

»Du wurdest angeschossen. Weißt du das nicht mehr?«

Sie schüttelte benommen den Kopf. Angeschossen? Wirklich? Sollte sie sich nicht daran erinnern? Aber da war nichts in ihrem Kopf. Kein Bild. Keine Erinnerung. Nur ein dichter, zäher Nebel und ein dumpfer Schmerz, der schlimmer wurde, während sie versuchte, Zugang zu ihrer Erinnerung zu erhalten.

»Die Kugel ist glatt durch deine rechte Schulter gegangen. Der Arzt hat die Wunde mit Lysollösung gereinigt und genäht. Er hat auch die Verletzungen an deinem Hals und deiner Wange versorgt.« Eine Furche grub sich zwischen den geschwungenen Brauen der Frau ein. »Du hast einiges mitgemacht, aber hier hast du nichts mehr zu befürchten, das verspreche ich dir.«

Verletzungen an ihrem Hals? Und an der Wange? Sie tastete nach ihrem Gesicht und zuckte zusammen. Die Berührung brannte.

»Hast du Schmerzen in der Schulter? Der Arzt hat mir eine Opiumtinktur für dich dagelassen. Ich darf dir mehrmals täglich einige Tropfen davon auf Zucker geben. Willst du gleich etwas davon einnehmen?«

Opium? Nein, lieber nicht! Die Tropfen würden ihren Verstand nur noch mehr umnebeln, deshalb hob sie matt abwehrend eine Hand. »Später«, wisperte sie. »Wo bin ich hier?«

»Du bist in unserem Haus. Dieses Zimmer bewohnt sonst mein Sohn, aber du kannst gern bleiben, solange es nötig ist. George Jr. schläft solange im Zimmer seiner Schwester.«

»E tut mir leid. Die Umstände …«

»Das macht doch nichts, Liebes. Gertrude ist selig, ihren Bruder bei sich zu haben. Sie hat oft Albträume. Es hilft ihr, nicht allein zu schlafen.« Anna Haas nickte ihr begütigend zu. »Mach dir keine Sorgen. Du bist uns willkommen, Adeline.«

»Adeline?« Der Name fühlte sich fremd an. Wie ein Mantel, der ihr nicht gehörte. »Heiße ich so?«

»So nannte dich der junge Mann, der dich hergebracht hat.«

»Ein junger Mann?«

»Sein Name war Albert.«

»Albert.« Sie horchte in sich hinein. Auch jetzt spürte sie nichts. Keine Verbindung. Kein Wiedererkennen. Warum konnte sie sich nicht erinnern?

»Du weißt es nicht mehr?«

»N-nein.«

»Gar nichts mehr? Weißt du, in welcher Stadt wir uns befinden? Und in welchem Jahr?«

»Wir sind in New York, nicht wahr? Es ist … 1904?«

»Das ist richtig. Was ist mit deinem Zuhause? Weißt du, wo du wohnst? Und wer deine Familie ist?«

Sie zerbrach sich den Kopf. In ihren Ohren rauschte es, und ihr war immer noch schwindlig, aber sie wollte, sie musste herausfinden, woher sie kam und was mit ihr passiert war. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, es wollte ihr nicht einfallen. Als wären ihre Erinnerungen in einem See versunken, der mit einer dicken Eisschicht bedeckt war. Sie spürte, dass darunter etwas war, aber sie konnte es weder erkennen noch fassen. »Ich erinnere mich nicht. An nichts. Wie ist das nur möglich?«

»Du hast eine große Aufregung erlebt.« Anna Haas sah sie bekümmert an. »Der Verstand braucht Zeit, um das zu verwinden.«

»Aber warum weiß ich, dass wir gerade April haben, und nicht, wo ich wohne? Das passt doch nicht zusammen. Oder?«

»Das kann ich leider nicht beantworten, aber ich bin mir sicher, deine Erinnerungen werden zurückkommen, sobald du dich erholst. Leg dich wieder hin, Adeline. Ich werde dich mit kaltem Wasser abwaschen. Das hat der Arzt gegen das Fieber empfohlen. Er kommt morgen Früh wieder und sieht nach dir.«

»Und wo ist der Mann, der mich gebracht hat? Wo ist Albert?«

»Er …« Anna Haas stockte.

»Er wird wissen, was mir passiert ist. Ich möchte mit ihm sprechen, bitte. Können Sie ihn holen?« Flehend blickte Adeline auf. Vor dem Fenster war es dunkel. Ihr Gefühl verriet ihr, dass es spät am Abend war. Sicherlich war es nicht schicklich, um diese Zeit Herrenbesuch zu erhalten, aber die Fragen, die ihr auf dem Herzen brannten, duldeten keinen Aufschub. »Nur ganz kurz. Bitte, rufen Sie ihn zu mir.«

»Das kann ich leider nicht. Ach, Adeline.« Trauer beschattete das Gesicht der Pfarrersfrau. »Es tut mir leid, aber er ist gestorben, kurz nachdem er dich zu uns gebracht hatte. Seine Verletzung war schwer. Wir konnten ihm nicht mehr helfen.«

»Er … er war auch verletzt?«

»Ja, er hatte eine Schusswunde. Im Bauch. Er hat dich getragen. Vor unserem Haus haben ihn die Kräfte verlassen.«

»Also wurden wir beide beschossen?«

»So sieht es leider aus.«

»Aber warum? Wer sollte so etwas tun?«

»Das weiß ich leider nicht.«

In Adelines Kopf drehte sich plötzlich alles. Sie war angeschossen worden, ebenso ein Mann namens Albert. Ihr konnte geholfen werden, aber er hatte nicht so viel Glück gehabt. »Wer war er für mich? Mein Vater?«

»Das glaube ich nicht. Er war nur wenige Jahre älter als du. Um die zwanzig, würde ich sagen.«

»War er mein Mann? Oder mein Bruder? Ein Freund?«

»Wir hatten gehofft, du könntest uns das sagen.«

»Hatte ich denn nichts bei mir? Eine Tasche? Oder Sachen, die verraten, woher ich komme?«

»Nur die Kleidung, die du am Leib getragen hast. Ich werde sie morgen für dich waschen und flicken. Eine Tasche haben wir nicht gefunden. Vielleicht hast du sie unterwegs verloren. Den Schrammen nach zu urteilen, die ihr beide hattet, wart ihr auf der Flucht vor irgendjemandem.«

Auf der Flucht. Adeline horchte in sich hinein. Sie spürte kaltes Entsetzen, aber ob das von der Furcht oder von dem Verlust ihrer Erinnerungen herrührte, konnte sie nicht sagen.

»Mein Mann ist unterwegs, um jemanden zu besuchen, der dir vielleicht helfen kann, ein paar Antworten zu finden. Hab Geduld, Adeline.«

»Ich muss wissen, was geschehen ist«, flüsterte sie.

»Das verstehe ich, aber im Augenblick können wir nur abwarten und darauf vertrauen, dass der Herrgott dich nicht ohne Grund zu uns geschickt hat.« Anna Haas strich ihr über die Hand. »Bist du hungrig? Ich habe noch Suppe in der Küche, die kann ich dir bringen.«

»Danke, ich möchte jetzt nichts essen.« Ihre Kehle war so eng, als würden sich unsichtbare Finger darum legen und zudrücken. Sie würde jetzt keinen Bissen hinunterbringen.

»Mama?« Im Türspalt tauchte ein schmales Mädchengesicht auf. Zwei braune Zöpfe baumelten über einem wadenlangen weißen Nachthemd. Das Mädchen konnte nicht älter als dreizehn sein, es war barfuß und hatte eine sommersprossige Nase, die leicht nach oben zeigte und dem jungen Gesicht einen kecken Ausdruck verlieh. Sie musterte Adeline neugierig.

Wer bist denn du?, schien sie stumm zu fragen.

Adeline wünschte sich, sie wüsste eine Antwort darauf.

»Gertrude.« In der Stimme der Mutter schwangen sowohl Seufzen als auch Tadel mit. »Du solltest längst im Bett sein und schlafen. Was machst du denn hier?«

»Hab gehört, dass wir Besuch haben. Da wollte ich gucken.« Das Mädchen schabte sich die linke Hand und hinterließ rote Striemen mit ihren Fingernägeln.

»Nicht kratzen, Liebes. Das hilft doch nicht.«

»Aber es juckt wie tausend Mückenstiche.« Das Mädchen stülpte die Lippen vor. »Ich kann deswegen nicht schlafen.«

»Das Kratzen macht es aber nur schlimmer.«

»Es juckt immer, auch wenn ich nicht kratze. Kannst du nicht machen, dass es aufhört?«

»Ich komme gleich. Dann reiben wir das gute Öl darauf, das der Arzt empfohlen hat.«

»Das brennt nur. Es hilft nicht.« Gertrude schniefte.

Ihre Mutter blickte ihr Kind besorgt an.

Adeline bemerkte den schuppigen Ausschlag zwischen den Fingern des Mädchens. Die Haut war gerötet und nässte. »Umschläge mit dem Saft der Roten Beete werden gegen das Jucken helfen. Auch eine Kompresse, mit Tee aus Stiefmütterchen getränkt, wird dir guttun.«

»Stiefmütterchen-Tee?«, echoten Mutter und Tochter verblüfft.

Adelines Wangen erwärmten sich. »Wenn ihr so etwas nicht im Haus habt, wird auch ein Bad in einem Extrakt aus Buchenrinde den Ausschlag lindern. Ich kann euch zeigen, wie man den herstellt. Sobald es wärmer wird, solltest du außerdem jeden Tag ein Sonnenbad nehmen. Eine halbe Stunde Sonnenlicht bewirkt Wunder.«

Verblüfft sah Anna sie an. »Woher weißt du denn das?«

Adeline hob unsicher die Schultern – und bereute es sofort, weil sogleich ein brennender Schmerz durch ihre verletzte Schulter schoss und ihr die Tränen in die Augen trieb. »Ich habe keine Ahnung, woher ich es weiß, aber ich bin mir sicher, dass es hilft.«

»Dann versuchen wir es mit dem Saft. Den kann ich selbst herstellen. Wir haben noch einen Vorrat an Rote Beete in der Speisekammer. Komm, Gertrude, lassen wir Adeline ausruhen. Ich bringe dich wieder ins Bett und mache dir einen Umschlag.« Anna Haas nickte Adeline zu. »Und danach komme ich wieder und wasche dich kühl ab. Das wird dir beim Schlafen helfen.« Sie legte ihrer Tochter einen Arm um die Schultern und führte sie aus dem Zimmer.

Adeline hörte, wie die Schritte von Mutter und Tochter auf dem Holzfußboden verklangen. Die nachfolgende Stille schien in ihren Ohren zu dröhnen.

Ein leises Gebet formte sich in ihrem Herzen. Oh, bitte, lieber Gott, hilf mir herauszufinden, wer ich bin und was mit mir geschehen ist. Und begleite mich auf meinem Weg. Amen.

Sie horchte in sich hinein und spürte einen tief verwurzelten Glauben in sich. Außerdem konnte sie mühelos vom Englischen ins Deutsche wechseln, also war sie wohl in beiden Sprachen geübt. Deutsch schien aber ihre Muttersprache zu sein. Sie verfügte über medizinische Kenntnisse und wusste, dass die kleine Gertrude an einer Hautkrankheit litt, die mit der rechten Behandlung zwar nicht geheilt, wohl aber gelindert werden konnte. Woher wusste sie das?

Adeline. Das ist also mein Name?

Sie blickte auf ihre Hände hinunter. Ihre Finger waren schmal und weich. Offenbar pflegte sie sich gut. Zwischen Ring- und Mittelfinger der linken Hand grub sich eine schmale Narbe wie von einem Schnitt ein. Sie war verblasst und kaum noch zu erkennen, also vermutlich schon einige Jahre alt.

Adeline stemmte sich aus dem Bett hoch, das metallisch knirschend nachgab. Ihre Knie fühlten sich wackelig an, als sie langsam aufstand und zum Fenster wankte. Weit, das spürte sie, würde sie in dieser Nacht nicht kommen. Aber wenigstens wollte sie wissen, wie sie aussah.

Draußen schneite es. Die Flocken fielen so dicht, dass sie kaum bis zu der Straßenlaterne weit schauen konnte. Doch das war es nicht, was Adelines Blick wie magnetisch anzog. Es war ihre Reflexion in der Fensterscheibe! Auf dem Glas zeichnete sich ein Gesicht ab, eingerahmt von vollen Haaren, die ihr in langen Flechten über die Schultern fielen. Sie hatte schön geschwungene Augenbrauen und ein schmales, ein wenig vorgerecktes Kinn, das auf einen gewissen Eigensinn hindeutete.

Auf ihrer rechten Wange zeichnete sich eine Schramme ab. Der Verband an ihrer Schulter ließ sich unter der weißen Baumwolle des Nachthemds, welches nach Lavendel roch, erahnen. Jemand hatte auf sie geschossen. Aber wer? Und warum? Waren ihr Begleiter und sie auf der Flucht gewesen? Doch hoffentlich nicht vor dem Gesetz, oder?

Adeline legte ihre Finger auf das kühle Glas.

»Wer bin ich?«, wisperte sie. »Und was ist mit mir passiert?«

Im Herzen das Licht

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