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5. Kapitel

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Heute ist mir Seamus Flannigan entwischt. Der alte Bastard muss irgendwie aus den Handschellen entkommen sein, mit denen ich ihn an den Laternenpfahl gebunden hatte. Gut möglich, dass er einen Helfer hatte, der ihn befreit hat. Nachdem ich den Toten im Park gefunden und Verstärkung angefordert hatte, bin ich zur Bowery zurückgekehrt, aber Seamus war nirgendwo mehr zu sehen …

Grimmig tunkte Declan seine Feder in das Tintenfass.

Es war ihm eine lieb gewordene Angewohnheit geworden, an jedem Abend die Ereignisse des Tages niederzuschreiben. Wenn er eine Entscheidung treffen musste und unsicher war, ob er richtig handelte, dann sann er darüber nach, ob er es über sich bringen würde, sein Tun später schriftlich festzuhalten. War ihm bei dieser Vorstellung unwohl, wusste er, dass er kurz davorstand, etwas Fragwürdiges zu tun, und er ließ es sein. So war das Buch im Lauf der Zeit nicht nur sein stummer Freund, sondern auch sein Gewissen geworden.

Er saß in seiner Kammer im gelben Schein der Petroleumleuchte, während die Feder auf dem Papier kratzte. Seine Großmutter hatte ihm das in Leder gebundene Buch geschenkt. Er hatte nie herausgefunden, woher es stammte, aber es war abgesehen von dem, was er auf dem Leib getragen hatte, der einzige Besitz, den er aus Irland mit in die Neue Welt gebracht hatte.

Vor zwei Jahren war Declan mit dem Schiff aus seiner alten Heimat nach Amerika gekommen und in New York geblieben. Bei seiner Ankunft hatte er sich geschworen, niemals wieder ein Gesetz zu brechen. Daran hielt er sich. Er hatte einiges gutzumachen und war Polizist geworden. Er fand, das sei ein guter Weg, um seine Schuld zu begleichen.

Er wohnte in einem Zimmer an der Bowery. Eine billige Absteige war es, die selbst so manch gestandenem Seemann nicht geheuer wäre, aber das Zimmer war günstig und lag nicht weit von seinem Arbeitsplatz entfernt. Ein Bett, ein Ofen, eine Truhe für seine Garderobe und ein Sekretär mit einem Stuhl. Mehr Platz gab es in seiner Kammer nicht. Waschschüssel und Wasserkrug standen auf der Truhe. Ein alter Spiegel hing darüber an der Wand. Braun und Grau waren die Farben, die in seinem Zuhause vorherrschten. Die Tür hatte er mit einem zusätzlichen Riegel gesichert. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Niemand in der Straße wagte es, sich mit ihm anzulegen. Selbst der schlimmste Haudegen wusste, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Dafür hatte er gesorgt.

Sie ahnten nichts von seinen Dämonen. Declan schlief selten mehr als vier oder fünf Stunden in der Nacht. Das lag jedoch nicht an dem Getöse auf der belebten Geschäftsstraße, sondern an den Erinnerungen, die ihn heimsuchten. Tagsüber konnte er sie in den hintersten Winkel seines Verstandes verbannen, wenn ihn seine Arbeit beschäftigt hielt, nachts jedoch krochen sie hervor und gaukelten ihm Bilder vor, die er lieber vergessen hätte.

Das Viertel wurde überwiegend von Deutschen bewohnt. Zwar gab es in New York mehr Iren als Deutsche, aber seine Landsleute lebten verstreut, während sich die Deutschen hauptsächlich in diesem einen Stadtteil niedergelassen hatten, den sie Kleindeutschland nannten. Er mochte seine Nachbarn. Sie waren zuverlässig und hilfsbereit. Die meisten von ihnen verstanden sich auf ein Handwerk und bauten sich mit Fleiß und Geschick ein blühendes Geschäft auf. Darum beneidete Declan sie. Er hatte nie eine Ausbildung genossen und sich früher in Irland mehr schlecht als recht durchgeschlagen. Seine Großmutter hatte ihm Lesen und Schreiben beigebracht, weil sie der Ansicht gewesen war, jeder Mensch sollte die Bibel lesen können.

Declan hatte Pläne für die Zukunft und sparte jeden Cent, um sie eines Tages umsetzen zu können. Einmal in der Woche leistete er sich ein warmes Abendessen unten im Restaurant. An anderen Tagen lebte er von Brot, Trockenfleisch und Äpfeln. Nachts träumte er manchmal von den Eintöpfen seiner Großmutter. Grandma Molly hatte kochen können, dass man ein Stück vom Himmel zu schmecken glaubte. Wenn er aufwachte, knurrte ihm der Magen. Daran hatte er sich mittlerweile leidlich gewöhnt wie an den allgegenwärtigen Lärm vor seinem Fenster oder die Enge und den Schmutz draußen. Er vermisste das weite Grün seiner Heimat. So sehr, dass er manchmal zu ersticken glaubte.

Briefe kamen niemals von daheim für ihn. Wer sollte ihm auch schreiben? Es war niemand mehr übrig … Declan umklammerte den Griff seiner Feder so fest, dass seine Finger schmerzten. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag ein Brief, mit verschnörkelter Schrift beschrieben. Am kommenden Samstag würde James seine große Liebe Evie heimführen. Er wollte, dass Declan dabei war, aber Declan hatte entschieden, seinem Kollegen einen Gefallen zu tun und der Trauung fernzubleiben. Er würde der Verbindung kein Glück bringen. Er brachte niemandem Glück, nicht einmal sich selber. Irgendwo in den schmutzigen Gassen seiner alten Heimat hatte er ein Leben zu viel genommen und sich selbst zerstört. Er verdiente es nicht, dass ihm etwas Gutes widerfuhr.

Declan beugte sich vor und schrieb weiter: Der Tote aus dem Park wurde fortgebracht. Wir wissen noch nicht, wer er ist. Er hatte keinerlei Papiere bei sich. Das war zu erwarten. Jemand aus seinem Gewerbe bleibt lieber unerkannt. Ich frage mich, warum er auf zwei Menschen geschossen hat – und wer ihn selbst auf dem Gewissen hat. Ich hoffe, dass die Schüsse nichts mit der Bande zu tun haben, die in der Gegend ihr Unwesen treibt, sonst möge uns der Herr beistehen …

Ein Klopfen an der Tür ließ Declan hochblicken. Besuch? So spät noch? Es musste mitten in der Nacht sein, und draußen wütete ein Schneesturm. Wer kam denn da noch zu ihm? Er legte die Feder zur Seite, griff vorsichtshalber nach seinem Knüppel und schob den Riegel zurück. Dann öffnete er die Tür einen Spaltbreit und spähte hindurch.

Draußen stand ein schwarz gekleideter Mann in mittleren Jahren, der sich soeben den Schnee von seinem Mantel schüttelte. Er schaute hoch und blickte freundlich, aber auch eine Spur besorgt hinter seiner runden Brille hervor.

»Reverend Haas?« Declan ließ den Knüppel sinken, trat von der Tür zurück und ließ seinen Besucher eintreten.

»Entschuldigen Sie bitte, dass ich zu dieser Stunde noch störe, Declan, aber ich weiß, dass Sie sich erst spät zu Bett begeben, und ich komme in einer dringenden Angelegenheit.«

»Nehmen Sie doch bitte Platz, Reverend.« Declan schob seinem Gast den einzigen Stuhl hin, den er besaß, und deutete einladend darauf. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen heißen Tee mit Whisky vielleicht nach der Kälte draußen? Meine Grandma Molly hat darauf geschworen.«

»Und diese Mixtur mögen Sie?«

»Wenn ich den Tee weglasse, schon.«

»Ich verstehe.« Ein Lächeln huschte über das ernste Gesicht des Besuchers. »Das probiere ich ein anderes Mal. Heute möchte ich Sie nur um Hilfe bitten. Ich habe vor wenigen Stunden eine junge Dame in meinem Haus aufgenommen. Sie hat eine Schusswunde. Ich habe den Arzt gerufen, er hat sie behandelt, aber er kann noch nicht sagen, ob sie durchkommen wird. Alles hängt davon ab, ob sich die Wunde infizieren wird. Adeline, so lautet ihr Name, war nicht allein. Ein junger Mann war bei ihr, ebenfalls angeschossen. Ihm konnten wir leider nicht mehr helfen. Bevor er starb, konnte er mir noch mitteilen, dass sein Name Albert ist und ich keinesfalls die Polizei einschalten soll.«

»Das sagte er?« Declan hatte sich mit dem Rücken gegen das Fensterbord gelehnt, während er zugehört hatte, nun fuhr er alarmiert in die Höhe. »Sagte er auch, weshalb Sie die Polizei meiden sollen?«

»Nein, aber er verwendete seinen letzten Atemzug für seine Bitte, deshalb muss ich seinen Wunsch ernst nehmen.«

»Und da kommen Sie ausgerechnet zu mir?«

»Ja, denn ich kenne Sie als verlässlichen Mann. Ich kann und will Ihre Behörde nicht einschalten, aber ich vertraue Ihnen.«

»Sie wollen, dass ich den Schützen finde? Auf eigene Faust? In einer Riesenstadt wie dieser? Das ist unmöglich.«

»Nicht für Sie. Mir ist klar, was ich da verlange. Sie arbeiten zwölf, vierzehn Stunden am Tag, aber ich weiß nicht, wen ich sonst bitten könnte. Niemand in meiner Gemeinde verfügt über Ihr Wissen und Ihre Erfahrung.«

Declan stieß den Atem aus. »Wurden irgendwelche Wertgegenstände bei den beiden Opfern gefunden?«

»Nein. Sie hatten nicht einmal einen Wohnungsschlüssel bei sich.«

»Dann könnte es ein Raubüberfall gewesen sein. Der Täter wird mit dem Hab und Gut der beiden längst über alle Berge sein.«

»Das glaube ich nicht. Der junge Mann hätte mich sicherlich nicht gebeten, die Polizei herauszuhalten, wenn er lediglich beraubt worden wäre.«

»Möglicherweise hat er selbst ein Verbrechen begangen und wollte deshalb unerkannt bleiben. Sie wissen, was für Gauner sich auf den Straßen herumtreiben.«

»Zu denen zählte er aber nicht. Seine Kleidung und seine Ausdrucksweise waren die eines Gentlemans. Er war ein anständiger Mensch, davon bin ich überzeugt. Außerdem muss er gespürt haben, dass es zu Ende geht. Er hatte auf dieser Welt nichts mehr zu befürchten. Wie gesagt, sein letzter Wunsch war es, seine Begleiterin zu beschützen und die Polizei herauszuhalten.« Reverend Haas nahm seine Brille ab und rieb sich bekümmert die Nasenwurzel. »Ich habe keine Ahnung, wie die beiden zueinanderstanden. Er könnte ihr Bruder gewesen sein oder ein Freund. Jedenfalls war Adeline ihm wichtig.«

»Und deshalb wollen Sie ihr helfen?«

»Ja, allerdings auch, weil ich befürchte, dass mehr als ein Raubüberfall hinter den Schüssen auf diese beiden jungen Menschen steckt. Wir müssen herausfinden, warum man ihnen nach dem Leben getrachtet hat, sonst könnte es einen weiteren Anschlag auf Adelines Leben geben.«

Da war etwas dran. Declan ließ sich die Worte seines Besuchers durch den Kopf gehen und spürte ein warnendes Gefühl im Magen. Was auch immer an diesem Abend geschehen war, war vermutlich wirklich noch nicht vorbei.

»Bitte, finden Sie heraus, wer Adeline und ihrem Begleiter ein Leid antun wollte«, bat der Reverend. »Sobald wir das wissen, kann ich dafür sorgen, dass Adeline in Sicherheit ist.«

Declan nickte, er verdankte Reverend Haas mehr als sein Leben. Der Geistliche hatte sich seiner angenommen. Kurz nach seiner Ankunft in New York war er am Ende gewesen, mit nichts als Lumpen auf seiner Haut hatte er sich in den Straßen herumgetrieben, halb wahnsinnig von Hunger und Kälte, kurz davor, den Schwur zu brechen, den er sich bei seiner Ankunft selbst geleistet hatte: nie wieder das Gesetz zu brechen. Um ein Haar wäre er rückfällig geworden. Einen Laden hatte er überfallen wollen – und war im letzten Augenblick von Reverend Haas zurückgehalten worden. Der Reverend hatte ihm ein Dach über dem Kopf und einen Job besorgt. Er hatte sich für Declan eingesetzt. Das hätte er nicht tun müssen, aber er hatte etwas in ihm gesehen, etwas, das nicht einmal er selbst in sich noch gesehen hatte. Und Declan hatte sich geschworen, sein Vertrauen nie zu enttäuschen. Ohne den Reverend, das wusste er nur zu gut, wäre er längst in der Gosse oder im Kittchen gelandet. Oder noch Schlimmeres.

»Ich habe die Schüsse gehört«, sagte er nachdenklich. »Von der Bowery aus. Ich bin ihnen nachgegangen und auf einen Verletzten gestoßen. Es war ein älterer Mann, ein gedungener Auftragsmörder, wie ich vermute.«

»Und wer hat ihn angeheuert?«

»Das konnte er mir leider nicht mehr sagen.«

»Der Attentäter ist also ebenfalls tot?«

»Verblutet, nachdem jemand auf ihn geschossen hat.«

»Haben sich seine Opfer gewehrt?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, er wäre von seinem Auftraggeber über den Haufen geschossen worden.«

»Soll das heißen, jemand hat ihn engagiert, um Adeline und ihren Begleiter zu töten – und ihn dann selbst getötet? Aber warum so viel Mühe? Und wer würde so etwas tun?«

»Das sind berechtigte Fragen.« Declan rieb sich das Kinn. Es gab ein schabendes Geräusch, weil sein Bart seit der Rasur am Morgen schon wieder gewachsen war. »Der Auftraggeber muss jemand sein, der genug Geld und Einfluss besitzt, um einen Mörder anzuheuern, und der obendrein eine Menge zu verlieren hätte, wenn sein Treiben ans Licht käme. Sonst hätte er den Schützen nicht auch umbringen müssen.«

»Wenn dieser Mensch nun herausfindet, dass Adeline noch lebt …«

»… dann wird er vermutlich alles andere als erfreut sein. Richtig. Sie müssen auf der Hut sein, Reverend, und Ihre Familie ebenfalls. Sie alle könnten in Gefahr sein, solange Adeline bei Ihnen ist.«

»Umso wichtiger ist es, dass wir herausfinden, wer hinter dem Anschlag auf ihr Leben steckt.«

»Das ist wahr.«

»Also helfen Sie mir, Declan?«

»Aye, ich helfe Ihnen.«

»Gut. Sehr gut.« Ein erleichterter Atemzug entfuhr dem Geistlichen. »Mein Sohn hat ein Bild von Adeline gemalt, während sie bewusstlos war. Er zeichnet gern, und ich habe mir gedacht, es könnte bei Ihren Nachforschungen nützlich sein.« Er zog eine Kohlezeichnung aus seiner Tasche.

Declan warf einen Blick darauf, und sein Herz machte einen Satz, als wollte es ihm aus der Brust galoppieren. Der Sohn des Reverends hatte die junge Frau gut getroffen. Declan erkannte sie sofort wieder. Es war das Mädchen aus der Bowery, das er vom Restaurant aus gesehen hatte. Sie hatte ihn an zu Hause erinnert. An die grünen Hügel Irlands, irische Musik und Scones, die warm aus dem Ofen kamen. Ihr energisch vorgerecktes Kinn hatte ihm ebenso gefallen wie der sanfte Schwung ihrer Hüften unter dem langen grünen Rock. Er erinnerte sich, dass er das Gefühl gehabt hatte, sie sei auf der Flucht gewesen. Offenbar hatte er recht vermutet, und es traf ihn wie ein Tritt in die Magengrube, dass ausgerechnet sie nun verletzt worden war.

»Können Sie morgen mit Ihren Nachforschungen beginnen?« Sein Besucher setzte seine Brille wieder auf.

»Aye, aber erwarten Sie nicht zu viel. In meiner Heimat gibt es ein Sprichwort: Chan ann leis a’chiad bhuille thuiteas a’chraobh.«

»Und was bedeutet das?«

»Es ist nicht der erste Schlag, der einen Baum fällt. – Man muss beharrlich sein. Ich werde vielleicht nicht gleich die Antworten finden, die wir benötigen, aber ich werde noch heute Nacht mit meiner Suche beginnen, solange die Erinnerungen der Menschen noch frisch sind.«

»Sie wollen bei diesem Wetter noch einmal hinaus?«

»Der Mörder hat sich nicht vom Schnee abschrecken lassen, also werde ich es auch nicht tun.« Declan ließ seine Uniformjacke am Haken neben der Tür hängen und griff stattdessen nach seinem schwarzen Überwurf. »Lassen Sie uns hoffen, dass ich die Wahrheit herausfinden kann, ehe ein weiteres Unglück geschieht!«

Im Herzen das Licht

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