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1. Kapitel

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New York, April 1904

Nicht stehen bleiben. Ich darf auf keinen Fall stehen bleiben! In einem für eine junge Dame absolut unschicklichen Tempo stürmte Adeline die Bowery entlang, sodass ihr langer Rock hinter ihr her wirbelte. Auf der belebten Geschäftsstraße kümmerte das allerdings niemanden. Jedermann schien es eilig zu haben. Da wurde gerempelt und geschoben, und unzählige Stimmen mischten sich zu einem dumpfen Getöse. Der vibrierende Ton des abendlichen New York war unbeschreiblich: bald ein leises Flüstern, bald anschwellend zu dröhnendem Tumult. Die Menschenmenge versprach Sicherheit, aber noch hatte Adeline ihren Verfolger nicht abgeschüttelt. Noch fühlte sie seinen Blick in ihrem Nacken.

Er konnte sie jeden Moment einholen!

Es schneite seit dem frühen Nachmittag, und der Schnee knirschte unter den Sohlen ihrer Schnürstiefel. Das Firmament spannte sich über der Stadt auf wie weißes Linnen, hinter dem ein orangefarbener Feuerschein flackerte. Das Farbenspiel kündigte weitere und stärkere Schneefälle an. Ein bitterkalter Wind fauchte zwischen den Häusern hindurch, zerrte an Adelines Kleidung und jagte ihr einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Sie war versucht, sich über ihre Schulter nach dem Verfolger umzublicken, aber das hätte wertvolle Sekunden gekostet. Sekunden, die sie womöglich nicht mehr hatte.

Weiter!, trieb sich Adeline in Gedanken an, während sie vorwärtshetzte. Oder vielmehr humpelte. Denn die spitz zulaufende Form ihrer schwarzen Stiefel war zwar modern, jedoch nicht zum Laufen geeignet, schon gar nicht zum Rennen. Ihre Zehen pochten, als wären sie in der Zange eines Schmieds gefangen. Obendrein verhedderte sich ihr Rock in ihren Beinen und brachte sie einmal mehr ins Straucheln. Der wollene Stoff ihres Paletots war eingerissen, weil sie auf ihrer Flucht an einem Mauervorsprung hängen geblieben war und sich hastig losgerissen hatte.

Adeline biss die Zähne zusammen und schob sich vorwärts. Ihre Lungen bettelten um mehr Sauerstoff. Die Mode diktierte ein Korsett, aber unterwegs war das noch schlimmer als die eingezwängten Zehen.

Zu ihrer Linken lockte eine rosafarbene Dekoration in eine Bakery. Der Duft frisch gebackener Kringel wehte ihr entgegen, als eine Kundin mit einem Korb aus dem Geschäft trat.

Ob ich dort Schutz finde?, schoss es Adeline durch den Kopf. Es könnte allerdings auch eine Falle werden. Besser, ich laufe weiter und schüttele ihn ab!

Eine Hochbahn ratterte polternd über das hohe eiserne Gerüst am Straßenrand. Im vergangenen Jahr waren die Dampfzüge von elektrischen Bahnen abgelöst worden, die mittels Stromschienen angetrieben wurden. Kurz nach ihrer Ankunft aus Deutschland hatte Adeline bei dem Getöse der Bahnen noch jedes Mal den Kopf eingezogen. Inzwischen nahm sie es kaum mehr wahr. Dass Tempo und Lärm das Leben in der Riesenstadt definierten, war ihr mit dem ersten Schritt vom Schiff aufgefallen, und jetzt wuchs New York rasant! Jeden Monat kamen mehrere tausend Einwanderer im Hafen an. Der Verkehr drohte zu kollabieren. Um die Fahrwege zu entlasten, sollte im Herbst die erste Untergrundbahn eröffnet werden.

Ob sie das noch erleben würde?

Adeline verbannte diese Frage hastig aus ihrem Kopf und eilte weiter. Es wurde früh dunkel zu dieser Jahreszeit, und sie tauchte ein in ein Meer von Reklameschildern und Plakaten. Zahlreiche künstliche Lichter lösten das Tageslicht ab. Die Straßenfront war eine ununterbrochene Folge von Schaufenstern. Jedes versuchte, seinen Nachbarn zu übertrumpfen, heller, bunter und einladender zu sein. Hier blinkten einhundert Lämpchen; dort lockte das rosabestrumpfte Bein einer Tänzerin in ein Varieté; da lagen zahlreiche Stoffe und Bänder zum Kauf ausgebreitet.

Adeline hastete daran vorbei und erhaschte aus dem Augenwinkel eine Auslage mit Jugendbüchern. Der Trotzkopf von E. v. Rhoden. An anderen Tagen wäre sie stehen geblieben, um die Bücher zu bewundern oder sich eine Lektüre auszusuchen. Das wagte sie jetzt natürlich nicht. Zu nah war der Verfolger ihr immer noch.

Doch sie nahm die Kälte wahr und ebenso die von den unterschiedlichsten Gerüchen geschwängerte Luft: warme Speisen und blumiges Parfum mischten sich mit Kohlenstaub und Schweiß.

Adeline ließ es auf einen Blick zurück ankommen. In der Menschenmenge war es beinahe unmöglich, ein bestimmtes Gesicht auszumachen. Aber halt! War das nicht das bärtige Kinn ihres Verfolgers unter dem schwarzen Filzhut? Neben dem Eingang zum Varieté? Adelines Herzschlag vervielfachte sich.

Sie wirbelte herum und prallte gegen einen pompösen, mit Messingblech verzierten Lehnstuhl, der vor einem Barbershop stand und mehr schlecht als recht von einer gestreiften Markise vor den wirbelnden Flocken geschützt wurde. Ein beleibter Kunde hatte auf dem Stuhl Platz genommen und den Gehstock quer über seine Oberschenkel gelegt. Er funkelte Adeline durch seine runde Brille an, als wäre es sein Knie, durch das gerade ein scharfer Schmerz fuhr. Vor ihm kniete ein spindeldürrer Schuhputzer und wedelte mit einem Lappen über seine Lederschuhe.

»Na, hören Sie mal!«, entrüstete sich der Beleibte.

»Entschuldigung«, stieß Adeline hervor und hastete weiter. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf wie aufgescheuchte Möwen unten am Hafen. Wen könnte sie um Hilfe bitten? Sie war keine zwei Wochen in New York und kannte kaum jemanden. Außerdem würde ihr Verfolger nicht lange fackeln. Ob er einen Menschen oder zwei umbrachte, machte für ihn keinen Unterschied. Wo also sollte sie hin?

Wieder stieß sie in ihrer Eile gegen einen Passanten. Diesmal war es ein Matrose, der sie mit einem breiten Grinsen bedachte. »Bist du immer so stürmisch, Mädchen? Das gefällt mir! Komm, ich lade dich zu einem Glas Limonade ein!«

Adeline schüttelte nur den Kopf und lief weiter. Ihr Hut – ein hübscher Homespun-Bretonne, der mit Blüten aus schottischer Seide verziert war – saß eh schon schief auf ihren braunen Haaren und rutschte bei jeder Bewegung tiefer über ihr Ohr. Der Schnee machte den Untergrund glatt, sodass sie halb schlitterte, halb rannte.

Die Bowery war eine Geschäftsstraße im Süden von Manhattan. Mit ihren zahlreichen Kunsttempeln, Bordellen und Vergnügungslokalen bot sie Zerstreuung jeglicher Art. Vor Adeline wurde die Tür einer Bar aufgerissen, und ein bärtiger Hüne in zerlumpter Kleidung flog auf den Bürgersteig. Wüste Verwünschungen ausstoßend, rappelte er sich hoch. Adeline wich zur Seite aus und überquerte die Straße. Von links ratterte eine elektrische Straßenbahn auf sie zu. Rechts näherten sich zwei Pferde, die einen Lastwagen zogen. Adeline huschte zwischen den Fahrzeugen über die Straße und stieß auf der anderen Seite auf ein weiteres Hindernis: einen behäbig aussehenden Mann in einer weißen Schürze. Er hatte sich einen riesigen Kessel um seinen Bauch geschnallt: einen tragbaren Ofen! Sie konnte die glühenden Kohlen auf dem Rost darunter erkennen. Der Händler lief am Straßenrand auf und ab und rief: »Wiener Wurst! Schöne heiße Wiener Wurst!«

Die Anstrengung forderte allmählich ihren Tribut: Sein Anblick verschwamm vor ihren Augen. Der verschneite Boden schien unter ihr zu wanken. Taumelnd hetzte Adeline weiter. Vorbei an elegant gekleideten Männern mit Seidenhüten und Brillantnadeln, barfüßigen Kindern und leicht bekleideten Frauen. Endlich blieben der Lärm und die Menschenmassen hinter ihr zurück. Eine verschneite Grünanlage breitete sich vor ihr aus, umgeben von einem schwarzen Gitterzaun. Würde sie hier einen Unterschlupf finden? Sicherheit? An den Rhododendren zeigten sich dicke Knospen. Vereinzelt ragten Krokusse aus dem Schnee. Der Frühling wollte kommen, aber noch war der Winter nicht bereit, das Zepter zu übergeben.

Der Park war verlassen. Das Schneetreiben ließ alles verschwimmen – die tausend Lichtpünktchen im Hafen ebenso wie den hellen Bogenlampenschein an den Straßen. Unter den Bäumen herrschte diffuses Halbdunkel. Der Flockenwirbel wurde von Minute zu Minute dichter, und der Wind wuchs zu einem Sturm an, der in Adelines Haut schnitt wie Nadelstiche. Wenn sie keinen Schutz fand, war der Verfolger bald ihr geringstes Problem. Dann würde sie jämmerlich erfrieren!

Adeline bog von dem schmalen Weg ab, der durch den Park führte, eilte über die verschneite Wiese und blieb neben einer ausladenden Weide stehen, deren Zweige bis zum Boden reichten. Unter dem dichten Geäst lehnte sie sich an den Stamm und gestattete es sich endlich, kurz die Augen zu schließen und zu Atem zu kommen. An anderen Tagen hätte sie allein niemals einen Fuß in die Bowery gesetzt. Bei ihrer Flucht hatte sie jedoch nicht auf den Weg geachtet. Und nun stand sie hier mitten im Unwetter und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Hatte sie ihren Verfolger abgeschüttelt? Oder war er näher, als ihr lieb sein konnte? Unwillkürlich schaute sie sich um. Nichts war zu sehen, bis auf das undurchdringliche Weiß des Schneesturms, das in ihren Augen schmerzte.

Sie musste jemandem anvertrauen, was sie herausgefunden hatte. Aber wer würde ihr das Ungeheuerliche glauben? Wer?

Die Wunde an ihrem Hals brannte. Adeline tastete danach und bemerkte einen dunkelroten Fleck auf dem Leder ihres Handschuhs. Sie zog ein Taschentuch hervor und tupfte das Blut ab. Das Messer hatte sie lediglich gestreift. Sie hatte noch einmal Glück gehabt. Aber wie lange durfte sie darauf zählen?

Welche Möglichkeiten habe ich jetzt noch? Während sie überlegte, spürte sie auf einmal eine schwere Hand auf ihrer linken Schulter und schrie auf. »Gehen Sie weg!«

»Adeline, beruhige dich. Ich bin es.« Die Stimme war warm und vertraut. Sie wirbelte herum und sah in ein kantiges Männergesicht. Die Nase war ein wenig krumm und lenkte das Augenmerk auf eine Narbe am Kinn, ein Überbleibsel von der stürmischen Überfahrt nach Amerika. Eine dicke Schicht Schnee bedeckte seinen Hut und seinen Mantel. Sein Atem kam stoßweise und kräuselte sich sichtbar vor seinem Gesicht.

»Albert! Du bist das! Ich bin so froh!« Adeline fiel ihm um den Hals. Sein vertrauter Geruch nach Rasierwasser und Leder hüllte sie ein wie eine warme Umarmung.

Er schob sie sanft von sich. »Was um alles in der Welt treibst du denn hier im Schneesturm?« Er musste seine Stimme heben, weil der Sturm ihm die Worte schier von den Lippen riss. »Du bist ja ganz aufgelöst. Und … sag mal, ist das etwa Blut an deinem Kragen? Jesus, Adeline, bist du verletzt?«

»Das ist nur ein Kratzer, aber … Oh, Albert!« Adeline schluchzte auf. »Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe dich auf der Bowery gesehen und bin dir gefolgt. Du, das ist kein Viertel für dich. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Was hattest du in dieser Gegend zu suchen?«

»Ich musste fort!«

»Warum denn? Was ist passiert?«

»Etwas Schlimmes …« Tränen stürzten ihr aus den Augen. Nun brach sich die Verzweiflung Bahn, die sie die ganze Zeit mühsam zurückgehalten hatte. Furcht schlug über ihr zusammen wie eine eisige Welle und raubte ihr die Fähigkeit, klar zu denken. Sie zitterte unkontrolliert am ganzen Körper.

»Beruhige dich, Linnie. Ich werde nicht zulassen, dass dir ein Leid geschieht. Das verspreche ich dir.« Alberts Kopf ruckte hoch, als hätte er ein Geräusch gehört. Er wollte noch etwas sagen, aber da krachte es plötzlich von rechts! Etwas zischte an Adeline vorbei, streifte den Stamm der Weide und riss ein Stück Rinde ab. Holzstücke zackten in alle Richtungen, eines schnitt in Adelines Wange. Ihr entfuhr ein Schmerzenslaut.

»Grundgütiger, schießt da etwa jemand auf uns?« Sofort schob sich Albert vor sie, sein Rücken bildete einen breiten Schutzwall, aber er war nicht schnell genug! Wieder peitschte ein Schuss auf. Adeline spürte einen harten Ruck an ihrer rechten Schulter. Eine ungeheure Wucht riss sie von ihren Beinen. Rücklings landete sie im Schnee, sodass sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst wurde.

»Adeline!« Albert brüllte etwas.

Der nächste Schuss!

Wir müssen hier weg! Adeline wollte sich aufrichten, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Graue Schwaden waberten vor ihren Augen wie der Ruß, der aus den Schornsteinen der Dampfschiffe aufstieg. Er hat uns gefunden. Wenn wir hier nicht schleunigst wegkommen, ist alles aus!

Im Herzen das Licht

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