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7. Kapitel

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Ein spitzer Schrei gellte durch das Haus des Reverends.

»Aaaah!«

Adeline saß gerade vor dem Ofen. Die langen Locken fielen offen über ihren Rücken. Sie hatte sie gewaschen und wartete nun, dass sie trocken wurden. Das Baden hatte ihr der Arzt verboten, weil der Verband an ihrer Schulter nicht nass werden durfte. So hatte sie sich am Samstagnachmittag nur mit einem Schwamm gesäubert und ihre Haare gewaschen – was mühsam genug gewesen war, weil sie sich über die Wanne beugen und mit einem Krug Wasser über ihren Schopf gießen musste. Nun dufteten ihre Haare sauber nach Seife und Äpfeln, und sie wollte sich in ihrem Zimmer etwas entspannen.

»Aaaah!«

Die Schreie ließen Adeline hochfahren. Die schnelle Bewegung bekam ihrer verletzten Schulter nicht, und ein wütender Schmerz schoss durch ihren Körper. Sie verbiss ihn, eilte zur Tür und riss sie auf. »Gertrude? Gertrude, wo bist du?«

»Ich bin hier«, kam es kläglich durch die geschlossene Tür des Badezimmers zurück.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Hm-m.«

»Fehlt dir etwas?«

»Hmmmmm.« Ein erstickter Laut war zu hören. »Kannst du hereinkommen, bitte?«

Adeline öffnete die Badezimmertür und fand die Dreizehnjährige wie ein Häuflein Unglück auf der Toilette sitzend. Gertrude presste die Hände auf ihren Bauch und war alarmierend blass.

»Ich blute«, klagte sie mit erstickter Stimme. »Da … da unten.« Sie blickte an sich hinunter und dann wieder hoch zu Adeline. »Muss ich jetzt sterben?«

Adeline stutzte kurz, bis es ihr dämmerte. »Hast du denn noch nie vorher geblutet?«

»Natürlich nicht. Aber jetzt … Mein Bauch tut weh. Ich muss sterben. Ganz bestimmt. Auauau!«

»Du musst nicht sterben, Gertrude.«

»Warum blutet es dann so sehr?«

»Das sollte dir besser deine Mutter erklären. So ist es Brauch. Ich werde sie holen.«

»Das geht nicht. Mama ist zum Kaffeekränzchen mit ihrer Frauen-Bibelgruppe gegangen. Sie wird noch ein paar Stunden fort sein.« Unglücklich ließ Gertrude die Schultern sinken, offenbar fest davon überzeugt, den Abend nicht mehr zu erleben.

Adeline brachte es nicht übers Herz, sie im Ungewissen zu lassen, deshalb setzte sie sich an den Rand der Zinkbadewanne und sah Gertrude an. »Weißt du, es ist ganz normal, dass du blutest. Das tun alle Frauen einmal im Monat. Es dauert einige Tage, dann vergeht es wieder.«

»Wirklich? Aber warum denn bloß?«

»Es zeigt, dass dein Körper nun bereit ist, ein Kind zu empfangen. Das ist etwas Wunderbares, Gertrude.« Adeline stockte unvermittelt. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass diese Ansicht ganz und gar nicht üblich war. Allgemein gingen die Menschen davon aus, dass die Unpässlichkeit eine körperliche Qual war, die mit hochgradiger Nervenanspannung und Schüben von Unzurechnungsfähigkeit einherging. Eine Frau sollte sich in dieser Zeit zurückziehen und das gesellschaftliche Leben meiden. Das war jedoch nicht Adelines Ansicht. Sie konnte nicht sagen, warum, aber sie war davon überzeugt, dass die monatliche Blutung etwas Gutes war. »Ich gratuliere dir, Gertrude, du bist jetzt eine Frau.«

»Eine Frau?« Die Augen der Dreizehnjährigen leuchteten auf. Dann blickte sie erschrocken an sich hinunter. »Aber ich werde mir mein Kleid ruinieren, wenn es weiter so blutet.«

»Keine Sorge. Ich werde dir geben, was du brauchst. Säubere dich inzwischen. Ich bin gleich wieder da.«

Adeline ging in ihr Zimmer. In dem Kleiderschrank bewahrte sie alles auf, was Frauen aus der Nachbarschaft vorbeigebracht hatten, um ihr zu helfen. Adeline verfügte dank der hilfsbereiten Nachbarinnen mittlerweile nicht nur über Kleidung und Toilettenartikel, sondern auch über mehrere Leibgürtel, an denen sich selbst genähte Stoffbinden festmachen ließen. Sie wählte einen Gürtel aus, nahm einige Stoffbinden und brachte sie hinüber zu Gertrude. Die Binde hatte lange Bänder an den Enden. Adeline zeigte Gertrude, wie sie sie mit Hilfe dieser Bänder befestigen konnte. »Sobald du nicht mehr blutest, werdet ihr die Binden auskochen. Dann kannst du sie im kommenden Monat wieder verwenden.«

Gertrudes Wangen hatten inzwischen wieder Farbe bekommen. Sie richtete ihre Kleidung und blickte unglücklich an sich hinunter. »Mein Bauch tut aber immer noch weh.«

»Am besten legst du dich ein Weilchen in deinem Zimmer hin, bis du dich besser fühlst. Ich werde dir eine Wärmflasche bringen. Die wird die Beschwerden lindern.«

»Dankeschön.« Gertrude umarmte sie impulsiv. »Ich finde es schön, dass du hier bist. Ich habe mir immer eine Schwester gewünscht. Eine, mit der ich reden kann. Mama sagt oft, ich muss noch nicht alles wissen, und Papa arbeitet immer nur.« Sie legte den Kopf schief. »Hast du eine Schwester?«

»Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich leider nicht.«

»An gar nichts aus deinem Leben?«

»Nein.«

»Vielleicht bist du in Wahrheit eine Prinzessin und lebst in einem Palast mit Kamelen und vielen Dienern. Und mit einer Zauberlampe!« Gertrudes Augen leuchteten. »Wie in den Geschichten aus 1001 Nacht. Kennst du die?«

»Ja, ich …« Adeline stockte. Sie konnte nicht sagen, woher sie die Erzählungen kannte, aber sie waren ihr vertraut.

»Mama sagt, du brauchst nur Zeit.« Gertrude legte ihre schmale Hand auf die von Adeline. »Dann wird dir alles wieder einfallen.«

»Ich hoffe, sie hat recht.«

»Ganz sicher.« Ein grenzenloses Vertrauen spiegelte sich in den Augen der Dreizehnjährigen wider. »Du hast so schöne Haare, weißt du das? Ich wünschte, meine wären lockig wie deine, aber ich habe nur zwei Rattenschwänze. Wenn sie sich locken sollen, muss Mama mich stundenlang mit der Brennschere triezen.«

»Deine Haare sind auch schön. Sie rahmen dein Gesicht perfekt ein und bringen deine Augen zum Leuchten. Ich kann dir zeigen, wie du sie hochstecken kannst, wenn du das möchtest.«

»Oh ja! Das wäre schön. Dann sehe ich endlich erwachsen aus, und meine Zöpfe fallen mir beim Schreiben nicht mehr ständig auf mein Papier und verwischen die Tinte. Wenn das passiert, lässt mich die Lehrerin alles noch einmal schreiben.«

»Gehst du gern zur Schule?«

»Ach, es geht so, aber ich brauche einen guten Abschluss. Ich möchte später nämlich für eine Zeitung schreiben. Mama schilt mich, wenn ich das sage. Sie glaubt, das wäre kein Beruf für ein Mädchen, aber Papa sagt, Frauen können alles tun, was Männer auch tun.« Gertrude nickte so lebhaft, dass ihre Zöpfe flogen, aber dann presste sie eine Hand auf ihren Bauch und stöhnte leise.

»Leg dich mal hin, Gertrude. Ich komme gleich nach.«

»Ist gut.« Gertrude wirbelte herum und eilte davon.

Adeline ging in die Küche und machte Wasser auf dem Herd heiß. Während sie darauf wartete, dass es warm wurde, ging sie in ihr Zimmer, bürstete ihre Haare, die inzwischen beinahe trocken waren, und steckte sie hoch.

Ohne darüber nachzudenken, begann sie dabei zu singen.

»›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin, ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn …‹«

Es war das Lied von der Loreley, die die arglosen Fischer ins Verderben stürzt. Die Zeilen fielen Adeline so mühelos ein, als hätte sie es schon oft gesungen. Sie wusste, dass Heinrich Heine das Gedicht geschrieben hatte – und dass Friedrich Silcher die Melodie dazu erdacht hatte, aber wer ihr das Lied beigebracht hatte, daran erinnerte sie sich nicht. Wie war das möglich? Wie konnte sie all das vergessen haben? Ihre Familie. Die Menschen, die ihr am meisten bedeuteten. Oder gab es überhaupt niemanden? War sie ganz allein? Heiße Tränen sammelten sich hinter ihren Lidern. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und kämpfte gegen die Verzweiflung an, die wie ein Knoten in ihrer Brust klemmte und ihr das Atmen schwer machte.

Ich werde die Wahrheit herausfinden, nahm sie sich vor, und ich werde mich wieder erinnern. Ich muss nur Geduld haben. Wenn ich nur nicht das Gefühl hätte, dass es da etwas Wichtiges gibt und mir die Zeit wegläuft!

Adeline befestigte die letzte Haarnadel und betrachtete sich selbst im Spiegel. Die Frau des Reverends hatte ihr eine Bluse und einen Mieder-Rock mit Trägern von sich geschenkt. Der dunkelblaue Stoff des Rocks war am Saum mit Blumen bestickt und stand ihr gut. Sie eilte wieder in die Küche, wo das Wasser nunmehr kochte. Sie füllte es in eine kupferne Wärmflasche und brachte diese zu Gertrude hinauf.

Die Dreizehnjährige lag mit einem Buch auf ihrem Bett. Dankbar kuschelte sie sich an die Wärmflasche und vertiefte sich wieder in ihre Geschichten.

Als Adeline aus dem Zimmer trat, kam ihr der Reverend im Flur entgegen und schaute sie verblüfft an. »Sagen Sie bitte: Haben Sie vorhin gesungen, Adeline?«

»Ja, das habe ich. Hoffentlich habe ich Sie nicht bei der Arbeit gestört? Ich weiß, Sie wollten an Ihrer Predigt für morgen schreiben.«

»Sie haben mich ganz und gar nicht gestört. Ich habe Ihre schöne Singstimme bewundert. Ich nehme an, Sie wurden im Gesang unterrichtet? Wenn Sie Lust haben, würde ich mich freuen, wenn Sie unseren Kirchenchor verstärken würden. Einen so bezaubernden Sopran könnten wir gut gebrauchen.« George Haas nickte ihr zu. »Überlegen Sie es sich, ja?«

»Das werde ich tun.«

»Sehr schön.« Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Geistlichen. »Brauchen Sie noch etwas, Adeline?«

»Danke, ich habe alles.«

»Ausgezeichnet. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«

»Den wünsche ich Ihnen auch.« Während der Reverend seinem Arbeitszimmer zustrebte, kehrte Adeline in ihr Zimmer zurück und machte sich ausgehfertig. Sie wollte eine Runde durch das Viertel machen und ihr Versprechen einlösen, das sie Mary Abendschein gegeben hatte: Sie würde die Geschäfte und Werkstätten besuchen und um Spenden bitten. Sie holte sich ihren Mantel, zog ihre Stiefel an und verließ das Haus. Die tief stehende Sonne schien auf den Bürgersteig und wärmte die Luft auf angenehme Temperaturen.

Adeline schlenderte die Straße entlang, bog an der nächsten Ecke ab und betrachtete die Auslagen des ersten Ladens. Es war ein Kramladen. Was gab es nicht alles für Kleinigkeiten zu sehen! Bunte Bänder, herrliche Stoffe und Knöpfe in allen Formen und Farben. Ein Stoff aus rotem Schottenkaro tat es ihr besonders an.

Daraus könnte ich Gertrude einen Rock nähen. Der würde ihr sicherlich gut stehen. Und dort, aus dem Brokatstoff, ließen sich zauberhafte Kissen machen. Es wäre ein Dankeschön für die Hilfe der Familie. Leider habe ich kein Geld dafür.

Justament in diesem Augenblick stürmte eine junge Frau aus dem Geschäft und rempelte Adeline an, sodass ein heftiger Schmerz durch ihre verletzte Schulter schoss. Unwillkürlich entfuhr ihr ein Schrei.

Bei dem Zusammenstoß war der Frau etwas aus ihrem Ärmel gerutscht und auf die Erde gefallen. Eine kunstvoll gearbeitete Brosche! Das Schmuckstück hatte die Form eines Schmetterlings und war mit glitzernden Steinen besetzt. Hastig hob sie es auf und stopfte es in ihre Handtasche. »Du hast mich nicht gesehen. Kein Wort!«, zischte sie und funkelte Adeline an. »Verstanden?« Die Unbekannte drückte das Rückgrat durch und ging davon, als wäre überhaupt nichts geschehen.

Was war denn das? Der Gedanke war Adeline kaum durch den Kopf gewirbelt, als es ihr dämmerte. Die Unbekannte hatte die Brosche gestohlen! Herrje! Der Händler würde den Verlust sicherlich bald bemerken. Bestürzt sah Adeline ihr nach. Dabei spürte sie mit einem Mal ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Sie wandte sich um und ließ den Blick über die belebte Ladenstraße schweifen. Die Passanten eilten ihren Zielen entgegen, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Niemand schien auch nur in ihre Richtung zu blicken. Trotzdem wurde das flaue Gefühl in ihrem Magen stärker. Vielleicht hätte sie doch auf den Rat des Polizisten hören und im Haus des Reverends bleiben sollen. Hielt sich der Unbekannte in der Nähe auf, der auf sie geschossen hatte? War er womöglich auch diesmal bewaffnet?

Ein Schauder rieselte durch ihren Körper.

Sie straffte sich, verschob ihren Plan für diesen Nachmittag auf später und beschloss, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Mit langen Schritten eilte sie weiter und sah nach einer Weile die St. Mark’s Kirche vor sich. Der hohe Turm überragte das Gotteshaus. Es war aus hellem Sandstein errichtet und verfügte nicht nur über einen spitzen Giebel und drei halbrunde Fenster, sondern auch über einen Balkon im ersten Stockwerk. Das imposante Bauwerk trotzte seit über zweihundertfünfzig Jahren allen Stürmen und versprach Schutz.

Zielstrebig steuerte Adeline das Gotteshaus an, stieg die vier Stufen zum Eingang hinauf und drückte den metallenen Griff hinunter. Die massive Tür schwang knirschend vor ihr auf. Adeline schlüpfte hindurch und zog die Tür hinter sich zu. Sie hörte ihren eigenen Atem in der Stille des Gotteshauses – und plötzlich noch etwas anderes: ein ersticktes Schluchzen!

Eine Frau saß mit gesenktem Kopf in der hintersten Bank und weinte so heftig, dass ihre Schultern zuckten.

Im Herzen das Licht

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